Thüringen und Annegret Kramp-Karrenbauer - Unter Berliner Besatzung

Wer in Thüringen regiert und vor allem, wer dort nicht regiert, wird neuerdings in Berlin geregelt. Dass die SPD dies mitmacht, ist nicht der einzige Grund, sich staunend die Augen zu reiben. Das neueste Opfer der wohl neuen Verhältnisse dieser Erfurter Republik ist Annegret Kramp-Karrenbauer.

Bundeskanzlerin Merkel zieht vor Beginn des Koalitionsausschusses am Samstag einen Vorhang zu / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es sind die Tage der entzündeten Augen. Man kann sie sich seit dem Mittwoch von Erfurt gar nicht so sehr reiben, wie sie jucken. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass in Deutschland, in dem die Autonomie von Landesverbänden der Parteien höher als eine Monstranz gehalten wird, nicht nur Landesverbände von Parteien sondern ein ganzes Parlament und ein Ministerpräsident, also ein Regierungschef, ein ganzes Bundesland zum politischen Protektorat der Bundesregierung erklärt wird? Das gab es bisher vielleicht einmal mittelbar im Kosovo. Aber in Thüringen?

Die politische Besatzung Thüringens durch Berlin kam so: Nachdem die CDU in Thüringen bei der Wahl des FDP-Mannes zum Ministerpräsidenten gemeinsame Sache mit der AfD gemacht hatte, sah es die SPD in Berlin als geboten an, ihren Koalitionspartner und dessen Kanzlerin zu einem außerordentlichen Koalitionsausschuss aufzufordern. In vielerlei Interviews hatten die Parteichefs Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und der Generalsekretär Lars Klingbeil vorher klar gemacht, dass man nicht einfach mit einem Koalitionspartner weitermachen kann, der in einem Bundesland mit der AfD unter einer Decke steckt, sich mit denen gemein macht. Mehr als ein Hauch von Ende der Koalition lag in der Luft. Es wäre – nebenbei bemerkt – auch ein tatsächlich hinreichender Grund gewesen, der sowohl als Anlass als auch in einem Wahlkampf („die haben es mit Nazis getan!“) valide und erfolgversprechend gewesen wäre.

Das Berliner Protektorat

Dann aber traten die SPD-Granden am Samstag nach den zwei Stunden in Angela Merkels Kanzleramt an die Öffentlichkeit und erklärten diese Großen Koalition zum Garanten der Stabilität unserer Demokratie. Wörtlich! Da musste man sich nicht nur die Augen, sondern die Ohren gleich noch mit reiben. Reingegangen als diejenigen, die die Koalition in Frage stellen und rausgegangen als gemeinsame Demokratieretter. Und das ausgerechnet aus dem Munde der beiden, die den parteiinternen Wettkampf um den Vorsitz mit dem faktischen Versprechen gewonnen hatten, diese Koalition so bald wie möglich und zu gegebenem Anlass zu verlassen.

Grundlage dieser neuen Gemeinsamkeit und staatspolitischen Verantwortung bildet ein Manifest, eine Art Groko-Ermächtigung, ein Besatzungsstatut für Thüringen. Dieses kann aber auch auf andere Ländereien im Hoheitsgebiet der Bundeskanzlerin ausgedehnt werden, wenn das „Unverzeihliche“, wie sie es schon aus dem fernen Pretoria benannte, eintritt und Wahlen zu Ministerpräsidenten „rückgängig“ gemacht werden müssen. Dem Besatzungsstatut zufolge wünscht sich das Berliner Protektorat Neuwahlen in Thüringen. Und die Kanzlerin wünscht sich einen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, mit dem sie denn auch umgehend in diesem Sinne telefonierte. 

Man kann sich nur die Augen reiben

Zugeschaltet wurde dem Koalitionsausschuss telefonisch auch noch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. An ihn erging von der Thüringer Protektorats-Regierung von Berlin der Auftrag, den Rücktritt seines Kollegen Thomas Kemmerich noch schneller und auf direktem Wege entgegen dessen Plan über die Vertrauensfrage herbeizuführen, was dann umgehend geschah.

Ein paar kleinere Anlässe gab es noch, sich beim Tun der Selbstermächtigten im Kanzleramt die Augen zu reiben. Etwa, weshalb der Ostbeauftragte der Bundesregierung gehen musste, nachdem er Kammerichs Wahl gutgeheißen hatte. Die Digitalbeauftragte Dorothee Bär aber nicht, die genau das Gleiche gemacht hatte (wenngleich bei Twitter alsbald wieder gelöscht).

Die Erfurter Republik

Etwa, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zwischenzeitlich einen Vorschlag für Thüringen gemacht hatte (Grüne und SPD sollten einen Kandidaten zur erneuten MP-Wahl aufstellen). Von diesem war nur nach dem Koalitionsausschuss nichts mehr übrig, was wiederum so überraschend auch nicht ist, weil von ihr nach Erfurt ohnehin wenig übrig geblieben ist. Die Kanzlerkandidatur hat sie nun aufgegeben. Auch den Parteivorsitz wird sie bis zum Sommer abgeben, so zumindest die aktuellen Verlautbarungen. Eine CDU-Vorsitzende, die so wenig Autorität besitzt, dass ihr die Vorgängerin und Kanzlerin von Pretoria aus ins Handwerk pfuscht oder pfuschen muss, ist die längste Zeit CDU-Vorsitzende gewesen.

Das ist dann wohl die Erfurter Republik. Es ist die Republik, in der sich alle politischen Kräfte im Kampf gegen die eine verbünden und über alle Grenzen der politischen Zuständigkeit hinweg agieren. Die Erfurter Republik folgte auf die einstmals Bonner Republik, in der alles sehr geordnet und langsam vor sich ging, auf die die Berliner Republik folgte, in der es viel schneller und zunehmend ungeordneter zuging.

Zu klären wäre jetzt nur noch, wie es zur Erfurter Republik kam, wer für deren Zustandekommen verantwortlich ist. Aber bis das aufgearbeitet ist, kann die Präsidentenkanzlerin in der letzten Phase ihrer Kanzlerschaft das tun, was sie sich selbst einmal als „Durchregieren“ gewünscht hatte.

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