Thüringen-Krise - Die CDU verliert den Osten

Wer bisher geglaubt hatte, die SPD hätte ein exklusives Abonnement auf politischen Dilettantismus, sieht sich nach Thüringen eines Besseren belehrt. Die CDU verabschiedet sich mit ihrer Auschließeritis im Osten aus der parlamentarischen Demokratie.

Thüringens CDU-Noch-Fraktionschef Mike Mohring: „Die üblichen Antworten gelten nicht mehr" / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Thüringens Regionalpolitiker, an vorderster Front Mike Mohring (CDU) und Thomas Kemmerich (FDP), gelten derzeit als oberste politische Deppen der Nation. Insbesondere die Bundeshauptstadt ergeht sich seit Wochen in unermüdlichen Belehrungen und überheblichen Gesten. Dabei wurzelt die politische Krise Thüringens vor allem in den Berliner Parteizentralen selbst. 

Noch einmal zur Ausgangslage: Mit der Landtagswahl in Thüringen konnten Die Linke und AfD zusammen mehr als 50 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Um die zwingende Schlussfolgerung hieraus zu ziehen, braucht es nur den Mathematikstoff der Sekundarstufe I, genauer: rudimentäre Kenntnisse in Prozentrechnung. Eine stabile Regierungsmehrheit gegen Linke und AfD gleichzeitig ist unter diesen Voraussetzungen schlicht eine logische Unmöglichkeit und die Ausschließeritis der CDU eine politische Dummheit.

Prinzipieller Widerstand

Mike Mohring, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Thüringen, legte sich die Gefechtslage nach der Wahl schnell und nüchtern zurecht: Eine Kooperation ausgerechnet mit der Höcke-AfD kam kaum in Frage. Also musste die bürgerliche CDU wohl oder übel in den saueren Apfel beißen und ein Arrangement mit dem linken Wahlsieger Bodo Ramelow suchen. „Mir sind stabile Verhältnisse wichtiger für das Land, als dass es nur um parteipolitische Interessen geht“, ließ Mohring nur einen Tag nach der Wahl die staunende Öffentlichkeit im ARD-Morgenmagazin wissen. Auf kommunaler Ebene sei in Thüringen die Zusammenarbeit der CDU mit den Linken ohnehin nichts Neues.

In der Bundes-CDU stießen derartige Offerten postwendend auf prinzipiellen Widerstand. Sie gipfelten nach dem Wahldesaster rund um den inzwischen wieder zurück getretenen Ministerpräsidenten Kemmerich (FDP) gar in der Rückzugsankündigung von Kramp-Karrenbauer. Anstatt es beim Eingeständnis des eigenen politischen Scheiterns zu belassen, ließ die CDU-Chefin allerdings auf ihren letzten Metern noch einen neuerlichen, zehn Seiten umfassenden Abgrenzungsbeschluss gegen AfD und Linke fassen. Auf die Frage, ob die West-CDU mit ihrer Haltung nicht die CDU Thüringen, ja, vielleicht sogar den ganzen Osten politisch auf dem Altar der eigenen Ideologie opfere, sagt Mohring lieber nichts.

Politischer Dilettantismus

Wer daher bisher geglaubt hatte, die SPD hätte ein exklusives Abonnement auf politischen Dilettantismus, sieht sich nun eines Besseren belehrt. AKK vermachte mit dem Abgrenzungsbeschluss ihrem künftigen Nachfolger genau jenes vergiftete Geschenk, an dessen Logik sie selbst politisch gescheitert war und unter Billigung der Kanzlerin die CDU-Thüringen mit in den Abwärtstrudel gezogen hatte. CDU-Chefapparatschik Paul Ziemiak wird auf dieser Grundlage nicht müde, vor einer wie auch immer gearteten Unterstützung Ramelows durch die CDU Thüringen zu warnen: „Alle Mitglieder der CDU Deutschlands sind an die Beschlüsse des Bundesparteitags gebunden.“ Das gilt offenbar selbst für frei gewählte Abgeordnete, die laut Verfassung eigentlich allein ihrem Gewissen verpflichtet sind. Im Osten nannte man das früher einen „Parteiauftrag“. Sascha Lobo wählt zur Beschreibung der Lage sarkastische Worte: „Die CDU weitet ihren Unvereinbarkeitsbeschluss aus. Künftig werde man weder mit AfD und Linkspartei noch mit der Realität zusammenarbeiten.“

