SPD - Die letzte Chance

Auf ihrem Parteitag am Sonntag bekommt die SPD erstmals eine Frau als Vorsitzende. Mit Andrea Nahles an der Spitze wollen die Genossen die Erneuerung der Partei forcieren. Zu viel Zeit sollten sie sich allerdings nicht lassen

Die Erwartungen an die neue Parteivorsitzende sind gewaltig / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

So erreichen Sie Christoph Seils:

Anzeige

Eines steht schon jetzt fest: Am Sonntag werden die deutschen Sozialdemokraten Geschichte schreiben. Nach 155 Jahren werden sie erstmals eine Frau an die Spitze ihrer stolzen Partei wählen. Nur zwei Genossinnen bewerben sich auf dem Parteitag in Wiesbaden um den SPD-Vorsitz. Und sieht man einmal vom Putsch Oskar Lafontaines 1995 gegen Rudolf Scharping ab, werden die Delegierten darüber hinaus zugleich erstmals bei einer regulären Vorsitzendenwahl zwischen zwei Kandidaten wählen können. 

Das Ergebnis allerdings steht so gut wie fest. Andrea Nahles wird sich bei den 600 Delegierten durchsetzen. Zwar wird die Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion von Simone Lange herausgefordert. Aber der Flensburger Oberbürgermeisterin werden keine Chancen eingeräumt. Die einzige Frage wird sein, wie groß der Rückhalt der Delegierten für Andrea Nahles ist. Wie geschlossen präsentiert sich die SPD nach einem Jahr, in dem sie in eine tiefe Depression gestürzt ist?  

Riss Zwischen Basis und Parteiführung

Man spürt in diesen Tagen den Respekt, den Andrea Nahles vor der sozialdemokratischen Ahnenreihe hat. Sie reicht schließlich von August Bebel über Friedrich Ebert, Kurt Schumacher und Willy Brandt bis zu Martin Schulz. Eine Ahnenreihe, an der die 47-Jährige im Willy-Brandt-Haus regelmäßig vorbei geht. Viel Zeit wird Nahles allerdings nicht haben, um auch genügend Respekt abzulegen ,vor dem Amt und vor den Herausforderungen, die vor ihr stehen. Zwar hat sich die Lage der SPD etwas stabilisiert seit die Große Koalition Mitte März ihre Arbeit aufgenommen hat. Aber sie ist weiter prekär. Die Verunsicherung der Mitglieder ist riesig. 

Der Sturz der SPD auf 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl und die quälenden Monate danach haben offenbart, wie groß die Orientierungslosigkeit der Partei ist. Tiefe innerparteiliche Gräben haben sich in der No-Groko-Debatte aufgetan, nicht nur programmatisch und strategisch, sondern vor allem auch emotional. Tief sitzt das Misstrauen der Basis gegenüber der Führung. Der Schrecken vor allem über den SPD-Parteitag im Januar in Bonn sitzt der Parteiführung noch in den Knochen. Nur eine denkbar knappe Mehrheit der Delegierten stimmte dort nach dem Ende der Sanierung für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen, obwohl alle führenden Bundes- und Landespolitiker geschlossen und mit emotionalen Reden dafür geworben hatten. Viel fehlte trotzdem nicht und die Delegierten hätten ihr gesamtes Führungspersonal vollständig desavouiert. Damit hätten sie die SPD endgültig ins Chaos gestürzt. 

Nahles wird am Erfolg der Erneuerung gemessen

Jetzt gilt es, die Scherben zusammenzukehren. Zwei Jahre will sich die SPD Zeit nehmen für die Debatten über die Erneuerung ihrer Partei. Während die sozialdemokratischen Minister in der Großen Koalition den Koalitionsvertrag abarbeiten, will sich die Partei programmatisch völlig neu aufstellen. Es wir eine Gratwanderung, denn allzu viel Opposition in der Regierung wird sich die SPD nicht leisten können. Den aktiven SPD-Mitgliedern wird dies womöglich gefallen, aber die Wähler goutieren so etwas in der Regel nicht. Und ein wenig Ruhe in der SPD wird erst einkehren, wenn sich die Umfragewerte von unter 20 Prozent wieder auf deutlich über 20 Prozent verbessern.

