Ukrainische Flüchtlinge - Zweite Heimat

Hunderttausende Menschen sind in den ersten Kriegswochen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Das Chaos ist bisher ausgeblieben. Anders als 2015/2016 scheint das Land dieses Mal vorbereitet zu sein. Und vieles ist auch anders: Kamen damals größtenteils junge Männer ins Land, sind unter den Ukraineflüchtlingen vor allem Frauen, Kinder und Ältere über 60 Jahre.

Ein Kind in einer Spielecke für geflüchtete Familien im Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße / Antje Berghäuser
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Wenn Liudmyla Sazonenko über den Krieg spricht, wird es auffällig still im Raum. Das ist ein Grund dafür, warum sie das Thema in ihrem Klassenzimmer in Hamburg-Niendorf lieber meidet. Die Kinder sollen sich wohlfühlen, findet sie. Sazonenko nennt ihre Schüler „Freunde“, weil sie alle geflohen sind aus der Ukraine. Und weil sie, die Lehrerin und ihre sieben Fünft- und Sechstklässler, nicht nur eine Schulklasse sind, sondern eine Schicksalsgemeinschaft, die so vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen wäre. Dann kam der 24. Februar 2022 – und der russische Präsident Wladimir Putin überfiel die Ukraine

Hunderttausende Ukrainer haben seither das Nötigste gepackt und sind aus ihren Dörfern und Städten geflohen. 320.000 von ihnen sollen in den ersten Kriegswochen in die Bundesrepublik gekommen sein. Wie viele geflüchtete Ukrainer genau im Land sind, weiß niemand. Schätzungen gehen davon aus, dass es allein in Hamburg Ende März bereits über 20.000 Menschen waren. Mehr als 18.000 haben sich in der Hansestadt bis zum 10. April registriert, heißt es aus dem Senat. Unter ihnen war auch Liudmyla Sazonenko, die jetzt in Hamburg-Niendorf ukrainische Kinder unterrichtet. 

Ukrainische Lehrerin sofort eingestellt

An einem Donnerstag im April sitzt Sazonenko an ihrem Lehrerpult, die Kinder um eine Arbeitsinsel. Als der Journalist die Lehrerin fragt, wie es ihren Schülern gehe, reckt einer von ihnen die Daumen in die Höhe und grinst: Gut, soll das heißen. Sazonenko ist 41 Jahre alt und kommt aus Tschernihiw, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten der Ukraine, nahe der weißrussischen Grenze. Bevor die Stadt unter Blockade stand, konnte sie mit ihrer Familie nach Hamburg fliehen, wo sie derzeit bei Verwandten wohnt. In Tschernihiw unterrichtete Sazonenko Mathematik und Wirtschaft. Ihre Schule wurde in den vergangenen Wochen vollständig zerstört, erzählt sie, ihre Wohnung und ihr Haus ebenso. „Was die russischen Truppen anrichten, werde ich ihnen nie verzeihen“, sagt sie. 

Susanne Macpolowski unterstützt als
Freiwillige Flüchtlinge in Berlin / Antje
Berghäuser

Sazonenko hat ihre Stelle als Lehrerin an der Stadtteilschule in Hamburg-Niendorf durch einen Zufall bekommen. Mitte März meldet sie ihren Sohn, der in die elfte Klasse geht, zum Unterricht an. Als die Schulleitung erfährt, dass sie in der Ukraine Lehrerin war, wird sie umgehend eingestellt. Die Schüler werden von Sazonenko auf Ukrainisch unterrichtet, eine zweite Lehrkraft gibt ihnen Deutschunterricht. Die Schulleitung geht davon aus, dass die Kinder mit ihren Eltern eines Tages zurückkehren werden in die Ukraine. „Deswegen muss nicht jedes Fach auf Deutsch unterrichtet werden“, sagt der stellvertretende Schulleiter Torben Krüger. Und fügt erklärend hinzu: „Wir wollen die Sprache und Kultur der Kinder ja nicht verdrängen.“

