Sterbehilfe - Der Bundestag muss endlich handeln!

Vor drei Jahren, am 26. Februar 2020, hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bestärkt. Obwohl das Gericht erheblichen Regelungsbedarf anmahnte, um die Unabhängigkeit dieser individuellen Entscheidung sicherzustellen, geht die Arbeit des Bundestags zum Thema „Suizidhilfegesetz“ nur langsam voran.

Die Autonomie der jeweiligen individuellen Entscheidung muss gewährleistet sein / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Friedliche Musik, Vogelgezwitscher, grasende Rehe, Bachläufe, zum Schluss reihenweise Sonnenuntergänge. Nach den vereinbarten 20 Minuten wird die Substanz injiziert, der Leichnam des alten Mannes durch eine niedrige Tür geschoben und in einem Müllwagen abtransportiert. Keine Angst, er hatte den Ablauf kurz vorher beim Empfang genauso geordert. Auch gesellschaftlich war diese staatlich organisierte „Tötung auf Verlangen“ erwünscht, konnte man auf diese Weise sowohl demographische als auch Probleme der Nahrungsmittelversorgung lösen: Die Leichname wurden zu „Soylent Green“ verarbeitet, dem neuesten, besonders begehrten Nahrungsmittel der im gleichnamigen Film beschriebenen fiktionalen Gesellschaft. Der Film kam 1973 in die Kinos und bezog sich auf das Jahr 2022, in dem soziale Zersetzung und Umweltzerstörung zu einer totalitären Gesellschaft geführt hatten.

Nun, wir haben das Jahr 2022 ohne solche Dystopien hinter uns gebracht. Aber die Diskussion lebt; seit 50 Jahren ist das Bestreben, selbst über seinen Tod bestimmen zu können, ein ganz großes Thema in den Meinungsumfragen und in der Politik. Selbstbestimmung auch am Ende des Lebens, das war und ist eine Forderung der aufgeklärten Teile der Gesellschaft. Der damalige Präsident der deutschen Chirurgen, Georg Heberer, auch sonst ein weitblickender Mann mit Mut zu visionären Vorstellungen (Fehler in der Medizin zugeben!), forderte bereits 1980 das „Menschenrecht auf würdigen Tod“.

Auf der anderen Seite warnte Klaus Dörner, der Doyen der progressiven Sozialpsychiatrie und Vorbild für viele Engagierte im deutschen Gesundheitswesen, vor einer Nützlichkeitsdebatte: „Was machen wir mit den industriell Unbrauchbaren?“ Fast entschuldigte er sich für die Nähe zu konservativen Ansichten, die das Leben nicht in der Verfügung des Individuums oder der Gesellschaft sehen wollten und speziell die ärztliche Beihilfe zum Suizid ablehnten.

Die Geschichte lehrt Vorsicht

Gerade in Deutschland trifft eine solche Kontroverse, vor allem bedingt durch die Euthanasie-Programme der Nazis, auf eine besonders empfindliche Öffentlichkeit. Der Siegeszug der Selbstbestimmung erscheint jedoch ungebrochen, so hat man im Patientenrechtegesetz von 2013 nochmals die Autonomie des Einzelnen innerhalb der Institutionen der Gesundheitsversorgung gebündelt und gestärkt (zum Beispiel Aufklärungspflicht über Therapiealternativen, selbst bei deren Wirkungslosigkeit). Doch beim Thema Sterbehilfe ist der Zug zum Stehen gekommen.

Vielleicht liegt es daran, dass in der Vergangenheit zahlreiche Ideen zur Selbstverwirklichung (zum Beispiel Sexualität, Authentizität, individuelle Nutzenmaximierung) von der kapitalistischen Gesellschaft adaptiert, umgedeutet und fehlgenutzt wurden: Authentizität führte zu Selbstüberhöhung, Individualität zu Vereinzelung, und die Nutzenmaximierung machte den Patienten zum Objekt marktgetriebener Medizinangebote. Tatsächlich gab es bereits in den 70er-Jahren durchaus Grund zu der Annahme, dass es mit der Sterbehilfe nicht anders verlaufen könnte.

