Politik und Medien - Deutschland, Du hast ein dickes Problem!

Die gegenwärtige Krise der Ampelregierung ist vor allem eine Krise des Journalismus. Der nämlich pflegt seit Jahren schon eine zu starke Nähe zur Politik. Nicht zuletzt der Fall Anne Spiegel zeigt nun, wohin der Abriss der Grenzen zwischen Politik und Medien führen kann.

Steffen Hebestreit und Olaf Scholz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Nichts ist teurer als eine Presse, die ihren Job nicht macht. Der Rücktritt der Bundesfamilienministerin nach nur 124 Tagen im Amt wirft nicht alleine erneut die Frage nach Professionalität, Realitätstauglichkeit und Umsicht der Grünen auf, was Programm und Personal angeht. Mit Anne Spiegel ist zugleich die Praxis der Parteien als untauglich entlarvt, vermeintlich erstklassige Journalistinnen und Journalisten für ihre Dienste einzukaufen in der sicheren Erwartung, ja Überzeugung, dies sei bereits die halbe Miete für eine wohlwollende, mindestens aber nicht allzu unfreundliche Berichterstattung und Kommentierung der hauptstädtischen Regierungsleistungen. Statt dessen verliert das Land ein unentbehrliches Korrektiv, eine Kraft, Politik besser zu machen, nicht zuletzt im ureigensten Interesse der Handelnden. Und das hat immer häufiger dramatische Folgen.   

Eine besonders unglückliche Rolle spielt dabei der Regierungssprecher selbst.  Steffen Hebestreit (49) wechselte die Seiten nach Stationen bei der Frankfurter Rundschau und dem Kölner Stadtanzeiger und wurde 2014 zunächst Sprecher von SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Anschließend machte ihn der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz zum Chef seiner Hamburger Landesvertretung, 2018 holte er ihn als Sprecher ins Bundesfinanzministerium und damit in seinen engsten Kreis. Folgerichtig war die Überraschung gering, als Hebestreit im Dezember vom frisch vereidigten Bundeskanzler zum Staatssekretär, Regierungssprecher und Chef des Bundespresseamtes befördert wurde. 

Ein flexibler Sunny Boy

Einer, der selbst jahrelang im Vorstand der Bundespressekonferenz e. V. saß und als Journalist jene Pressekonferenzen leitete, bei denen dreimal die Woche die Bundesregierung zu Gast ist, smart, umgänglich, krawattenfrei, ein flexibler Sunny Boy mit viel Erfahrung so einer könne, das war das Kalkül des neuen Bundeskanzlers, schon wegen seiner freundschaftlichen Kontakte zur Elite des deutschen Journalismus' unmöglich eine schlechte Wahl sein. Hebestreit besitzt alle wichtigen Handynummern und weiß, wie die Hauptstadtpresse tickt. Das muss, das wird laufen, wird sich Scholz gedacht haben.

Zehn Minuten, dann hat er per Rundmail alle 14 Korrespondenten zusammen, die für ein vertrauensvolles, exklusives Hintergrundgespräch im Kanzleramt notwendig und hilfreich sind. Die dort vermittelten Informationen dürfen zwar nicht namentlich zitiert werden, sickern aber als Herrschaftswissen in den Folgetagen nach und nach in die Berichterstattung und Kommentierung soweit noch voneinander zu trennen der deutschen Leitmedien hinein mit besonderer Beachtung von ARD, ZDF, Spiegel, Süddeutsche, Zeit. Und natürlich darf auch das Redaktionsnetzwerk Deutschland aus dem Madsack-Verlag nicht zu kurz kommen, wenn der Kanzler einlädt, denn dessen größte Anteilseignerin ist die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft, das Medienbeteiligungsunternehmen der SPD.