Den Vorsitzaspiranten Jens Spahn und Friedrich Merz bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als in das Horn der Bundespartei zu stoßen, wollen sie ihre Unterstützung in der West-CDU nicht verlieren. Beide überbieten sich auf Twitter geradezu darin, ihre Beschlusstreue zu dokumentieren. Und das alles gilt offenbar selbst dann, wenn es bloß darum geht, Ramelow für eine kurze Übergangszeit ins Amt zu hieven, um Neuwahlen herbeizuführen. Die Konsequenzen dieser Haltung sind für den dieser Tage viel gescholtenen CDU-Fraktionsvorsitzenden Mohring klar: „Wenn Linke und AfD die Mehrheit der Mandate haben, gelten die üblichen Antworten einfach nicht mehr. Die Beschlusslage der Bundespartei trifft auf eine andere Lebenswirklichkeit und verlangt von der CDU im Osten daher etwas logisch Unmögliches“, bringt Mohring das Dilemma auf den Punkt.

„Endpunkt der Bonner Republik“

Sprechen wir einfach aus, was der aus der Zeit gefallene Beschluss der CDU letztlich bedeutet: Im Grunde verabschieden sich die Christdemokraten im Osten aus der parlamentarischen Demokratie. Denn wozu sollte man sie künftig noch wählen, wenn von Anfang an klar ist, dass sie sich der parlamentarischen Zusammenarbeit verweigert, sobald ihr das Wahlergebnis nicht passt? Jeder gelernte DDR-Bürger ist angesichts solcher Vorkommnisse sofort an den Aufstand vom 17. Juni 1953 und die berühmte Frage des Dramatikers Bertolt Brecht an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) erinnert: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Der Soziologe Raj Kollmorgen hat daher ganz Recht. In einem Interview mit der Zeit erklärt er das Chaos um Thüringen zum „Endpunkt der Bonner Republik“. Auch dreißig Jahre nach der Wende hätte der Westen Deutschlands nicht verstanden, dass der Osten anders ticke und auf autoritäre Ansagen aus Berlin allergisch reagiere. Und vor allem hat der Westen bis heute nicht zur Kenntnis genommen, dass die Linkspartei einen ähnlichen Anpassungsprozess hinter sich gebracht hat wie im Westen die Grünen. Auch die galten einmal als extremistische Spinner, mit denen man nicht zusammen arbeiten könne. Aber das hat sich wie bei den Linken inzwischen geändert. Der westdeutsche Gewerkschafter und Protestant Ramelow würde heute nicht einmal mehr als Mitglied der CDA großartig auffallen.

Die West-CDU hat ein Aufarbeitungsproblem

Nur: Was den Osten und die Linke angeht, verbarrikadiert sich die West-CDU bis heute im erlernten Antikommunismus. Nicht die Linke hat ein Problem mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, sondern die West-CDU mit der Verarbeitung der letzten 30 Jahre seit der Wende. Und es ist ausgerechnet das Versäumnis einer ehemaligen FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda und Bundeskanzlerin aus dem Osten, in dieser Frage weder zur gesamtdeutschen Versöhnung noch Eröffnung neuer Machtoptionen für die Ost-CDU beigetragen zu haben. Im Gegenteil.

Und das wird nicht ohne Folgen bleiben. Man sollte die aktuellen dramatischen Umfragewerte für die CDU Thüringen und die wachsende Zustimmung für die Linken daher nicht falsch verstehen. Sie sind nicht nur Ergebnis der Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten, sondern vor allem auch ein Protest ostdeutscher Wähler gegen die offenkundige Arroganz der Berliner Parteizentralen. Auch das kennt man schon von früher aus dem „Politbüro“. Bei Neuwahlen dürfen Linke und AfD insgesamt in Thüringen nunmehr auf deutlich mehr als 60 Prozent aller Wählerstimmen hoffen. Die Bundes-CDU verhilft damit ungewollt ausgerechnet Bodo Ramelow mutmaßlich zu einer rot-rot-grünen Mehrheit. Tritt dies nicht ein, zum Beispiel weil die Grünen den Wiedereinzug in den Landtag verfehlen, werden die aktuellen Probleme der Regierungsbildung noch größer sein als jetzt. Wenn der Westen nicht bereit ist umzulernen, werden die etablierten Parteien daher nicht nur „zerrieben zwischen den Interessen der westdeutschen Zentralen und ostdeutschen Eigensinnigkeiten“ (Kollmorgen). Sie verlieren auch den Osten insgesamt.
 

Anzeige