Sondierungsgespräche - Am Anfang war das Schachern

Am Beginn jeder Sondierungsverhandlung steht nicht die Einigung auf Inhalte, sondern die Aufteilung der Ministerien unter den möglichen Koalitionspartnern. Das widerspricht zwar einem gängigen Klischee, ist aber nicht anrüchig, sondern verantwortungsvoll.

Sondierungsgespräche zwischen FDP und Bündnis 90 / Die Grünen / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Als vor wenigen Tagen Grüne und FDP selbstbewusst verkündeten, sie würden zunächst einmal miteinander sprechen, bevor Union oder SPD bei ihnen eine Audienz erhalten könnten, war das politische Berlin irritiert. Für gewöhnlich ist es nämlich umgekehrt: Der Wahlsieger bestimmt nicht nur inhaltlich die Koalitionsagenda, sondern auch terminlich. Diesmal aber ist alles anders. Und das hat seinen Grund.

Als auf Instagram nach dem ersten Treffen ein Bild der Spitzenpolitiker von Grünen und FDP die Runde machte, war der Auftakt zum Ablenkungsmanöver geglückt. Man hätte „Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes“ ausgelotet und sogar welche gefunden. Ein großer Teil der medialen Öffentlichkeit fiel auf diese Inszenierung herein. Man mutmaßte, beide Parteien hätten sich wohl vor allem über Inhalte verständigt. Was ein Irrtum!

Es ist unter Eingeweihten ein offenes Geheimnis, wie Koalitionsverhandlungen tatsächlich ablaufen. Die Präferenzen für eine Koalition stehen in aller Regel schon am Wahlabend fest. Die Entscheidung fällt, wenn noch vor Schließung der Wahllokale die ersten Hochrechnungen in den Parteizentralen eintreffen. Alles andere ist eine mögliche, aber seltene Ausnahme - und eher Ausdruck mangelnder Professionalität.

Trotzdem müssen die Verhandlungsführer sowohl gegenüber der eigenen Partei als auch der Öffentlichkeit über Wochen hinweg so tun, als sei alles immer noch offen und als entschieden am Ende allein die Inhalte über eine Koalition. Am Arsch die Waldfee!

Das Spiel mit der Öffentlichkeit

Insbesondere der Wahlsieger muss alles in der Schwebe halten, weil er so ein doppeltes Spiel spielen kann. Einmal gegenüber der eigenen Partei: Denn freilich beinhalten die Regierungsprogramme, insbesondere bei Parteien des linken Spektrums, zahlreiche Sehnsüchte der Basis, deren Umsetzung ganz und gar unrealistisch ist. Die Parteispitze konnte sich dem aber nicht wirksam widersetzen, ohne bei den eigenen Parteimitgliedern in Misskredit zu geraten.

Also werden so manche Flausen von Parteitagen munter ins Regierungsprogramm gehievt, um dann bei Koalitionsverhandlungen hinter verschlossenen Türen wieder fallen gelassen zu werden. In die Schuhe kann man das dann immer den Verhandlungen und dem künftigen Koalitionspartner schieben. Und je unübersichtlicher für die eigene Parteibasis die Lage ist, um so glaubwürdiger klingt die anschließende Erklärung der Parteiführung, wie heroisch man doch für das eigene Programm gekämpft hätte - aber leider, leider…

Auch gegenüber der Öffentlichkeit muss aus zwei Gründen stets alles so aussehen, als wäre ohne konkrete Einigung über die Inhalte nichts ausgemacht. Ginge es offiziell umgekehrt erst um die Ministerien und das Personal, geriete das ganze Unterfangen bei den Wählern schnell in den Misskredit der Postenschacherei und Machtpolitik. 

Und diese Inszenierung hilft dem Wahlsieger zugleich dabei, seine möglichen Koalitionspartner zu verunsichern und während der Sondierung zu Zugeständnissen zu verleiten. Es ist nichts anderes als ein spieltheoretisches Arrangement, wie das Reizen beim Skat.