Grüne und FDP taten es nach kurzer Bedenkzeit dem Bundeskanzler gleich und sicherten sich für jene Posten im Bundespresseamt, deren Besetzung ihnen nach gängiger Koalitionspraxis zusteht, eine Journalistin mit langjähriger Berufspraxis bei FAZ und Der Spiegel (Christiane Hoffmann, 54) sowie einen ehemaligen Chefredakteur von dpa und Der Spiegel (Wolfgang Büchner, 55). Frank-Walter Steinmeier, soeben mit überparteilicher Mehrheit im Amte des Staatsoberhaupte bestätigt, trennte sich von der früheren NDR-Korrespondentin Anna Engelke (53) und wurde bei der Süddeutschen Zeitung fündig. Für seine zweite Amtszeit holte er sich Cerstin Gammelin (57) als neue Sprecherin eine Entscheidung, die bereits wenige Tage später zu ersten verheerenden Ergebnissen führte. 

Politik beim Kamingespräch

Als Vorbild dieser halsbrecherischen Personalpolitik dient allen gemeinsam, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck und zuletzt auch Frank-Walter Steinmeier, jene Frau, die für die SPD die Medienpolitik verantwortet und auf Bundes- wie Landesebene arrangiert, wobei das uncharmante Verb fingert längst angemessener wäre: Marie-Luise Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. In dieser Eigenschaft ist sie zugleich Vorsitzende der Rundfunkkommission der Länder, dem wie sie selbst es so nett formuliert Gesprächsforum für die gemeinsame Medienpolitik und Beschlussinstanz.

In traditionell klandestinen Kamingesprächen handeln die 16 Regierungschefs aus, was sie  anschließend ihren Kabinetten und dann den Landesparlamenten zur Abstimmung vorzulegen gedenken, damit jene, inzwischen sogar höchstrichterlich bestätigt und gutgeheißen, Gebührenerhöhungen und Strukturänderungen einfluss- und widerspruchslos abzunicken haben. Verweigert sich ein Landtag, wie es sich Sachsen-Anhalt im Dezember 2020 erlaubte, wird sein ablehnendes Votum unter dem einhelligen Lob der Qualitätsmedien vom Bundesverfassungsgericht ohne mündliche Verhandlung und ohne Urteil, lediglich durch Beschluss ersetzt. Dessen Präsident Prof. Dr. Stephan Harbarth, LL.M. (Yale), ist zwar ohne überzeugende verfassungsrechtliche Expertise und Erfahrung ins Amt gelangt, hatte sich aber zuvor in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages als treuer Gefolgsmann der Bundeskanzlerin bewährt.     

Orbán wäre neidisch

Rundfunkpolitik ist Ländersache und ein Feld, auf dem die CDU als Partei, ganz anders als Angela Merkel in ihren 16 Jahren als Kanzlerin, und auch die CSU seit Jahr und Tag nichts mehr so recht auf die Reihe kriegen, was sie aber nicht sonderlich zu stören scheint. Solange für sie nur genug Posten in ARD, ZDF und Deutsche Welle abfallen, überlassen sie Frau Dreyer und damit der SPD bereitwillig eine nirgendwo gesetzlich verankerte Richtlinienkompetenz. Diese nutzt das gnadenlos aus, etwa, indem sie Chefpositionen im heimischen Südwestrundfunk rigoros nach ihren eigenen Vorstellungen und Interessen besetzt und auch im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgesprochen effizient mitmischt. Warum tut sie das? Weil sie es kann.
Wer zum Beispiel weiß, wie Kai Gniffke (61), der sich in ihren Augen als Chef von tagesschau und tagesthemen bestens bewährt hatte, von Frau Dreyer 2019 in einem verblüffend intransparenten und undemokratischen Verfahren, das selbst einen Viktor Orbán wie einen Anfänger aussehen lässt, in den Gremien als SWR-Intendanten in der Nachfolge von Peter Boudgoust durchsetzte, hat für das Begriffspaar Staatsferne und Öffentlich-rechtlicher Rundfunk nur noch Spott übrig. Das von Roland Koch provozierte Hygiene-Urteil aus Karlsruhe im Hinblick auf die Besetzung der Gremien ist ein Muster ohne Wert, denn danach ging es mit politischer Einmischung und Strippenziehung erst richtig los.  