Gelernt aus der Flüchtlingskrise

Und noch etwas erzählt Krüger: dass er baff gewesen sei, wie schnell das mit den ukrainischen Schülern funktioniert habe. Mitte März habe die Schulbehörde angefragt, ob und wie viele Schüler man aufnehmen könne. Nach den Ferien wurden dann Spenden gesammelt, Schultüten gebastelt, russischsprachige Kinder boten sich als Paten an. Am 28. März wurde Sazonenko eingestellt, zwei Tage später begann der Unterricht. Schulleiterin Andrea Kühne sagt: „Man hat aus den Flüchtlingsbewegungen von 2015 und 2016 gelernt.“ 

In Hamburg-Niendorf finden ukrainische
Schüler Aufnahme / Anna Mutter

Es ist ein Satz, der derzeit häufiger fällt. Anders als während der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist das Chaos bisher ausgeblieben. Naheliegend ist, dass das viel zu tun hat mit den seit damals gewachsenen Strukturen in der Flüchtlingshilfe. Und damit, dass Politik, Behörden und sonstige Akteure auf jenem Wissen aufbauen können, das man sich in den vergangenen Jahren oft mühsam, nicht selten schmerzhaft und bisweilen auch gegen den Widerstand der eigenen Bevölkerung erarbeiten musste. 
Bedenken gibt es dennoch, etwa, was die Registrierung der Flüchtlinge betrifft. So warnt der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, vor einer Zunahme der illegalen Migration und fordert reguläre Kontrollen an den deutschen Grenzen zu Polen und Tschechien. Eine Forderung, mit der Wendt längst nicht mehr allein steht. „Wir müssen wissen, wer zu uns kommt“, ist ein weiterer Satz, den man nun häufiger hört und liest. Etwa in eher konservativen Zeitungen wie dem Münchner Merkur oder der FAZ

Hilfe durch die jüdische Gemeinde

Laut bayerischem Innenministerium ­wurden im Freistaat in den ersten Kriegswochen über 100.000 Menschen registriert, davon rund 26.000 am Hauptbahnhof München. Menschen, die privat, mit Bussen und Pkw aus der Ukraine in die bayerische Landeshauptstadt kommen, werden nicht automatisch erfasst. Da geht es München nicht anders als Hamburg. Zudem werde die bayerische Metropole als „Drehkreuz“ genutzt, sagt eine Sprecherin des Sozialreferats der Stadt, um in andere Städte oder in an Süddeutschland angrenzende Länder wie Österreich, Frankreich und die Schweiz weiterzureisen. 

Der stellvertretende Schulleiter einer Stadtteilschule
in Hamburg / Anna Mutter

Die meisten aber wollen erst einmal bleiben. In München – oder auch in Berlin. Dort, in der Hauptstadt, hilft den Neuankömmlingen unter anderem die Jüdische Gemeinde weiter. Denn was viele nicht wissen: Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion machen inzwischen etwa 90 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland aus. Die jüdischen Gemeinden sind daher als Erstaufnahmeeinrichtung für aus der Ukraine geflüchtete Menschen geradezu prädestiniert.

In Berlin spricht die gesamte Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde neben Deutsch auch fließend Russisch. Die Ankommenden erhalten hier Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel. Es gibt eine Suppenküche, einen Beratungsraum der Sozialabteilung sowie eine Spielecke für die Kinder. Auch die meisten Freiwilligen sprechen fließend Russisch, darunter Helfer, die bisher nichts mit der Jüdischen Gemeinde zu tun hatten. Susanne Macpolowski etwa ist Rentnerin und hilft an drei bis vier Tagen pro Woche. Macpolowski sagt: „Man setzt das Gefühl der Hilflosigkeit in Hilfe um.“

Viele Wege führen zu einer Unterkunft

Sie und andere wollen Menschen wie Raissa helfen. Die 82-Jährige ist mit ihrer Tochter und ihrem Enkel über Polen nach Deutschland geflohen, obwohl sie kaum mehr laufen kann. Als Raissa noch jünger war, arbeitete sie an der Technischen Universität der südukrainischen Großstadt Krywyj Rih, genau wie ihre Tochter Jelena, erzählt sie, die bis vor Kriegsausbruch als Laborantin am dortigen Institut für Automobiltransport beschäftigt war. Jelenas Sohn Alexander ist Siebtklässler und wird per Online-Schalte aus der Ukraine unterrichtet. „Aber auf diese Weise lernt er nichts“, sagt seine Mutter. 