Zur Klarstellung: Der Autor versteht sich als Befürworter des selbstbestimmten Suizids, und zwar sowohl aus der ärztlichen Erfahrung als auch zum eigenen Selbst. Aber Missbrauchsmöglichkeiten müssen offen diskutiert werden, sie sind sogar maßgeblich zur Gestaltung der Diskussion heranzuziehen. So initiierte im Jahr 1980 die dänische Sozialministerin Ritt Bjerregaard mit der Äußerung, es sei „zu teuer, den Tod im Krankenhaus um ein paar Monate hinauszuzögern“, eine Diskussion zur Verbindung von Sterbehilfe und Sparprogrammen im Gesundheitswesen. Der deutsche Sozialrechtler Oliver Tolmein berichtet über Fälle aus den USA, in denen Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen Behandlungen mit der Begründung verweigert wurden, sie könnten sich doch (weitaus preiswerter!) an Sterbehilfe-Organisationen wenden.

Allianz mit der Transplantationsmedizin?

Damit nicht genug: Das New England Journal of Medicine berichtet über 30 Patienten, denen nach Einnahme der Sterbemedikation ihre Organe zu Transplantationszwecken entnommen wurden. Sogar die Transplantation des schlagenden Herzens wird in Fachkreisen diskutiert. In der Schweiz sehen Transplantationsmediziner die Chance, unter Einbeziehung der Ausländer, die die Schweiz wegen der liberalen Sterbehilfe-Gesetzgebung aufsuchen, sogar einen Überschuss an Organen zu erzielen.

Ist ein solches Szenario auch für Deutschland denkbar? Immerhin strebt Bundesgesundheitsminister Lauterbach, ein Fürsprecher der liberalen Suizidhilfe, mit Verve die Opt-Out-Lösung (aktiv der postmortalen Organentnahme widersprechen, sonst gilt Einverständnis) bei der Organentnahme an. Wenn wir wie in den Niederlanden einen Zustand erreichen sollten, bei dem über 4% der gesamten Todesfälle auf einen assistierten Suizid zurückgehen, dann hätten wir in Deutschland ca. 40.000 assistierte Suizide pro Jahr. Unser Bedarf an Transplantationsorganen wäre selbst dann gedeckt, wenn nur 25% dieser Personen für eine Entnahme in Frage kämen. In den Niederlanden tragen nicht umsonst manche ältere Menschen schon den Spruch „Maak mij nied dood“ als Tattoo auf der Brust.

Grenzregionen menschlicher Existenz

Diese Szenarien stehen für eine Überhöhung des sozialethischen Impetus über die Rechte der Einzelnen; man muss dem Ganzen dienen, Solidarität üben, so wie es heute ja gerne heißt. Man könnte dies den „großen Utilitarismus“ nennen, der Staat, das staatliche Handeln, die große Gemeinschaft ruft zur Unterordnung auf, und selbstredend versteht der einzelne Bürger diese Unterordnung als Adelung seiner persönlichen Individualität. Aber daneben gibt es ja noch den „Alltags-Utilitarismus“, bitte doch an die Erben denken, nicht alles für die jahrelange Pflege drangeben, das Pflegebett kann jemand anders doch dringender gebrauchen, warum der Krankenkasse auf der Tasche liegen. Nicht umsonst, so wird klar, hat das Bundesverfassungsgericht die Autonomie der jeweiligen individuellen Entscheidung so stark betont.

Die Sterbehilfe-Diskussion ist an krassen Grenzfällen nicht arm. Ist zum Beispiel die Autonomie der Entscheidung hinreichend gegeben, wenn ein zu langjähriger Haft verurteilter Straftäter um staatliche Suizidhilfe bittet? Denn dieser Fall ist real: 2014 hat der aufgrund pädophiler Vergehen verurteilte Frank van den Bleeken in Belgien gerichtlich das Recht auf Selbsttötung erstritten. Und wie ist zum Beispiel die Situation einzuschätzen, wenn eine alte Dame, die in ihrer Patientenverfügung klar dazu geäußert hat, im Falle einer Demenz per Sterbehilfe aus dem Leben zu scheiden (eine externe Begutachtung durch suizidfreundliche Gutachter hatte stattgefunden), dann aber kurz vor der Spritze ebenso klar erklärt, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen sei, und sich dann sogar wehrt? Die Spritze gab es trotzdem, die Ärztin wurde vor Gericht freigesprochen (der Fall „2016-85“ in den Niederlanden). Bei Walter Jens, dem bekannten Philosophen aus Tübingen, war die Situation ähnlich, aber als er im Vollzustand der Demenz zu erkennen gab, dass er nicht sterben wollte, konnte er trotzdem eines natürlichen Todes sterben.