Nicht ganz so reibungslos wie in der Causa Gniffke vollzog sich allerdings jüngst der Machtwechsel im die rheinland-pfälzische SPD naturgemäß am meisten interessierenden SWR-Landesfunkhaus zu Mainz. Dessen langjährige Chefin Simone Schelberg (52), verheiratet mit SWR-Personalchef Thomas Schelberg, was im Falle von Konflikten schon per se eine problematische Konstellation war, hatte die unverbrüchliche Freundschaft mit Dreyer derart ungeschickt und offensichtlich auf die Spitze getrieben, dass ihr Intendant Gniffke keine vierte Amtszeit gewähren wollte. Am Ende wurde sie sogar vorzeitig abberufen. Seit 1. Februar sitzt sie bei vollen Bezügen zuhause; Insider schätzen ihr Monatsgehalt auf 16.000 Euro. Ein weiteres Gehalt in dieser Höhe fließt nun an ihre Nachfolgerin. Schelbergs Fehler: Sie deformierte als Landesfunkhausdirektorin das Ideal eines unabhängigen, regierungskritischen Journalismus vor aller Augen derart zur Karikatur, dass es selbst ihren Vorgesetzten in Sender und Staatskanzlei zu bunt wurde, wie Friedrich Roeingh in der Weihnachtsausgabe der Mainzer Allgemeinen Zeitung anschaulich schilderte:
 

Die im Landessender eingepreiste Nähe zur SPD-geführten Regierung versuchte Schelberg selten zu kaschieren. Als die Redaktion eine rein repräsentative Argentinienreise der damaligen Bundesratspräsidentin Malu Dreyer nicht besetzen wollte, ordnete Schelberg die Begleitung kurzerhand an. Auf einem Pressefest, auf dem Dreyer von mehreren Journalisten umgeben war, nutzte Schelberg eine Gesprächspause, um ihr den aktuellen Kommentar eines SWR-Mitarbeiters vor der Ausstrahlung aufzudrängen: 'Malu, willst Du schon mal sehen?' Während sich die Ministerpräsidentin dieser peinlichen Situation entwandt, pflegte man sonst ein betont freundschaftliches Verhältnis. Bei der Hochzeit der Schelbergs zählten Malu Dreyer und ihr Mann zu den Gästen." Dreyers damalige Botschaft an die SWR-Belegschaft, die sie mit ihrem Besuch sendete: Spart Euch etwaige Beschwerden die Verbindung zwischen Personalchef und Funkhausdirektorin hat mein Gütesiegel. 

Wirklich haltbar war diese Frauenfreundschaft allerdings nicht. Friedrich Roeingh: Duz-Freundin Dreyer wusste von Schelbergs Abberufung gewiss eher als diese selbst.              

Was dann passierte, zeigt allerdings, wie schmerzhaft eine gendersensible Bezeichnung für Beelzebub fehlt: Als originelle Konsequenz aus den Erfahrungen mit Frau Schelberg installierte Intendant Gniffke jene Ulla Fiebig (47) als Nachfolgerin im Mainzer Landesfunkhaus, eine gelernte SWR-Journalistin, die sich in der Hauptstadt im Abwehrkampf gegen alle Rücktrittsforderungen als Vertraute und Sprecherin von Franziska Giffey bewiesen hatte, womit Frau Fiebig, so die Allgemeine Zeitung, nunmehr auch SPD-Stallgeruch mitbringe: Im Bundesfamilienministerium hat sie auf das Engste mit Staatssekretärin Juliane Seifert zusammengearbeitet. Die exzellent verdrahte Seifert ist eine enge Vertraute Dreyers und gilt als eine der Brückenköpfe der Ministerpräsidentin in den Berliner Regierungsbetrieb hinein. 

