Sorge um die Demokratie - Die schleichende Entfremdung

Seit dem Untergang der Weimarer Republik gilt die Machtübernahme einer totalitären Partei als Hauptgefahr für die Demokratie. Eine anachronistische Analyse. Die wirklichen Gefahren liegen in einem immer engeren politischen Handlungsrahmen.

Die sich aufbauende Ohnmacht ist für die Demokratie gefährlicher als jede Partei / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Der 30. Januar 1933 gilt nicht ohne Grund als der Katastrophentag nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte und darüber hinaus. Das Dramatische dieses historischen Datums und seine fatalen Folgen haben jedoch, auch aus verständlichen Gründen, zu einer etwas vereinfachten Analyse der Gefahren für den demokratischen Staat geführt.

Wie hypnotisiert starren seit Jahrzehnten Politologen und Historiker auf Hitlers Machtergreifung und meinen, darin die Blaupause oder zumindest das Hauptrisiko für demokratische Saaten auszumachen: die Wahl einer totalitären und demokratiefeindlichen Partei mit demokratischen Mitteln.

Aber ist eine solche Gefahr realistisch? Die aktuellen Populismen in Europa mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, ist Unsinn. In den Reihen von FPÖ, Fratelli d’Italia, Rassemblement National, AfD, Fidesz, PiS und Konsorten gibt es zwar Unappetitliches, es gibt Fremdenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus. Schlimm genug. Aber von der hochaggressiven, tödlichen und imperialen NS-Ideologie sind diese Bewegungen weit entfernt. Wer hier Analogien sieht, möge noch einmal den Geschichtsunterricht der Mittelstufe besuchen.

Populismus wurzelt in weitreichenden Entwicklungen der letzten Jahrzehnte

Dennoch können diese Bewegungen – ebenso wie vergleichbare Strömung von links – Demokratien destabilisieren. Allerdings darf man hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Denn es gibt Gründe für das entstehen dieser Bewegungen. Dies gilt umso mehr, als wir es ganz offensichtlich mit einem internationalen Phänomen zu tun haben. Der Populismus wurzelt also nicht ausschließlich in nationalen Gegebenheiten, sondern in weitreichenden politischen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

Da ist zunächst die Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die EU. Denn wenn eine internationale Administration, die demokratisch nur über drei Ecken legitimiert ist, mit Erlassen und Verboten von der Ernährung bis zur Mediennutzung massiv in den Alltag der Bürger eingreift und sogar das Herz jedes Parlamentarismus – das Budgetrecht – untergräbt, dann ist es kein Wunder, wenn immer mehr Menschen den Eindruck haben, es würde über ihre Köpfe hinwegentschieden. Dies gilt umso mehr, wenn Politiker aus Trägheit sich hinter EU-Bestimmungen verschanzen.

 

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In Deutschland wird diese Tendenz durch eine weitere problematische Entwicklung verstärkt: die Verlagerung politischer Entscheidungen auf eine juristische Ebene. Egal ob EU-Bestimmungen, Migration oder Klimapolitik: Immer häufiger müssen die Bürger den Eindruck haben, gegen einzelne politische Entscheidungen könne man mit demokratischen Mittel nichts ausrichten, da das Bundesverfassungsgericht oder gar der Europäische Gerichtshof massiv in die Politik intervenieren.

Flankiert wird diese Lage von sich verschärfenden Verteilungskämpfen – innerhalb der westlichen Staaten, aber auch im globalen Maßstab. Die Gelbwestenbewegung in Frankreich und die Bauernproteste in Deutschland sind nur erste Symptome. Die unter den Stichworten Digitalisierung und Globalisierung zusammengefassten Phänomene führen zum Wegbrechen traditioneller Industriezweige, immer mehr Menschen arbeiten in den Dienstleistungsbranchen der Großstädte, dort werden die Mieten unbezahlbar, die Dörfer hingegen veröden.

Sich abzeichnende finanzielle Überforderung des Staates

Der Staat versucht, den sozialen und ökonomischen Umformungsprozessen mit Sozialtransfers zu begegnen. Breite Schichten leben vom Bürgergeld und anderen Sozialleistungen, ganze Industriezweige werden hoch subventioniert.
Für die bevölkerungsreichen Armutsregionen rund um Europa sind die bröckelnden Wohlstandgesellschaften des Westens aber immer noch hoch attraktiv. Also kommt es zu Massenzuwanderungen von Menschen, die in ihrer Mehrzahl nicht in die Gesellschaft integrierbar sind, aber den ohnehin schon engen Wohnungsmarkt und die strapazierten Sozialkassen weiter belasten.

Die Regierungen, allen voran die Deutsche, versuchen, die gravierender werdenden sozialen Probleme mit Geld zuzukleistern. Faktisch werden bedingungslose Grundeinkommen eingeführt. Zusammen mit Projekten wie der Energiewende oder militärischer Aufrüstung werden so die Staatshaushalte Makulatur. Die sich abzeichnende finanzielle Überforderung des Staates wird die sozialen Konflikte weiter deutlich anheizen.

Frustration ist die wahre Gefahr für die Demokratie

Die Politik aber ist unfähig, darauf zu reagieren. Eine gefährliche Mischung aus sozialpolitischem Opportunismus, rechtlichen Zwängen, EU-Vereinbarungen, internationalen Abkommen und ideologischen Selbstblockaden lähmt die politisch Verantwortlichen. Unterstützt von nahestehenden Medien, Institutionen und Organisationen, kapselt man sich ein. Die Probleme aber löst man damit nicht. Immer größere Teile der Gesellschaft bis weit in die Mittelschicht hinein entfremden sich von der Demokratie, da man – nicht ohne Grund – den Eindruck hat, es sei ohnehin egal, wer regiert.

Die eigentliche Bedrohung für die Demokratien in Europa geht daher nicht von den Populisten aus – die tragen als Ventile eher zu deren Entlastung bei. Die wirkliche Herausforderung liegt in der zunehmenden Entfremdung großer Teile der Bürger von erstarrten politischen Institutionen und Strukturen, die den Realitäten des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen sind. Die sich hier aufbauende Ohnmacht und Frustration ist für die Demokratie gefährlicher als jede Partei oder Strömung.

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