Staatsrechtler Pestalozza über Thüringen - „Bei politischer Unvernunft hilft keine Verfassung“

Weil sich die Parteien in Thüringen nicht auf eine neue Koalition einigen können, wird das Land derzeit nicht regiert, sondern „notverwaltet“. Die Verfassung setze ihnen keine zeitliche Frist, um sich zu einigen, kritisiert der Staatsrechtler Christian Pestalozza.

Bei der letzten Sitzung des Bundesrats blieben es auf den Plätzen des Freistaats Thüringen leer / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Christian Pestalozza ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität (FU) Berlin. Er ist auch bekannt als Buchautor und Grundgesetz-Kommentator.  

Herr Pestalozza, nach dem Debakel um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen wird das Land nicht mehr regiert, sondern notverwaltet. Der ehemalige Ministerpräsident Bodo Ramelow hat vor einer Staatskrise gewarnt. Zu Recht?
Na ja, kein Mensch weiß, was eine Staatskrise ist. Wenn damit gemeint ist, der Staat droht unterzugehen oder in irgendeine Katastrophe zu geraten, halte ich das für übertrieben. Wir haben keine optimale Situation, weil wir nur eine geschäftsführende Regierung haben. Hinzu kommt, dass die Geschäftsführung nur von einer Person betrieben wird – nämlich vom Ministerpräsidenten. So steht es in der Verfassung. 

Was genau sieht sie für diesen Fall vor? 
Dass die Geschäfte der Regierung bis zur Ernennung eines Nachfolgers kommissarisch fortgeführt werden. Jetzt ist der Ministerpräsident zurückgetreten, also muss er seine eigenen Geschäfte fortführen. Aber zur Fortführung solcher Geschäfte gehört nicht, dass er neue Minister ernennt. Deswegen läuft das notgedrungen auf eine Ein-Mann-Regierung hinaus. Die führt aber auch nur die laufenden Geschäfte, sie kann aber keine Grundsatzentscheidungen neuer Art treffen. Dieser Zustand ist also nicht optimal, aber für ein paar Wochen verträgt das jedes Land.

Was macht Sie da so zuversichtlich?
Wir haben unterhalb der eigentlichen Regierungsebene noch eine Beamtenhierarchie, die wohl ausgerüstet und ausgestattet ist und die Alltagsaufgaben erledigen kann. Es fehlt insofern an der eigentlichen politischen Leitung und Lenkung. Das ist hier eben besonders drastisch, weil die Geschäftsführung auf eine Person geschrumpft ist ... 

… und diese Person obendrein auch gar nicht greifbar ist. Es gibt Staatssekretäre, die nicht mal seine Handynummer haben. Kemmerich tritt nicht öffentlich auf. Er entschuldigt sich damit, dass er und seine Familie bedroht werden. Auch an der Bundesratssitzung hat er nicht teilgenommen, um niemanden zu „provozieren“, wie er sagt. 
Dass er die Bundesratssitzung versäumt hat, ist unnötig gewesen. Man könnte es verstehen, wenn er sagen würde, er fühle sich da unwohl. Aber wen sollte er damit provozieren? Das ist Unsinn. Er hätte aus der verbliebenen Mannschaft auf der Staatssekretär-Ebene natürlich Vertreter für die Regierung benennen können, so dass, wenn es vielleicht drauf angekommen wäre, für eine Mehrheitsbeschaffung auch die Thüringer Stimme vertreten gewesen wäre. Aber gut, auch das ist kein Drama.

Darf er als geschäftsführender Ministerpräsident seine Pflichten vernachlässigen?  
Ich verstehe das auch nicht. Man kann es vielleicht nur dann nachvollziehen, wenn man sieht, dass er sich durch die ursprüngliche Annahme der Wahl in eine missliche Lage gebracht hat. Dass das so ein vehementes Echo auslösen würde, darauf war er vermutlich nicht eingestellt – sonst hätte er es wohl nicht gemacht, auch wenn er noch so gerne Ministerpräsident geworden wäre. Das muss man ihm nachsehen. 