Die SPD-Connection

Kein Problem für den Intendanten. Ulla Fiebig war zwar als Leitende Pressesprecherin mitverantwortlich für das wahrheitswidrige Trauerspiel um die Doktorarbeit ihrer Chefin Giffey, das schließlich doch in Titelentzug und Rücktritt gipfelte. Doch genau das wies sie laut Gniffke aus als verlässliche, belastbare und engagierte Fach- und Führungspersönlichkeit. Nun leitet sie ein Funkhaus, das nach dem Versagen in der Flutnacht vom 14. Juli, die alleine in Rheinland-Pfalz auch mangels rechtzeitiger Warnung durch den zuständigen SWR 135 Menschenleben kostete, allerhand aufzuarbeiten und zu erklären hätte, dabei aber nur sehr bescheidenes Engagement zeigt. Es zählt vielmehr, dass Frau Fiebig im Mainzer Landesstudio jetzt als Vertrauensperson der Connection der SPD-Landeschefinnen Dreyer und Giffey auf dem Chefsessel sitzt.  

Die neue SWR-Direktorin genießt also schon vom ersten Tag an auch Dreyers Vertrauen und braucht es nicht erst durch plumpe Anbiederung erwerben. Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch die Chemie zwischen ihr und Dreyers Regierungssprecherin stimmt, denn auch sie stammt vom Haussender. Andrea Bähner war im März 2016 kurz nach der Landtagswahl, deren Berichterstattung sie noch für den SWR verantwortet hatte, im Blitztempo in die Staatskanzlei gewechselt und dort eine der engsten Mitarbeiterinnen der Ministerpräsidentin geworden. Dieses Modell gefiel Volker Wissing, damals Vize-Ministerpräsident, so sehr, dass er Almut Rusbüldt vom SWR abwarb, ebenfalls bestens im Stoff, denn sie leitete das TV-Magazin Zur Sache, Rheinland-Pfalz. Der FDP-Mann machte sie zunächst zur Leiterin seines Ministerbüros, später sogar zur stellvertretenden Regierungssprecherin. 

Malu Dreyer denkt taktisch voraus

Die überraschende und um ein Haar quasi aus Versehen erfolgreiche Kampfkandidatur von Grünen-Anhängerin Tina Hassel bei der Wahl des neuen ZDF-Intendanten am 2. Juli 2021 geht übrigens nach vertrauenswürdigen Hinweisen aus der Szene ebenfalls auf Malu Dreyers Konto. Als zuletzt nur noch drei Fernsehräte fehlten, die es auf ihre Seite zu ziehen galt, zog Hassel, aktuell noch Chefredakteurin des ARD-Hauptstadtstudios, großzügig zurück, denn eigentlich sollte dieser Tag nur ihren eigentlichen Coup vorbereiten: Die Nachfolge des glücklosen Tom Buhrow, wenn es spätestens 2024 um den Chefsessel im Kölner WDR-Funkhaus geht. 

SPD-Medienstrategin Dreyer stellte so klar, dass an Tina Hassel kein Weg vorbeiführen wird. Sie hat also das ZDF vor der eigenen Haustür benutzt, um auch Nordrhein-Westfalen und darin den größten und finanzstärksten ARD-Sender als Hoheitsgebiet zu beanspruchen. Sollte die dortige CDU bei der Landtagswahl am 15. Mai in die Opposition geschickt werden, wird die Buhrow-Nachfolge ironischerweise ausgerechnet für Malu Dreyer vollends zum Heimspiel. Der Vorgang zeigt zugleich, wie weit diese Politikerin vorausdenkt, wenn es darum geht, der SPD maximalen Einfluss auf die konkrete, alltägliche Arbeit der öffentlich-rechtlichen Sender zu sichern.  

Nur: Nichts ist auf die Dauer teurer als eine Presse, die ihren Job nicht macht. Sechs Minuten sind es mit dem Fahrrad, keine halbe Stunde zu Fuß. Die Entfernung zwischen dem Mainzer SWR-Landesstudio, ein riesiges Funkhaus mit rund 1500 festen und freien Mitarbeitern, und dem Mainzer Umweltministerium beträgt keine 2000 Meter. Im Landtag selbst sind die Büros nur ein paar Schritte entfernt.

