SPD-Vorsitz - „Die SPD leidet an Fachkräftemangel“

Endlich hat sich ein Traumpaar für den SPD-Vorsitz gefunden: Gesine Schwan tritt zusammen mit Ralf Stegner an. Aber lohnt sich der Aufwand für den Casting-Zirkus? SPD-Kritiker Nils Heisterhagen rät seiner Partei, ihre Energie lieber in eine nachhaltigere Politik zu investieren

„Die Schöne und das Biest“: Können Gesine Schwan und Ralf Stegner die SPD retten? / picture alliiance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Autor des Buches: „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen.“

Herr Heisterhagen, Sie haben Ihrer SPD in den letzten Monaten viele Hinweise gegeben, was sie richtig machen könnte. Jetzt bewerben sich Ralf Stegner und Gesine Schwan für den Parteivorsitz. Haben Sie jetzt etwas falsch gemacht?
Ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen ratlos. Die SPD muss wirklich angesichts dieses dramatischen Niedergangs, in dem sie jetzt bis zu zwölf Prozent runtergebrochen ist, mal erkennen, dass sie wirtschaftspolitische und sozialpolitische Themen setzen muss. Sie muss diese ganzen identitätspolitischen Debatten wirklich völlig außen vor lassen.

Wie sehr schmerzt es Sie, dass viele jetzt den Eindruck gewinnen, die SPD mache sich gerade nur noch lächerlich?
Mir tut das in der Seele weh. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Es bin ja auch längst nicht nur ich, der der SPD rät, dass sie sich um soziale Sicherheit, um innere Sicherheit und um Wirtschaftspolitik kümmern soll. Es gibt so viele Beobachter und Intellektuelle, die alle sagen: „Hört auf diese liberale Gesellschaftspolitik zu sehr in den Vordergrund zu schieben. Und kümmert euch endlich um die Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus. Kümmert euch aber auch um die Zukunft der Industrie und zeigt, dass ihr eine vernünftige linke Partei seid.“

Wer wäre denn Ihr Traumduo?
Ich beklage eine „Herrschaft des Mittelmaßes“ in der SPD. Also mein Traumduo müsste jedenfalls wissen, wovon es redet. Keine Kandidaten mehr bitte, von denen man ahnt, dass sie es nicht können. Das mit der „Herrschaft des Mittelmaßes“ wurde mir im Übrigen stark um die Ohren gehauen, dass ich es gewagt habe, das auszusprechen. Aber es ist nun mal ein Fakt, dass die SPD-Führungsriege nicht mehr mit Charakterköpfen eines Helmut Schmidt, Karl Schiller oder Willy Brandt gesegnet ist, die wirkliche Kompetenzen auf ihren jeweiligen Feldern haben. Vor allem in der Wirtschaftspolitik ist wirklich etwas verloren gegangen. Es gibt kaum noch einen prominenten Wirtschaftspolitiker in der SPD, was mich jetzt auch selbst bewogen hat, mal einen „Chefökonomen“ der SPD zu fordern. Es ist mir unbegreiflich, wie in einer Debatte über Industriepolitik, die seit Monaten von den führenden Ökonomen dieses Landes geführt wird, kaum ein SPD-Politiker prominent darauf eingehen kann.

Aber wenn keine Charakterköpfe da sind, dann sind nun mal keine da. Was macht man denn dann?
Deswegen sage ich ja, die SPD muss jetzt ein wirklich gutes Personal an die Spitze kriegen.

Nils Heisterhagen 

Die SPD leidet also an einem Fachkräftemangel?
Ja, wenn man das so ausdrücken will. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die klugen Leute vergrault werden. An meiner Geschichte kann man das ja auch sehr schön sehen. Mich hat man ja auch versucht, rauszudividieren. Ich habe den Eindruck, die klugen Leute suchen nicht mehr den Weg in diese Partei. Es ist ihnen zu mühsam. Sie werden beäugt, man gibt ihnen keine Chance. Und in irgendwelchen Hinterzimmerabsprachen werden dann Kandidaten auf Listen gesetzt, die ganz okay sind, aber die die Partei nicht ziehen können. Man braucht aber in der Mediendemokratie Menschen, die überzeugen können. Ich bin einfach traurig, dass sich kaum Menschen finden, denen man diese Parteiführung, aber auch die Kanzlerschaft anvertrauen kann.