Der Schritt ist dann nicht mehr weit zu psychisch Erkrankten: Schwer Depressive sehen oft nur den Tod als Ausweg. Ist dies nun als krankheitsbedingte Einschränkung der Autonomie oder als frei geäußerter Wille zu werten? Und bei psychotischen Schüben? Ganz abgesehen von einem Suizidwunsch bei Kindern, die ja heute jederzeit ihr Geschlecht ändern können – warum sollte man ihnen (zum Beispiel wie in Belgien) nicht auch den Weg zum selbstbestimmten Sterben ebnen?

Statt Politik: Die Rechtsprechung handelt

In der Regel werden Debatten dieses Ausmaßes durch Verbände, Parteien, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, gelegentlich auch durch zivilgesellschaftliche Zweckbündnisse geprägt (zum Beispiel bei den Themen Abtreibung, Klima, Corona). Bei der Thematik Sterbehilfe fällt jedoch die allgemein zurückhaltende Positionierung ins Auge, speziell bei den Kirchen. Natürlich gab es zahlreiche Verlautbarungen und Beschlüsse, aber diese waren oft widersprüchlich und konnten den Konflikt nicht moderieren. Gerade Politik und Ärzteschaft waren eher reaktiv beteiligt und beeinflussten den Diskussionsverlauf nur am Rande. Stattdessen hat ein anderes Integrationselement der Gesellschaft „das Spiel gemacht“, nämlich die Rechtsprechung, in ihrem unermüdlichen (diese Bezeichnung sei dem Nichtjuristen gestattet) Fortschreiten.

Die meisten richtungsweisenden Urteile bezogen sich auf Einzelfälle, die auch in der Öffentlichkeit und den Medien intensiv diskutiert wurden. Im Vordergrund stand zunächst die Sterbehilfe im Endstadium unheilbarer Erkrankungen („endlich Sterben lassen“). In den 80er-Jahren wurde höchstrichterlich entschieden, dass eine Lebensverlängerung bei terminal Erkrankten nicht „um jeden Preis“ geboten sei und sogar als Sorgfaltsverletzung angesehen werden könne; auch Kirchen und Ärzteverbände konnten sich hier anschließen. Im sogenannten „Peterle“-Urteil vom 4.7.1984 hatte der BGH die schriftliche Willensbekundung der 74-jährigen Patientin „Bitte kein Krankenhaus – Erlösung! Ich will zu meinem Peterle“ (ihrem Ehemann) als bindend angesehen. Allerdings hielt der BGH daran fest, dass ein anwesender Arzt bei Eintreten der Bewusstlosigkeit dann doch die Reanimation einleiten muss, selbst wenn ihm der Sterbewunsch bekannt ist. Diese paradox anmutende Situation wurde erst durch ein BGH-Urteil vom 3.7.2019 aufgehoben.

Die passive Sterbehilfe (Einstellung der Behandlung) und die indirekte Sterbehilfe (Gabe von lindernden Medikamenten mit einer potentiellen Lebensverkürzung, zum Beispiel Schmerzmittel) kamen also langsam in der Legalität an. In den folgenden Jahren verschob sich die Diskussion jedoch immer mehr in Richtung Beihilfe zum Suizid. Im Mittelpunkt steht der Wille einer Person, ihrem Leben ein Ende zu setzen, das Vorliegen einer unheilbaren, absehbar zum Tode führenden Erkrankung trat in den Hintergrund. Dieser „assistierte Suizid“, bei dem die „Tatherrschaft“ (zum Beispiel Injektion des tödlichen Medikamentes) beim Suizidenten verbleibt, ist von der aktiven Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen durch eine dritte Person) abzugrenzen, die weiterhin nicht gestattet ist. Es bildeten sich sogenannte Sterbehilfe-Vereine zum Beispiel um den ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch, die Unterstützung anboten (teilweise kommerziell) oder Kontakte in anderen Ländern herstellten.

 

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Die politische Diskussion geriet an dieser Stelle in eine Sackgasse, indem sie den offensichtlich vorhandenen gesellschaftlichen Wunsch nach einem Zugang zu Sterbehilfe missachtete und sich auf die Bekämpfung der „organisierten Sterbehilfe“ konzentrierte. So stellte der Bundestag am 6.11.2015 die „geschäftsmäßige“ Sterbehilfe unter Strafe und bezog hierbei die ärztliche Assistenz mit ein. Der Begriff bezog sich nicht einmal auf kommerzielle Interessen, sondern auf die schiere Tatsache der Wiederholung, sozusagen auf das „zweite Mal“. Für viele mit der Thematik praktisch befasste Ärzte (zum Beispiel Onkologen oder Palliativmediziner) war dieser Beschluss schwer erträglich, vor allem durch seine semantische Assoziation mit der „organisierten Kriminalität“.