Von diesen 1500 Journalisten will nicht ein einziger, eine einzige mitbekommen haben, dass Frau Spiegel zehn Tage nach der Katastrophe, die Toten waren noch gar nicht alle geborgen, für vier Wochen nach Frankreich in Urlaub fährt? Das kann einem niemand erzählen. Laut Dreyer waren es sogar fünf Wochen, und sie war, ebenfalls nach eigener Darstellung, selbstverständlich vorab von Frau Spiegel über ihre bevorstehende längere Abwesenheit unterrichtet worden, verschwieg es aber neun Monate lang und überließ es Bild am Sonntag, nun die überfällige und finale Information zu liefern. 

Kurt Beck ist kein Vergleichsmaßstab

Das noch viel größere Zweite Deutsche Fernsehen residiert zwar ein wenig entrückt sechs Kilometer südwestlich auf dem Mainzer Lerchenberg, aber man würde auch die dort tätigen Journalistinnen und Journalisten beleidigen mit einer Unterstellung, eine fünfwöchige Abwesenheit der für Klima und Hochwasser unmittelbar verantwortlichen Ministerin in der größten Krise des Bundeslandes sei auch dort unbemerkt geblieben. Lieber lassen sie sich beleidigen mit dem Vorwurf, auch sie hätten genau gewusst, was bei und mit Anne Spiegel im Sommer 2021 läuft, aber aus ideologischen Gründen, Haltung und so, ebenfalls geschwiegen.       

Jede Erklärung, nach der die Bundesfamilienministerin auch und vielleicht sogar vor allem am rauheren Klima, an der härteren, somit professionelleren Herangehensweise der Hauptstadtpresse gescheitert sei, während man in Mainz eher auch mal Fehler verzeihe, geht demgegenüber, wie dargelegt, in die Irre. Der am Wochenende zu lesende Satz Die Hauptstadtpresse dachte nicht daran, Spiegel zu schonen ist empirisch belegbar unzutreffend. Die erste kritische Frage zu ihr und ihrer politischen Zukunft kam in der Bundespressekonferenz ausweislich der Protokolle erst, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war. 
Auch der Vergleich der FAZ mit Kurt Beck und seinem unglücklichen SPD-Vorsitz überzeugt nicht, denn der Mann galt den Mitte-Medien, ganz anders als Anne Spiegel, von Anfang an als provinziell und irgendwie nicht links, nicht spannend, nicht unterhaltsam, nicht sozialistisch-divers-sexy genug. Außerdem war er zu gutmütig, die SPD-Zentrale mit Leuten seines Vertrauens zu besetzen und Querschläger kaltzustellen, woraufhin das Willy-Brandt-Haus gegen ihn arbeitete und ihn schließlich an einem Sonntag am Schwielowsee zu Fall brachte. 

Ein ideologisches Problem

Damit liegt der aktuelle Fall ganz anders. Die entscheidenden Treffer gegen die Grüne Spiegel kamen am 8. März von FAZ (Frankfurt am Main) und Focus (München) mit den Enthüllungen über ihren unsäglichen SMS-Verkehr sowie am 10. April von Bild am Sonntag mit der Schlagzeile 4 Wochen Urlaub trotz der Jahrhundertflut, also aus einem unter linken und grünen Journalisten regelrecht verhassten Verlag. Ohne diese Berichte wäre Frau Spiegel nach wie vor im Amt, obwohl ihre maßgeblichen Fehler dank der Arbeit des Mainzer Untersuchungsausschusses seit mindestens einem Monat bundesweit bekannt und Wort für Wort nachlesbar waren.  Das Problem ist somit kein lokales oder mentales, sondern ein ideologisch-systemisches. Und es ist ein nicht nur theoretisch hochgefährliches. 