Aber deswegen muss er doch trotzdem erreichbar sein.
Das stimmt, er ist immerhin Ministerpräsident, und da muss man alle Pflichten wahrnehmen. Egal, ob er persönlich bedroht wird. Öffentliche Auftritte sind nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Maschinerie der Verwaltung intern funktioniert.  

Sie haben eben den öffentlichen Druck angesprochen, mit dem er vielleicht nicht gerechnet hat. Er musste ja aufgrund des Drucks wieder zurücktreten, den auch die Kanzlerin ausgeübt hat. Hat sie nicht auch die Verfassung verletzt, als sie forderte, Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten müsse „rückgängig“ gemacht werden? 
Nein, sie hat ja keinen Rechtsbefehl ausgesprochen und nichts angeordnet. Das ginge in der Tat zu weit. Das würde ihre Kompetenz überschreiten. Aber sie hat eine politische Ansicht geäußert – man hätte es vielleicht etwas sanfter tun können, aber das ist kein Verfassungsbruch. Sie hat nur deutlich gemacht, dass sie selbst es für politisch nicht tragbar hält.

Hat es so einen Fall schon jemals gegeben in der deutschen Geschichte? 
Ich entsinne mich nicht, nein. 

Aber in der Verfassung von Thüringen ist so ein Fall schon vorgesehen. 
Er ist aber nicht ausdrücklich geregelt. Man kann, wenn man eine Verfassung entwirft und verabschiedet, gar nicht alles Mögliche bedenken und Vorkehrungen treffen. Man kann es aber besser machen als die thüringische Verfassung.

Wie denn?
Ich habe da die bayerische Verfassung vor Augen. Die ist, was die Regierungsbildung anbelangt, sehr viel vorsichtiger und umsichtiger. Im Artikel 44 steht, wie man sowas macht: Indem man ganz enge Fristen für die Regierungsbildung setzt und sagt: Wenn ihr das nicht schafft – that‘s too bad. Dann gibt’s Neuwahlen. Da kann keiner sagen: Das passt mir jetzt nicht, meine Umfragewerte sind schlecht. Nein, da schreibt die Verfassung vor: Ihr habt vier Wochen Zeit, und wenn das nicht klappt, dann wird binnen vier Wochen ein neuer Landtag gewählt.

Würden Sie sich so eine Regelung für Thüringen jetzt  auch wünschen, wo nach der Absage von Frau Lieberknecht an die CDU überhaupt nicht absehbar ist, wie lange sich das Drama einer Koalitionsbildung noch hinzieht?
Ich finde diese Regelung in Bayern gut, auch wenn es auch da sozusagen immer nur vorbeugend gewirkt hat. Über politische Unvernunft oder fehlende Klugheit hilft natürlich keine Verfassung hinweg. 

In Thüringen gehen die Meinungen auseinander, wie man weiter vorgehen soll, ob man einen neuen Ministerpräsident wählen soll oder gleich Neuwahlen abhalten soll. Was liegt eher im Interesse der Bürger? 
Sinnvoll ist, dass sich die ganze Sache nicht zu lange hinzieht. Es ist ja keine normale Situation, die wir da haben, sondern eine Notsituation. Und solche Notlagen sollte man nicht über Gebühr verlängern. Das Problem ist nur, dass diejenigen, die momentan schlechte Umfragewerte haben, den Zeitpunkt der Neuwahlen möglichst weit hinausschieben wollen, was die Verfassung auch erlaubt. Sie stellt das ins politische Ermessen, wann so ein Antrag auf Auflösung des Landtages bestellt wird. 