Vorausgegangen war eine Änderung im ärztlichen Berufsrecht, die mit dem Wechsel von Hans-Jörg Hoppe zu Frank Montgomery im Amt des Präsidenten der Bundesärztekammer 2011 zusammenfiel. Während vorher ein gewisser Spielraum gegeben war (Hoppe: „Das muss jeder mit sich selbst ausmachen“), wurde nun in der Muster-Berufsordnung ein definitives Verbot der Suizidbeihilfe festgelegt (Montgomery: „Ärzte heilen manchmal, lindern oft, trösten immer, töten nie“). Allein die Tatsache, dass dieses Verbot nur von zehn der 17 Ärztekammern in ihre (verbindlichen) Regelungen übernommen wurde, zeigte, wie umstritten dieses Verbot war. In der Summe hatte die Diskussion zur Sterbehilfe durch diese Entwicklung knapp zehn Jahre verloren.

Die Rechtsprechung ging ihren Weg jedoch unbeirrt weiter. So erkannte das Bundesverwaltungsgericht am 3.3.2017 Patienten das Recht zu, vom Bundesinstitut für Arzneimittel in Einzelfällen und nach Ausschluss anderer Möglichkeiten zum Zweck des Suizids das Medikament Pentobarbital zur Verfügung gestellt zu bekommen. Gegen dieses Urteil erließ der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zwar einen sogenannten Nicht-Anwendungserlass, erstmalig im Gesundheitswesen und bis heute fortbestehend. Alles erschien jedoch in anderem Licht, als das Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten mit Urteil vom 26.2.2020 das Recht auf einen frei gewählten Tod ableitete und hier auch die freie Wahl der Suizidunterstützung mit einbezog, die Autonomie der Entscheidung vorausgesetzt. Der §217 zur Abwehr der „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ wurde außer Kraft gesetzt.

Die Urteilsverkündung in Karlsruhe war von spontanem Beifall begleitet, die Aufregung war gewaltig. Die Tür zum Suizid, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, stehe nun nicht nur offen, das ganze Haus stehe nicht mehr: ein „Schlag in das Gesicht des deutschen Bundestages“. Fest steht, seitdem ist die Thematik des assistierten Suizids kaum noch gesetzlich geregelt, wenn man von Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes absieht (bei fortbestehendem Verbot der aktiven Sterbehilfe). Auch wurde auf dem Deutschen Ärztetag 2021 das berufsrechtliche Verdikt gegen die ärztliche Mitwirkung beim assistierten Suizid gestrichen.

Große Defizite in der Praxis

Nun soll die Nachzeichnung dieser Entwicklung nicht davon ablenken, dass es sich bei der Sterbehilfe primär um ein gesellschaftliches Thema handelt, das – so der Frankfurter Jurist Uwe Volkmann 2021 in der FAZ – von der Entwicklung des Rechts zwar geprägt wird, zur letztendlichen Klärung aber der Aktivität des Gesetzgebers bedarf. Ebenso wird in praxi die individuelle Realität der Sterbehilfe durch den gesellschaftlichen Kontext geformt. Auf beiden Ebenen, im Gesetzgebungsprozess und in der Praxis, verbleiben drei Themenbereiche mit hoher Relevanz: zum einen die Frage der fachlichen Eignung der bestehenden und der geplanten Regelungen, zum anderen die Frage, wie ein Missbrauch auf individueller und – drittens – auf staatlicher Ebene verhindert werden kann.

Hinsichtlich der fachlichen Eignung steht die Abstimmung und Arbeitsteilung mit der Palliativmedizin und der Hospizbewegung ganz oben auf der Agenda. Häufig wird argumentiert, dass Sterbehilfe nicht notwendig sei, wenn man die Palliativ- und Hospizversorgung besser ausstatten würde. In diesem Argument liegt viel Wahrheit, denn das Leiden, die Qual des unheilbar Kranken, das zu Beginn der Debatte von 50 Jahren den ganz entscheidenden Anstoß gegeben hatte, kann natürlich mit den Mitteln der Palliativmedizin heute weitgehend verhindert werden.