Wenn in der Sondersendung des ARD-ZDF-Gemeinschaftsprogramms Phoenix über die Bundesversammlung stundenlang kein einziges kritisches Wort fällt über den vor allem nach eigener Überzeugung einzigen idealen Kandidaten, den Herrn Frank-Walter Steinmeier, dann ist das also keineswegs Zufall, sondern gewolltes Ergebnis sozialdemokratischer Medienarbeit. Wie es auch kein Zufall ist, dass ARD und ZDF wochenlang über die haarsträubenden Fehler und Erklärungsversuche der ehemaligen Umweltministerin Anne Spiegel im Programm nicht unnötig unfreundlich berichten und kommentieren wollten, solange diese noch alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ablenken konnte vom Organisationsversagen der Ministerpräsidentin und den haarsträubenden Fehleinschätzungen und -entscheidungen ihres Innenministers Roger Lewentz, in Personalunion SPD-Landesvorsitzender. 

Die Anstalten hielten durch bewusstes Nichtstun, Schönreden, Umdeuten sogar noch zu Anne Spiegel, als ihre Grünen bereits entnervt aufgegeben hatten, und schwenkten erst genau in jenem Moment um, als nach einem beispiellosen TV-Auftritt ihr Rücktritt auch für die letzten Follower erkennbar unvermeidlich wurde. Noch mehr gilt diese fürsorgliche Ignoranz für das Organisationsversagen der Regierungschefin selbst als unbestreitbar Letztverantwortliche für die Arbeit ihres Mainzer Kabinetts vor, in und nach der Flutnacht. 
Dass die Koblenzer Staatsanwaltschaft bis heute alleine gegen einen überforderten Landrat und einen lokalen Feuerwehrmann ermittelt, aber keinen Anlass sieht, nicht einmal einen Anfangsverdacht, auch Leute wie Dreyer, Lewentz, Spiegel und Staatssekretär Manz zu verhören und endlich Beweise zu sichern, bei denen offensichtlich viel im Argen liegt, weil sie von den Verdächtigen nach Belieben bearbeitet, herausgerückt oder vorenthalten werden, ist ein echter Hammer und undenkbar in einem Land mit funktionierender Presse. Warum tun die Staatsanwälte das? Weil sie es können.  

Es ist ebenso wenig Zufall, wenn die ARD, ohne mit der Wimper zu zucken, eine als Dokumentation verpackte Heiligsprechung der Angela Merkel sendet, ein Stück, über das Michael Hanfeld in der FAZ schreibt: 
Der Film ist in seiner Selbstherrlichkeit erschütternd. Dass die ARD und der MDR ihn nun noch einmal eigens zeigen, ist bezeichnend. Die Ukraine kommt in diesem Film nicht vor, Wladimir Putin spielt keine Rolle, es geht nicht um Nord Stream 2, nicht um die Annexion der Krim, Osteuropa scheint gar nicht existent. In Wirklichkeit wirke eben diese Ex-Kanzlerin wenige Monate nach ihrem Abgang wie tragisch aus der Zeit gefallen, so Hanfeld sinngemäß, eine Tatsache, der dieser Film aber nicht im mindesten gerecht werde: 
Die Bundesregierung wird von den westlichen Verbündeten, von den EU- und NATO-Partnern in Ostereuropa sowieso, als Wackelkandidat wahrgenommen, zögerlich, die Ukraine in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen, zögerlich, sich von Gas und Kohle und Öl, das uns der Kriegsverbrecher und Massenmörder Putin liefert, zu verabschieden. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben 2008 verhindert, dass die Ukraine NATO-Mitglied wurde. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder steht auf Putins Payroll [und] Manuela Schwesig betrieb das Nord-Stream-2-Geschäft bis zuletzt." 