Eine ukrainische Lehrerin unterrichtet Flüchtlingskinder / Anna Mutter

Vorerst sind Großmutter, Mutter und Enkel bei einer russisch-jüdischen Familie untergekommen, die sie über Facebook gefunden haben. Ihr nächstes Ziel seien eine Aufenthaltsgenehmigung und eine eigene Wohnung – und sie wollen als jüdische Kontingentflüchtlinge einen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft stellen. In die Ukraine möchten sie nicht mehr zurück. Jelena sagt: „Wir Ukrainer haben damals mit den Russen und Belarussen gemeinsam gegen die Nazis im Schützengraben gekämpft. Jetzt bomben uns die Russen in Grund und Boden.“ 

Wer eine vorläufige Unterkunft sucht, kann dies unter anderem in den sozialen Medien tun. Besser und sicherer ist der Weg über Initiativen und Vereine, die ukrainische Flüchtlinge mit privaten Anbietern zusammenbringen. In München etwa der Verein „Münchner Freiwillige – Wir helfen“. Damit es dabei mit rechten Dingen zugeht, die Menschen also nicht in falsche Hände geraten, seien bestimmte Prozesse etabliert worden, sagt Vereinssprecherin Margarete Arlamowski: „Wir nehmen alle Daten auf. Von jenen, die kommen, und von jenen, die anbieten. Die Anbietenden müssen persönlich vorbeikommen und ihren Ausweis vorlegen.“ Und sollte es nach der Vermittlung zu Problemen kommen, gebe man den Menschen Telefonnummern und Adressen verschiedener Anlaufstellen mit, an die sie sich „niedrigschwellig“ wenden könnten. 

Erstaunlich unbürokratische Behörden

Arlamowski sagt, die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung sei enorm, auch was das Angebot an privaten Unterkünften betreffe. Das lässt sich gut mit Zahlen belegen. Allein in München ist es laut Sozialreferat der Stadt in den ersten Kriegswochen bis Anfang April zu rund 7500 Vermittlungen in Privatunterkünfte gekommen. Auch in anderen Städten, insbesondere in Berlin und Hamburg, haben mehrere Tausend Menschen jetzt ein privates Dach über dem Kopf. Besonders eindrücklich sind die Zahlen der Plattform unterkunft-ukraine.de, die wiederum bundesweit private Unterkünfte vermittelt. Dort sollen bereits Anfang März rund 150.000 Betten angeboten worden sein. 

Ein Verein, der private Unterkünfte an Flüchtlinge vermittelt, und eine Jüdische Gemeinde, die zur Erstaufnahmeeinrichtung geworden ist: Es sind nur zwei Beispiele von vielen, die zeigen, dass die Zivilgesellschaft bei der Hilfe für Menschen aus der Ukraine nicht nur mit anpackt, sondern Ämter und Behörden auch bei zentralen Aufgaben entlasten kann. Aber auch die Politik hat dazugelernt. 

Jüdische Flüchtlinge im
Jüdischen Gemeindezentrum
in Berlin warten auf ein
Beratungsgespräch / Antje
Berghäuser

Bereits am 3. März haben sich die EU-Staaten geeinigt, Flüchtlinge aus der Ukraine schnell und unbürokratisch aufzunehmen. Seither bekommen die Menschen auch in Deutschland ohne Einzelfallprüfung rasch Zugang zu Sozialleistungen sowie eine befristete Aufenthaltserlaubnis samt Arbeitserlaubnis von mindestens einem Jahr. Bis ein Flüchtling aus der Ukraine das offizielle Dokument in Händen hält, kann es zwar mehrere Wochen dauern. Aber selbst dafür wurde eine Lösung gefunden: Mit der Antragstellung bekommt der ukrainische Flüchtling eine vorläufige Bescheinigung in die Hände, inklusive genannter Berechtigungen. Voraussetzung sind ein Identitätsnachweis und eine gültige Meldeadresse. 