Sie spielen auf Thüringens CDU an, die gerade Bodo Ramelows Vorschlag für eine von der ehemaligen CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht geführte rot-rot-grüne Übergangsregierung vereitelt hat, indem sie Neuwahlen bis ans Jahresende verschieben wollte. Ein kluger Schachzug? 
Ich verstehe, dass da egoistische Wünsche im Vordergrund stehen. Aber es wäre gut, wenn wir bald zur Normalität in Thüringen zurückkehren könnten. Ich würde die CDU ermuntern, ihre Hinhaltetaktik zu überdenken. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Wähler das honorieren, wenn sie es richtig kommuniziert, dass sie einverstanden ist mit zügigen Neuwahlen. Wenn sie sagt, der Partei geht es schlecht, sie ist gar nicht so beliebt. Und trotzdem hat sie im Sinne des Gemeinwohls des Landes einer zügigen Neuwahl zugestimmt. Das wäre ja auch denkbar.  

Christian Pestalozza / Foto: privat

Was ändert sich denn für den Wähler, wenn das Land nicht mehr regiert, sondern nur noch notverwaltet wird? Müssen sie mit Einschränkungen rechnen?
Nicht automatisch. Wenn gerade große Entscheidungen anstehen, die für viele Bürger eine Bedeutung haben, könnte es Probleme geben. Aber wenn es darum geht, den Alltag fortzusetzen und keine neuen Weichen zu stellen, sondern bisherige Entscheidungen umzusetzen, sollte sich kein Bürger Sorgen machen. Aber mit politischer Gestaltung hat das natürlich nichts zu tun.  

Was wäre denn, wenn beispielsweise in Thüringen eine Epidemie ausbrechen würde wie in China, und es müssten ganz schnell Entscheidungen getroffen werden, wie Bürger geschützt werden können. Wer wäre dann verantwortlich? 
Ich würde sage, da könnte man vielleicht sogar froh sein, dass die politische Spitze nicht besetzt ist. Weil die trifft manche Entscheidungen eher nach politischem als nach fachlichem Ermessen. Das heißt, wenn die politische Spitze fehlt, dann sind die Fachleute dran, die es in den Ministerien ja zu Hauf gibt. Und dann wird der Fachverstand die Dinge regeln. Und das ist vielleicht sehr viel besser, als wenn sich die Politik in solche Dinge einmischt, von denen sie von Haus aus nichts versteht.

Glauben Sie, dass sich viele Wähler jetzt verprellt fühlen dürften, die einen, weil sie empört darüber sind, dass der Ministerpräsident sein Amt wieder zurückgeben musste und die anderen, weil sie sich von der CDU und der FDP verraten fühlen, weil die zusammen mit der AfD gestimmt haben? 
Doch, und genau deswegen sollten wir ja einen Neuanfang machen. Der muss aber nicht in einer Neuwahl bestehen. Eine Neuwahl wäre unglaublich hilflos. Im Übrigen wäre es auch teuer, den Wähler erneut an die Urne zu bitten. Nur weil man nicht in der Lage ist, auf vernünftigem Wege eine Regierung zu bilden. Was spricht eigentlich gegen eine Minderheitsregierung? Dafür gibt es doch auf Länderebene mehrere Beispiele, die zeigen, dass man auch damit Gutes zustande bringen kann. Ich verstehe, dass man es sich leicht machen möchte und eine Mehrheit hinter sich haben möchte. Aber wenn’s nichts geht, dann muss es eben über einer Minderheitsregierung funktionieren. Da muss man sich zusammenraufen. 

Die Regierungsbildung gestaltet sich ja deswegen so schwierig, weil es diesen Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU gibt, nicht mit der Linken zu koalieren.
Es ist doch unglaublich, dass eine Partei eine andere fast in die Ecke von Verfassungsfeinden stellt, indem sie sagt: „Mit denen nie!“. Das ist sinnlos. In der Zeit, in der sich die Parteienlandschaft fragmentiert, ist eine solche Aussage von vornherein destruktiv. Was soll das? 

Die Gegner einer Koalition mit der Linken argumentieren damit, dass die Linke das Erbe der SED-Diktatur verwalte
Wenn die von der sozialistischen Vergangenheit der Partei sprechen, dann sollte man sie –  und das ist ja auch schon bereits zu Recht geschehen – an die Vergangenheit von Teilen der Ost-CDU in der DDR erinnern. Viele von ihnen haben das System selbst mitgetragen. 

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