Erst die Macht, dann die Inhalte

In Wahrheit ist es natürlich umgekehrt. Am Anfang jeder Sondierung steht nicht die Einigung auf Inhalte, sondern die Aufteilung der Ministerien unter den möglichen Koalitionspartnern. Aber das bemerken die meisten Verhandlungspartner nicht einmal selbst. 

Diese machtpolitische Grundentscheidung wird nämlich für gewöhnlich ganz geheim zwischen den Spitzenkandidaten ausgehandelt. Nur sie wissen davon. Bestückt mit diesem Wissen lenken sie dann auch ihre eigene Verhandlungsgruppe Stück für Stück in die richtige Richtung, die ohnehin längst verabredet ist.

Aus jeder Sondierungsrunde gehen daher immer mindestens zwei Papiere hervor: eines für die Öffentlichkeit, dem man die inhaltlichen Eckpunkte einer möglichen Koalition entnehmen kann, und ein zweites zur Regelung der Frage der Aufteilung der Macht. Von Letzterem gibt es nur so viele Exemplare wie Spitzenkandidaten. Und sie erblicken nie das Licht der Öffentlichkeit, weil das Spiel ansonsten zum Schaden aller aufflöge.

Dass Christian Lindner, Volker Wissing, Annalena Baerbock und Robert Habeck daher vor wenigen Tagen in erster Linie über inhaltliche Schnittmengen gesprochen haben sollen, ist kaum zu glauben. Alle wissen ohnehin schon voneinander, was sie politisch denken. Es dürfte eher darum gegangen sein, den spieltheoretischen Spieß einfach umzudrehen und mit der Machtaufteilung zu beginnen.

SPD in der Zange

In den Sondierungen um eine Ampel kann es nämlich genau zwei Konstellationen geben: Entweder spielt die SPD als Wahlsieger Grüne und FDP gegeneinander aus und zwingt sie so beide zu Zugeständnissen. Oder Grüne und FDP verbünden sich im Vorfeld der Sondierungen gegen die SPD, um ihr genau diese Waffe aus der Hand zu nehmen. Und das alles gälte ebenso für den ganz unwahrscheinlichen Fall einer Verhandlung über eine Jamaika-Koalition.

Da eine Wiederauflage der Großen Koalition mit der SPD-Basis kaum zu machen sein wird, ist Olaf Scholz der Ampel ausgeliefert. Und das stärkt wie von selbst die Verhandlungsposition von Grünen und FDP. Wenn sie sich denn gemeinsam unterhaken! Zumindest die Ministerien für Außenpolitik und Finanzen, Umwelt und womöglich Digitales dürften daher schon längst verteilt sein. Und wahrscheinlich nicht nur die.

Machtpolitik: Eine Frage der Inhalte

Dass das geheime Schachern um Macht und Posten immer am Anfang aller Sondierungen und Koalitionsverhandlungen steht, ist dabei nicht nur unvermeidlich, sondern vernünftig. Papier ist bekanntermaßen geduldig und nicht alles, was in Koalitionsverträgen niedergeschrieben wird, hat auf Dauer Bestand. Politik besteht eben auch und vor allem darin, ganz unvorhersehbare Herausforderungen zu bewältigen. Die letzten zehn Jahre können ein Lied davon singen: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise.

Wer dafür gut gerüstet sein und am Ende seine Inhalte auch tatsächlich durchsetzen will, muss sich folglich frühzeitig die entscheidenden Machtinstrumente sichern - und das sind nun einmal die Ministerien. Politische Inhalte finden ohne politische Macht nun einmal nicht den Weg in die Wirklichkeit. Die Machtverteilung zumindest zeitlich vor die Einigung über Inhalte zu stellen, ist daher nicht anrüchig, sondern verantwortungsvoll.
 

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