Sie sagen, die SPD habe über Jahrzehnte hinweg immer wieder echte Charakterköpfe als Vorsitzende gehabt. Ist die Partei überhaupt die richtige Partei für eine Doppelspitze, oder lässt der Zeitgeist gar nichts anderes mehr zu?
Diese Doppelspitze ist natürlich eine Mode. Die Grünen machen das. Das funktioniert gerade bei denen. Das hat aber auch jahrelang nicht funktioniert. Man denke an Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt. Das war jetzt auch kein Traumduo. Natürlich kann man damit erst mal eine gewisse Breite abbilden. Grundsätzlich hat die Idee Charme. Aber ich finde es ein bisschen irritierend, dass man sich jetzt so darauf versteift, dass es unbedingt eine Doppelspitze aus Mann und Frau sein muss.

Warum?
Es geht um die Existenz der Partei. Es geht darum, dass die besten Leute nach vorne kommen, und es geht nicht um Quoten, Proporz oder sonstigen Kram, der da zur Geltung gebracht wird.

Was halten Sie denn von der diskutierten Konstellation Lars Klingbeil und Franziska Giffey? Kevin Kühnert wird dann Generalsekretär und kann weiter Krawall machen?
Zuletzt habe ich gelesen, dass Frau Giffey wahrscheinlich eher nicht antreten will. Ich weiß es nicht. Umfragen zeigen, dass die Deutschen Sigmar Gabriel und Franziska Giffey als Doppelspitze wollen.

Aber Herr Gabriel hat sich doch offiziell verabschiedet. Er sagt, er tritt nicht mehr an für den Bundestag.
Das muss er selbst entscheiden. Ich bin der Meinung, die SPD braucht eigentlich so jemanden wie Sigmar Gabriel, in welcher Funktion auch immer. Ich habe es für falsch gehalten, dass man ihn aus der ersten Reihe entfernt hat, weil Sigmar Gabriel schon ein großes intellektuelles und politisches Gewicht hat. Das ist jemand, von dem ich sagen würde, er ist immer noch eine treibende Kraft, und man sollte mehr auf ihn hören zumindest. Er sagt viele richtige Dinge. 

Und abgesehen von Herrn Gabriel?
Wenn Boris Pistorius antreten möchte, fände ich das eine gute Lösung. Von ihm kann man erwarten, dass er der SPD in Fragen der inneren Sicherheit ein stärkeres Profil gibt. Man darf aber auch erwarten, dass er als ehemaliger Bürgermeister auch eine gewisse Nähe zu den Menschen zeigen und ihre Alltagssorgen verstehen könnte. Das wäre für mich auch ein Kandidat. Es gibt noch ein paar Bürgermeister in Deutschland, wo man sagen könnte: Warum hat sich da noch niemand gemeldet? Werft doch einfach euren Hut in den Ring. Was habt ihr noch zu verlieren? Ihr werdet doch so leicht auch keine Bürgermeister mehr, wenn eine Bundes-SPD bei zehn Prozent steht.

Welche fielen Ihnen denn da ein?
Jemand wie Sören Link aus Duisburg wäre aus meiner Sicht so ein Kandidat, über den man mal nachdenken könnte. Was ich aber auf jeden Fall empfehlen würde, um auf den Fachkräftemangel der SPD zurückzukommen: Die SPD muss auch versuchen, Köpfe an sich zu binden, die nicht sofort ein Bundestagsmandat oder eine Parteifunktion übernehmen – und trotzdem sichtbar für diese Partei sprechen. Was spricht dagegen, einen Chefökonomen im Willy-Brandt-Haus zu installieren?