Dass sie bei der Bundestagswahl unter Wert geschlagen worden sind, davon sind die meisten Genossen überzeugt. Und davon, dass bei der richtigen programmatischen und personellen Aufstellung auch wieder deutlich bessere Wahlergebnisse möglich sind. Sie verweisen darauf, dass die Partei ihr Wählerpotenzial bei der letzten Bundestagswahl nur etwa zur Hälfte ausgeschöpft hat. Von den Schicksalen ihrer Schwesterparteien in Italien, Frankreich oder den Niederlanden, die alle drei in den vergangenen Jahren noch viel tiefer gestürzt sind, wollen sie nichts wissen. Die Erwartungen an die neue Parteivorsitzende sind gewaltig. Am Erfolg der Erneuerung wird ihre Arbeit gemessen werden. Völlig unabhängig davon, wie realistisch die Erwartungen sind. 

Immerhin, den nötigen Freiraum um diese Gratwanderung zu bestehen, hätte Nahles. Als Partei- und Fraktionsvorsitzende ist sie nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden. Aber die Frage ist, hat sie auch einen Plan?

Antworten auf die großen Konfliktthemen sind gefragt

Die Genossen wollen nicht nur neue Beteiligungsformen ausprobieren, sondern die Basis in einem Umfang in die Programmdebatte einbinden wie nie zu vor in ihrer Geschichte. Parteitage sollen in Debattencamps verwandelt werden, auch digital sollen Mitglieder und Sympathisanten der Partei einbezogen werden. Alles wollen die Genossen tun, um die Kluft zwischen der Basis und der Parteiführung wieder zu schließen, um das zerstörte Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Vieles, was sich die Genossen ausgedacht haben, klingt jedoch nach Stuhlkreis und nicht nach Politik. Vor allem eine Strategie ist noch nicht erkennbar. 

Dass die Erneuerung dabei zur Nabelschau werden könnte, zeigt die aktuelle innerparteiliche Debatte über die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens. Sie wird immer noch getragen von dem Trauma der schröderschen Agenda-Politik und wird kaum helfen, ehemalige SPD-Wähler zurückzugewinnen. An die großen Konfliktthemen der Gesellschaft, an denen sich die jüngste Bundestagswahl entschieden hat, traut sich die SPD bislang hingegen nicht heran. Viele führende Sozialdemokraten wissen, dass sich die Partei etwa in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik neu und restriktiver positionieren muss. Bei der Inneren Sicherheit und der Außenpolitik gibt es völlig neue Herausforderungen. Aber allein die Frage des Verhältnisses zu Russland, bei der Außenminister Heiko Maas ganz andere Akzente setzt als sein Vorgänger Sigmar Gabriel, zeigt, welche innerparteilichen Konfliktpotenziale es gleichzeitig gibt. Auch wirtschaftspolitisch hat die SPD kein Profil mehr und keine Antworten auf die industriepolitischen Herausforderungen bei der Entwicklung der E-Mobilität oder dem Ausstieg aus der Braunkohle.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die SPD überhaupt noch Zeit hat, sich zwei Jahre mit sich selbst zu beschäftigen. Schon im Herbst stehen in Bayern und Hessen wichtige Landtagswahlen an. In Bayern kann die SPD eigentlich nur verlieren, in Hessen immerhin ist ein Achtungserfolg möglich. Am 26. Mai kommenden Jahres steht dann die Europawahl an, die traditionell ein Stimmungsmesser ist. Spätestens in zwölf Monaten muss die erneuerte SPD also stehen, bis dahin muss Nahles zeigen, dass sie einen Plan hat. Die Existenzkrise der Partei ist lange noch nicht abgewendet. 

Anzeige