Keine Alleingänge

Und schließlich sind die vielen kleinen, geschickt getarnten Schweinereien und Schmutzeleien der ARD-tagesschau kein Zufall: Nicht direkt falsch berichten, aber wesentliche Informationen weglassen, so dass sich für den Zuschauer zwangsläufig ein völlig schiefes Bild ergibt, etwa, wenn die NATO sich längst für die Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen hat, andere, viel kleinere Länder längst nach besten Kräften liefern, aber der Bundeskanzler weiterhin blockiert mit dem - von der tagesschau mit lobendem Unterton herausgestellten - Argument, er sei ja grundsätzlich aufgeschlossen, aber strikt gegen jeden deutschen Alleingang - der aber seit fünf Wochen stattfindet. Folgt O-Ton seines SPD-Fraktionsvorsitzenden: Ja, ja, deutscher Alleingang, so Rolf Mützenich sinngemäß, das geht natürlich gar nicht, da bin ich aber froh, dass der Kanzler hier so umsichtig ist. 

Wir haben es hier zu tun mit geballter Mikroaggression in Form eines Putin-freundlichen Framings. Egal: Hauptsache, es liegt zu einhundert Prozent auf SPD-Linie. Doch die Dinge sind gerade aus SPD-Sicht durch eine Initialzündung tief im Westen böse ins Rutschen geraten: Den von Roten und Grünen verlangten Rücktritt der NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser mit der anschließenden Breitseite in die Ampelkoalition in Form des dann endgültig ebenfalls unvermeidlichen Rücktritts der überforderten Familienministerin Anne Spiegel, jener Frau, der der Bundeskanzler durch seine Sprecherin Christine Hoffmann drei Stunden zuvor noch ausdrücklich das Vertrauen ausgesprochen und höchst angenehme Zusammenarbeit attestiert hatte. 
Es ist zugleich jene Frau Spiegel, die der Sprecher des Bundeskanzlers zwei Wochen zuvor noch als Opfer einer Kampagne bedauert hatte, die unter anderem der Cicero künstlich und krampfhaft noch irgendwie zu befeuern versuche. Er halte nun einmal, so Steffen Hebestreit in einer persönlichen E-Mail, solche Anfragen journalistisch für unterkomplex und allein von dem Interesse geleitet, ein Thema zu verlängern". 

Nun ist diese Vorzeigefrau der Grünen Geschichte, aber das Thema Hebestreit wird schlau genug sein, das nach dem grottigen Verlauf der Karwoche mindestens zu ahnen könnte jetzt im Gegenteil sogar erst richtig Fahrt aufnehmen, denn es lautet Vertrauen

Heinen-Esser und Spiegel haben ungewollt Maßstäbe gesetzt, an denen auch Olaf Scholz nicht mehr vorbeikommt. Das Vertrauen in seine Minister Christine Lambrecht (Verteidigung), in Karl Lauterbach (Gesundheit), in Nancy Faeser (Inneres)  es erodiert im Zeitraffer, während CDU und Grüne sich nach ihren Niederlagen der jüngsten Tage natürlich immer vernehmlicher die Frage stellen, ob nur ihr Personal eigentlich Konsequenzen zu ziehen hat, während es in der SPD-Abteilung des Kabinetts ungestraft heftigst drunter und drüber geht. 

Dreifach fehlbesetztes Portfolio

Olaf Scholz war also, anders als von fassungslosen Beobachtern vermutet, keineswegs geistig weggetreten, als er der Grünen Spiegel noch am Montagmittag öffentlich jedwede moralische Unterstützung zukommen ließ. Es war auch kein Zynismus, obwohl auch ihm natürlich klar sein musste, dass es für sie nach ihrem Fernsehstatement vorbei sein würde. Nein: Wenn schon eine Kabinettsumbildung unvermeidlich würde, dann sollte die SPD, dann sollte er als Kanzler, der die Entlassung kraft Grundgesetzes auszusprechen hat, nicht einmal ansatzweise daran schuld sein. 