Allerdings werden nur ca. 30.000 der 900.000 jährlich auftretenden Todesfälle palliativ bzw. in Hospizeinrichtungen versorgt, und hier ist die Unterversorgung gerade in ländlichen Bereichen noch gar nicht abgebildet. Auch bleibt das soziale Gefälle unberücksichtigt, denn die raren Plätze sind häufig nicht ohne Eigenleistung zugänglich, ganz abgesehen von der Chance, den Anspruch auf einen solchen Platz überhaupt artikulieren und durchsetzen zu können. Es ist zynisch, wenn immer wieder auf die Förderung der Palliativmedizin und Hospizversorgung verwiesen wird (wie zum Beispiel im Rahmen der Bundestagsdebatte 2015) und in Wirklichkeit an dieser Stelle keine relevanten Verbesserungen sichtbar werden.

Trotzdem bleiben Situationen, in denen die Palliativmedizin nicht ausreicht. Einerseits gibt es viele Patienten, die nicht unter den Nebenwirkungen einer Schmerztherapie (fortschreitende Benommenheit, nicht mehr „Man-selbst-sein“) versterben möchten, sondern dies zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte vollziehen wollen. Zum anderen hat sich der Fokus von der ärztlichen oder pflegerischen Betreuung zum frei gewählten Suizid ohne krankheitsbedingte Not verschoben.

Auf die Unterscheidung der Suizidassistenz (gestattet) und der aktiven Sterbehilfe (verboten) wurde schon Bezug genommen, aber es ist aus fachlicher Sicht nicht auszuschließen, dass die die Trennung beider Situationen nicht immer möglich ist. Studien zeigen, dass bei der Suizidbeihilfe nicht nur in zweistelliger Häufigkeit Komplikationen auftreten können, sondern dass oftmals eine aktive Beendigung eines eigentlich als Suizid geplanten Sterbeprozesses notwendig wird (zum Beispiel bei mangelnder Wirksamkeit der Präparate, bei Versagen des intravenösen Zuganges oder bei Erbrechen). Leider liegen hierzu nur wenige Studien vor, und es ist daher dringend anzuraten, bei einer gesetzlichen Neuregelung in Deutschland die genaue Dokumentation und wissenschaftliche Aufarbeitung der Fälle vorzuschreiben, damit Fehlentwicklungen rechtzeitig erkannt werden können.

Selbstbestimmung: das unerreichbare Ideal?

Der wichtigste Punkt liegt jedoch in der Idealisierung des Menschenbildes in Bezug auf den Entscheidungsprozess. Man geht immer von einer voll informierten, kommunikationsfähigen, einer Aufklärung bezüglich der Handlungsalternativen zugänglichen Person aus. Stattdessen muss man sehr oft mit kognitiven Einschränkungen rechnen, mit Verwirrtheit, Angst und enormem familiären und sozialen Druck in welcher Richtung auch immer.

Die Auseinandersetzung mit der Beendigung des eigenen Lebens oder des Lebens nahestehender Personen kann zu einer eklatanten persönlichen Überforderung führen, das darf man nicht aus den Augen verlieren. Und damit nicht genug: Was tun mit Personen, die sich gar nicht mehr äußern können, nicht ansprechbar oder bewusstlos sind, vor allem wenn für sie weder eine Patientenverfügung vorliegt noch Angehörige greifbar sind? So braucht es zum Beispiel für alleinstehende Patienten mit einem apallischen Syndrom, die künstlich ernährt und in einem Pflegeheim versorgt werden, belastbare institutionelle Regelungen.

Wie der Journalist und Jurist Heribert Prantl es unter Bezugnahme auf das Verfassungsgerichtsurteil richtig gesagt hat, der Staat muss an diesem Punkt handeln, weil ohne eine Regelung von einer tatsächlichen Autonomie der Entscheidung nicht regelhaft die Rede sein kann. Wenn Faktoren wie Einsamkeit, soziales Umfeld, reale ärztliche oder pflegerische Unterversorgung und Hospizversorgung nicht berücksichtigt werden und man die sterbewillige Person in ihrer Selbstbestimmung allein lässt, ohne die soziale Bedeutung und Einbettung eines Suizids zu sehen, dann kann der Bezug auf dieses Ideal sogar zu ausweglosen, grausamen Zuständen führen.

