SPD und Martin Schulz - Untrügliches Gespür für das Falsche

Union und SPD haben sich in den Koalitionsverhandlungen im Streit um den Familiennachzug geeinigt. Was Martin Schulz als Erfolg verkaufen will, verschärft in Wahrheit die suizidale Lage seiner Partei. Ihre eigentliche Wählerklientel ignoriert die SPD weiterhin

Martin Schulz: Erst wurde er hochgejubelt, dann reihte sich Fehler an Fehler / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Das klingt jetzt vielleicht etwas drastisch, aber man kann sich schon ein paar grundsätzliche Fragen stellen beim Blick auf das Gebaren der Sozialdemokraten in diesen Tagen, Wochen und Monaten. Kann es sein, dass sich die einstige Volkspartei in ein kollektives Suizidkommando verwandelt hat? Kann es sein, dass sich, gemessen an der derzeit real existierenden SPD, Lemminge an der Klippe wie vernunftbegabte Wesen ausnehmen? 

Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit macht die Partei unter ihrem Vorsitzenden Martin Schulz in jedem Moment des politischen Geschehens das exakt Falsche. Dieses Kunststück vollzieht sie bei näherer Betrachtung schon seit geraumer Zeit. Es ist gerade mal ein Jahr her, da sah sie aus wie die Partei, die das Zeug und die Unterstützung hatte, gegen Kanzlerin Angela Merkel eine Bundestagswahl zu gewinnen. Man muss sich nur mal die Titelbilder einiger Magazine wieder vor Augen führen, (das Cicero-Cover und die damit verbundene Titelgeschichte waren seinerzeit deutlich skeptischer), um sich an diese Aufladung mit Hoffnung zu erinnern. 

Festhalten am Falschen

Doch dann reihte sich Fehler an Fehler. Erst packte Martin Schulz die Amtsinhaberin nicht an ihrer schwächsten Stelle, ihrem Flüchtlings-Blackout 2015. Eine Mischung aus „Naivität“ und „Übermut“ zum Schaden ganz Europas hatte vor einem Jahr der scheidende SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel (der freilich ein gutes Jahr zuvor mit dem „Refugees-Welcome“ Button neben Angela Merkel im Bundestag auf der Kabinettsbank gesessen hatte) bei der Kanzlerin ausgemacht. Doch die implizite und gar nicht mal so subtile Wahlkampfempfehlung Gabriels, sein Schlachtruf, verhallte ungehört in der SPD.

Mehr noch: Stattdessen trägt die SPD inzwischen bei diesem Thema die Fackel weiter, die Merkel längst aus der Hand gelegt hat. Und verbrennt sich dabei ohne Not gehörig die Hände mit ihrem Einsatz für den unbeschränkten Familiennachzug zeitweilig schutzbedürftiger Flüchtlinge in den Koalitionsverhandlungen, den sie am Ende verloren hat. Für den sie aber dennoch steht. 

Emotionen vs. Verstand

Dieser Einsatz für den Familiennachzug ist exemplarisch dafür, dass die SPD ihre eigene Mission missversteht. Die SPD ist eine Partei, in deren Erbgut verankert ist, sich für die Schwachen, deren Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesellschaft und den integrativen Interessenausgleich der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen einzusetzen. Das macht sie sympathisch und wichtig. Das ist ihr Markenzeichen, ihre Herkunft und Bestimmung. Dieser Schutzreflex kann sich aber auch gegen sie wenden.

Das sozialdemokratische Paradox beschreibt Oscar Wilde in seinem Aufsatz über den Sozialismus und die Seele des Menschen (von Karl Kraus gepriesen als „das wahre Evangelium modernen Denkens“).  „Mitgefühl und Liebe zu den Leidenden“, schrieb Wilde 1891, „ist bequemer als Liebe zum Denken.“ Letztlich verkehre sich dieser reflexhaft emotionale Ansatz bei Unbedachtheit ins Gegenteil: „Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand.“ Daher machten sich diese Gefühle „mit bewundernswertem, obschon falsch gerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht. Sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück dieser Krankheit.“ 

Im freien Fall

An diesem Dilemma laboriert die real existierende SPD dieser Tage. Sie nimmt den Rat eines Oscar Wilde nicht an. Jedenfalls nicht unter diesem Vorsitzenden. Durch eine besondere Gabe des dialektischen oder etwas komplexeren Denkens hat sich Martin Schulz bisher nicht hervorgetan. Er hat nicht erkannt, dass er und seine SPD nicht mehr als Interessenswalter ihrer Klientel wahrgenommen werden: die anderen Schwächeren in dieser Gesellschaft.

Deshalb wird die SPD weiter erleben, wie tief und bodenlos der freie Fall einer einst kraftvollen Partei sein kann. Vor knapp einem Jahr bei 40 Prozent in den Umfragen, jetzt bei knapp 18. Die 450.000 Mitglieder stimmen bei dem Entscheid über den Koalitionsvertrag nicht in erster Linie über die Zukunft der Großen Koalition ab. Sie stimmen ab über ihren Vorsitzenden und den Fortbestand der SPD als politische Kraft in Deutschland.     

Zum Thema „Der GroKo-Poker: Letzte Chance für Merkel & Co.?“ diskutiert Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke heute Abend auch in der Sendung „Maischberger“, unter anderem mit Sahra Wagenknecht, Ralf Stegner und Alexander Gauland. Zu sehen um 22.45 Uhr im Ersten.

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