Schreckensszenario 2015

Allein in den Tagen vom 18. März bis 6. April wurden etwa in Berlin rund 17.500 solcher Anträge für mehr als 35.000 Personen gestellt, so der Direktor des Berliner Landesamts für Einwanderung (LEA), Engelhard Mazanke. Die Antragstellung erfolgt im Familienverbund. Wie lange es dauert, bis die vorübergehende Bescheinigung durch das offizielle Dokument ersetzt wird, könne er nicht sagen, so Mazanke. Er sagt allerdings auch: „Dass der Prozess aber schneller und effizienter funktioniert als andernorts, wird uns schon gespiegelt.“ 

Kann es also sein, dass der deutsche Bürokratieapparat diesmal tatsächlich so etwas wie Flexibilität zeigt im Umgang mit den Hunderttausenden, die zu uns kommen? Es spricht vieles dafür. Doch zur Wahrheit gehört auch dies: Es geht nicht nur darum, es den Ankommenden möglichst angenehm zu machen. Die Verantwortlichen wollen auch vermeiden, dass es zu einer Überlastung der Behörden wie in den Jahren 2015/2016 kommt – oder zu Berichten über Flüchtlinge, die in irgendwelchen Sammeleinrichtungen ziel- und perspektivlos ihr Dasein fristen. 

Die Bundesagentur für Arbeit ist mit ihren Dependancen theoretisch die erste Anlaufstelle, wenn Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland einen Job suchen. „Die Arbeitsagenturen und Jobcenter haben bereits in der letzten Flüchtlingswelle vor circa sieben Jahren umfassende Erfahrungen mit Geflüchteten beziehungsweise den Netzwerken zur Betreuung von Geflüchteten machen können. Aus diesen Erfahrungen haben wir gelernt und können dieses Wissen nun anwenden“, so Sprecherin Susanne Eikemeier von der Bundesagentur für Arbeit. Da ist es wieder, das „wir haben gelernt“. 

Wie gelingt die Verteilung?

Wie viele ukrainische Flüchtlinge von Arbeitsagenturen und Jobcentern bereits in den Arbeitsmarkt vermittelt wurden, ist nicht bekannt, da dies nicht gesondert erfasst wird. Gleichwohl sagt Sprecherin Eikemeier noch Anfang April: „Allerdings wissen wir aus anekdotischen Schilderungen aus den Dienststellen, dass sich bisher sehr wenige Geflüchtete bei uns gemeldet haben.“ Sobald sich das aber ändere, sei man bei der Bundesagentur für Arbeit „bereit, die Menschen zu unterstützen“.

Wer derweil erste Antworten auf die Frage sucht, mit welchen Qualifikationen diese Menschen nach Deutschland fliehen, wird beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fündig. In einer „Einschätzung der Integrationschancen“ hat der Leiter des Forschungsbereichs Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am IAB, Herbert Brücker, erste Erkenntnisse zusammengetragen. „Das Bildungsniveau der Bevölkerung in der Ukraine ist im internationalen Vergleich hoch. Zudem verfügen Frauen in der Ukraine über ein höheres Bildungsniveau als Männer“, so der Forscher in seiner Einschätzung. Und weiter: „Die Zahl der Personen, die komplexe Experten- und Spezialistentätigkeiten ausüben, ist sehr viel geringer als die Zahl der Hochschulabsolventinnen und -absolventen; die Zahl der Personen, die Helfer- und Anlerntätigkeiten ausüben, ist mit rund 30 Prozent recht hoch.“ 

Interessant ist zudem folgende Beobachtung Brückers, die eigentlich ein Appell an die Politik ist: „Die Verteilung von Geflüchteten nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder und die weitere Verteilung auf die Kommunen hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Geflüchtete überdurchschnittlich in strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit angesiedelt wurden“, schreibt Brücker. Der Königsteiner Schlüssel sieht eine Verteilung von Flüchtlingen zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl vor. Brücker hält das für den falschen Ansatz: „Bei der Verteilung der Geflüchteten auf die Länder und Kommunen sollten Integrationsaspekte, insbesondere die Chancen für eine spätere Integration in den Arbeitsmarkt, berücksichtigt werden“, fordert er.