Die Vertrauensbekundung diente allein diesem Zweck, Forderungen nach personellen Korrekturen in seinem mindestens dreifach fehlbesetzten Portfolio bloß keinen Vorwand zu liefern. Ob es etwas nützen wird? Eher nicht. Trotzdem war sein Vorgehen aus SPD-Sicht alternativlos: Man stelle sich vor, der Bundeskanzler entziehe einer grünen Ministerin auch nur in einer Andeutung oder mit einem falschen Blick die Unterstützung, woraufhin sie resigniert und ein paar Tage oder Wochen später ereilen ihn selbst neue schlechte Nachrichten aus den diversen CumEx-Prozessen und -Verfahren, etwa in Form offizieller Ermittlungen gegen ihn. Olaf Scholz wäre noch in derselben Stunde erledigt. 

Weder Malu Dreyers Medienpolitik, die für eine Demokratie lebenswichtige Brandmauern zwischen Politik und Medien systematisch eingerissen hat und damit bis ins höchste Staatsamt hinein Nachahmer findet, noch ehemalige Qualitätsjournalisten in seinen Diensten, die er fast nach Belieben einkaufen konnte, weil nicht einmal der Vorstand der Bundespressekonferenz hier noch ein Problem erkennen mag, vielmehr offenbar inzwischen sogar stolz darauf ist, dass sein Personalangebot so viel staatliches Begehren auslöst, könnten Olaf Scholz dann noch retten. 

Unter Kollegen

Nur deshalb tat der Kanzler so, als sei nichts gewesen. Nur deshalb hatte sein Staatssekretär Hebestreit wenige Tage zuvor noch geglaubt, er könne sich lästige Fragen nach der Unterstützung einer schon zu diesem Zeitpunkt gescheiterten Ministerin verbitten. Und nur deshalb kann Hebestreit auch als Regierungssprecher in seinen regelmäßig dürftigen, wenig erhellenden, größtenteils substanzfreien Antworten auf Fragen von Journalisten, was in seinem Chef eigentlich vorgehe und wie dieser ticke, diese als Kollegen ansprechen, ohne Widerspruch zu ernten. Als hätte nicht bereits vor acht Jahren mit seinem Umzug in das Willy-Brandt-Haus ein fundamentaler Rollenwechsel stattgefunden. Ein Kollege ist laut Definition jemand, der mit anderen zusammen im gleichen Beruf tätig ist". Hebestreit meint also, Journalisten hätten den gleichen Beruf wie er. Das lässt beiderseits tief blicken. 

Diese Distanzlosigkeit ist verkehrt und sie ist heikel. Nicht nur aus Gründen der Berufsehre, sondern auch im Hinblick auf das Wohl des Landes. Manchmal geht es dabei sogar um viele  Menschenleben. Eine Presse, die ihren Job macht, was das Attribut kritisch eigentlich komplett entbehrlich machen sollte, hätte nur ein Beispiel von derzeit Dutzenden die Überforderung der Frau Spiegel, wie sie Anfang letzten Jahres mit der zusätzlichen Übernahme des Umweltministeriums ihrem Höhepunkt entgegenging, samt deren ebenfalls folgenreichen Personalentscheidungen selbstverständlich verhindern müssen und verhindern können. Sie tat es nicht. 

Und nicht nur im Hinblick auf die Rolle der Medien in Rheinland-Pfalz führen die Spuren immer wieder zu Marie-Luise Dreyer. Aber es gehören auch hier immer zwei dazu: Politiker, die es machen, und Journalisten, die es mit sich machen lassen. Manchmal, weil sie sich selbst einen sicheren und deutlich besseren Posten erhoffen, in den Diensten der Regierung oder, oft noch besser, weil dauerhafter und weniger skandalanfällig, einer nachgeordneten Behörde, manchmal aus einer seltsamen Verzagtheit, aus Opportunismus, weil man gemocht werden will und nicht anecken, nicht auffallen", wie es neuerdings abschätzig heißt. 
Beide Motive fressen nach und nach jeden Respekt vor den Medien und ihren Vertretern auf leise, langsam, aber unerbittlich. Es ist aber auch bereits auf mittlere Sicht schlecht für das Ansehen der Politik. Deutschland, Du hast auch hier ein richtig dickes Problem. 

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