Die Lösung bzw. die geplante Gesetzgebung muss daher mehrere „Schutzlinien“ umfassen, um negative Folgen möglichst einzugrenzen:

- Erste Linie: Das vorhandene soziale Umfeld ist obligat in die Entscheidung einzubeziehen (Familie, evtl. Freundeskreis).
- Zweite Linie: Auf die in der bisherigen Betreuung involvierten Personen (Hausarzt, Pflegekräfte etc.) kommt eine wichtige Aufgabe zu, die gesetzlich gefestigt werden muss.
- Dritte Linie: Pflicht zum Kontakt mit neutralen Beratungseinrichtungen, um allgemeinen Gesichtspunkten Geltung zu verschaffen.

Die „dritte Linie“ spielt eine große Rolle und ergänzt die Garantenstellung der behandelnden Ärzte, zum Beispiel wenn psychische Erkrankungen oder soziale Probleme vorliegen. Von freiwillig besetzten Kommissionen ist hierbei abzuraten, weil die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass diese Beratungsstellen sehr schnell von einseitig pro Sterbehilfe eingestellten Personen „übernommen“ werden. Stattdessen wäre es richtig, solche Kommissionen an den Ärztekammern anzusiedeln und die multiprofessionelle Besetzung (neben den Genannten auch Juristen, Psychologen, Ethiker und Vertreter der Religionen) sowie Fristenregelungen gesetzlich festzulegen.

Vorsicht mit technologischer Überformung!

Neben dem Menschenbild und der praktisch-fachlichen Umsetzung ist allerdings die gesamtpolitische Ebene nicht zu vergessen, gerade da utilitaristische Betrachtungsweisen wieder auf dem Vormarsch sind. Über die „unheilige Allianz“ von Sterbehilfe und Transplantationsmedizin hinaus (s.o.) müssen die Wahrung der Schweigepflicht und der Schutz der persönlichen Daten besondere Beachtung finden. Spricht man heute mit dem Hausarzt über den eigenen Sterbewunsch, was sagt morgen der Arbeitgeber oder die Krankenversicherung dazu?

Viele Personen und Gruppen im Gesundheitswesen, vor allem soweit sie an der Ökonomisierung der letzten privaten Sphäre des Bürgers verdienen konnten und weiter zu verdienen hoffen, sind der naiven Meinung, die strukturellen Schwächen unseres Gesundheitswesens würden sich beilegen lassen, wenn man „die Digitalisierung“ vorantreibt, sozusagen über die Strukturbrüche überstülpt. Abgesehen von der Tatsache, dass dies keinen Erfolg haben wird (wir werden nur mit den negativen Folgen konfrontiert sein), ist dies beim Thema Sterbehilfe eine ganz besonders problematische Vorstellung. Natürlich wird gesagt, die ärztliche Dokumentation über digitale Instrumente sei streng vertraulich, aber das ist eine Illusion: Die Daten werden schneller gehackt, als man sich umsieht (siehe die Veröffentlichung aller Daten zu den psychischen Erkrankungen in Finnland vor ein paar Jahren), und außerdem ist der Informationshunger des Staates nie zu stillen; irgendeine Entschuldigung zur De-Anonymisierung (Terrorismus, Pädophilie, Drogen, …) wird es immer geben.

Eine wichtige Diskussion im Deutschen Bundestag steht an. Es ist zu hoffen, dass die fachlichen Entscheidungen auf ein realistisches Setting Bezug nehmen und mit der notwendigen Präzision entwickelt werden. Es ist zu hoffen, dass die gefundene Regelung optimal dokumentiert wird. Es ist weiterhin zu hoffen, dass die Gefahr einer möglichen Kontinuität zwischen digital dokumentiertem Sterbehilfewunsch, der Durchführung der Sterbehilfe und der Organentnahme ganz oben auf der Aufmerksamkeitsliste steht und man hier glasklare Regelungen zum Schutz dieses intimen Bereichs menschlicher Existenz findet.

Denn sonst würden wir nichts weiter unter Beweis stellen, als dass wir von „Soylent Green“ gar nicht mehr so weit entfernt sind. Nur dass wir nicht zur Anmeldung gehen müssen, um unseren Suizid anzukündigen, sondern unser „digitaler Zwilling“ schon vorab informiert ist. Nur dass wir die Toten nicht essen, sondern sie zur Organgewinnung und Transplantation nutzen. Das „Jahr 2022“ hätten wir um ein paar Jahre verschoben, nicht ohne es noch weiter zu perfektionieren.

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