Aber der sitzt mit Marcel Fratzscher doch schon im DIW.
Aber er ist nicht offiziell SPD-Chefökonom. Was spricht dagegen, in der SPD-Zentrale endlich wieder eine Wirtschaftsabteilung hochzuziehen? Was spricht dagegen, den sogenannten wirtschaftspolitischen Ausschuss wieder im Parteivorstand zu installieren? Das gab es jahrelang. Wo man sich innerhalb der Parteistrukturen über wirtschaftspolitische Themen verständigt hat. Was spricht dagegen, einen Beirat von Ökonomen für die SPD zu gründen, ähnlich wie die Grundwertekommission der SPD? Das sind alles so Sachen, mit denen sich die SPD jetzt mal auseinandersetzen muss, weil hier existenziell auch die intellektuelle Kompetenz abhandengekommen ist. Früher haben sich Intellektuelle in der SPD wohl gefühlt. Da ist Günter Grass für Willy Brandt auf Tour gegangen, mit dem VW-Bus. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass das einer macht.

Warum nur Intellektuelle?
Ja, die SPD hat auch ein Riesenproblem, Betriebsräte an sich zu binden. Es gibt kaum jemanden, der innerhalb von Gewerkschaften noch für die SPD spricht, und in der Parteiführung sind Gewerkschafter auch kaum mehr vertreten. Früher hingegen waren die sogar mal Bundesminister. Aber heute gibt es kaum prominente Gesichter von der Gewerkschaft, die sich für die SPD engagieren. Das ist ein grober Fehler. Die SPD verliert im Gewerkschaftsmilieu massiv an Stimmen. Und mit Sozialismus-Debatten, das will ich hier anfügen, holt man dieses Milieu nicht zurück. Im Gegenteil: So vergrault man es. 

Müsste der neue Parteivorsitz eine neue „Agenda 2030“ in Angriff nehmen oder – wenn der Begriff Ihnen zu verbrannt ist – ein „Gute-Konjunktur-Gesetz“?
Naja, ich denke die SPD braucht vor 2021 erst mal ein neues Grundsatzprogramm. Das ist existenziell. Die SPD hat Konflikte, die sie spalten. Angefangen bei der Migrations- und Integrationspolitik, wo man bisher nicht über Formelkompromisse hinausgekommen ist. Die natürlich absolut schwammig und nichtssagend sind. Niemand weiß, wofür die SPD in der Migrations- und Integrationspolitik steht. Die hat das völlig verschlafen, völlig vergeigt das Thema. Da muss jetzt eine Klarheit geschaffen werden. Genauso wie in der Wirtschaftspolitik: Was ist mit der Schuldenbremse? Wie steht man zur Frage der Investitionen? Was will man in der Frage der Industriepolitik? Die SPD braucht unbedingt eine industriepolitische Strategie. So schnell wie möglich. Dann muss sie klarer werden in der Sozialpolitik. Was will sie genau? Dann geht es um die Frage Innere Sicherheit. Also will man zum Beispiel massiv in die Polizei investieren? Das würde ich zum Beispiel anraten. Mehr Ausrüstung und Personal der Polizei, das ist nämlich auch starker Staat und Sozialdemokratie. Aber das muss man eben klären. Es gibt Leute in der SPD, die das einfach nicht wollen. 

Warum nicht?
Man verliert sich in den Parteistrukturen und in Angststarre. Funktionäre der Partei klopfen sich selbst auf die Schulter und sagen: „Wir machen doch alles richtig. Uns versteht nur keiner.“ Wenn das so weitergeht, wird die SPD auf zehn Prozent runtergehen. Man muss verstehen, dass die SPD eine immanent wichtige Funktion in unserem Parteiensystem hat, nämlich die untere, die mittlere Mittelschicht und die kleinen Leute zu repräsentieren. Und die haben fundamentale Interessen, und diese Interessen muss man verstehen.

In Thüringen stellt die SPD schon gar keinen Ministerpräsidentenkandidaten mehr auf. Sollte die SPD überhaupt noch einen Kanzlerkandidaten aufstellen?
Mit etwa 10 Prozent bundesweit bräuchte man keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Aber um ein bisschen Hoffnung zu versprühen: Können Sie sich Robert Habeck oder Annegret Kramp-Karrenbauer als Kanzler vorstellen? Ich jedenfalls nicht. Die wären doch beide überfordert. Wenn die SPD also mit einem guten Team und Programm um die Ecke kommt, wäre da durchaus noch was drin. Aber es braucht eben linke Realisten. Nur die haben eine Chance. Die SPD könnte die größte Comeback-Geschichte ever erleben, wenn sie nur den Besten der Besten jetzt die Führung in die Hand gibt. 

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