Frauen und Kinder statt junger Männer

Mag es vereinzelt Diskussionsbedarf geben, lässt sich dennoch feststellen, dass vieles anders und besser läuft als während der Flüchtlingskrise 2015/2016. Und vieles ist auch anders: Kamen damals größtenteils junge Männer ins Land, sind unter den Ukraineflüchtlingen vor allem Frauen, Kinder und Ältere über 60 Jahre. Hintergrund ist die von der ukrainischen Regierung angeordnete Generalmobilmachung, die ukrainischen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren in der Regel verbietet, das Land zu verlassen. 

Jelena und ihre Mutter Raissa sind seit Anfang März in Deutschland / Antje Berghäuser

Der große Anteil an Frauen und Kindern hat, nüchtern besehen, fast nur Vorteile für das Aufnahmeland. Zunächst geht von Frauen und Kindern kaum Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus, sagt die Statistik. Außerdem lässt sich der Bevölkerung Hilfe für geflüchtete Frauen mit Kindern, auch längerfristige, leichter vermitteln als jene für junge Männer. „War die Gruppe der Fluchtmigranten vor Jahren sehr heterogen, ist sie diesmal sehr homogen“, sagt Stefan Luft, Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen und Autor des Buches „Die Flüchtlingskrise – Ursachen, Konflikte, Folgen“. Und weiter: „Die ukrainischen Flüchtlinge haben mehr Gemeinsamkeiten mit der Aufnahmegesellschaft.“ 

Ein „nie da gewesener Härtetest“

Gleichwohl gibt Luft zu bedenken, dass es keinen „Pufferstaat zwischen der Ukraine und der EU“ gebe. Auch Polen, so Luft, könne diese Funktion für Deutschland nicht wahrnehmen, während es dieses Mal garantiert nicht zu einem Flüchtlingsdeal wie jenem mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kommen wird. Einfach deshalb, weil es niemanden gibt, der Flüchtlingsströme aus der Ukraine zurückhalten könnte. Das heißt: Die Grenzen in die EU sind offen. Wie offen, das zeigen einmal mehr die bloßen Zahlen. 

Wenige Wochen nach Kriegsausbruch sind bereits mehr Menschen in die EU geflohen als 2015/2016. Damals waren es offiziell rund 2,5 Millionen. Heute sind es drei Millionen. Hinzu kommt, dass die Fluchtbewegungen aus anderen Ländern derweil nicht abreißen, im Gegenteil. Im Januar und Februar dieses Jahres nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) 29 449 Erstanträge von vor allem Syrern, Afghanen und Irakern entgegen. Im Vorjahreszeitraum waren es nur halb so viele.

Politikwissenschaftler Luft sieht einen „nicht da gewesenen Härtetest“ auf die EU zukommen, insbesondere dann, wenn sich an die Fluchtbewegungen infolge des Ukrainekriegs noch eine Wirtschaftskrise anschließen sollte. Nur ein möglichst rasches Ende des Krieges, glaubt Luft, könne eine „dystopische Entwicklung für alle Beteiligten verhindern“. 

Ukrainische Kinder in einer Schule in
Hamburg-Niendorf / Anna Mutter

So etwas wie Alltag

Liudmyla Sazonenko und ihre Schüler sind erst einmal froh, dass sie dem Krieg entkommen sind. Wer sich länger mit ihr und den Kindern unterhält, bekommt den Eindruck, dass ihnen das Ankommen in Deutschland nicht besonders schwerfällt. Ob sie schon deutsche Lieblingswörter haben? „Nicht verstehen“, sagt ein Schüler. Lieblingsfußballer? „Messi!“, ruft ein Zweiter. „Nein, Schewtschenko!“, brüllt ein Dritter dazwischen. Die Rede ist von Andrij Schewtschenko, dem berühmtesten Fußballprofi, den die Ukraine bisher hervorgebracht hat. 

Das einzige Mädchen unter den Schülern sagt kurz darauf, dass sie sich zwar gut verstehe mit den anderen, den Jungen in der Klasse, dass es sich aber trotzdem eine Freundin wünsche. „Die Jungs können dich beschützen“, erwidert Lehrerin Sazonenko und schmunzelt. „Ich brauche keinen Schutz“, sagt das Mädchen, das vor Putins Truppen aus ihrer Heimat fliehen musste. Warum denn nicht? Das Mädchen lacht: „In der Ukraine habe ich boxen gelernt.“

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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