Shutdowns und Coronakrise - Wege aus dem Wachkoma

Wie lange kann Deutschland es sich leisten, seine Wirtschaft herunterzufahren? Fakt ist: Je tiefer die Rezession wird, desto mehr leidet auch das Gesundheitssystem. Mit Absolutismen werden am Ende alle verlieren.

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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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In der Verhaltensökonomie gibt es das Phänomen der „sunk cost fallacy“. Dabei geht es darum, dass Menschen dazu neigen, ein Vorhaben unbedingt fortzusetzen, wenn bereits irreversible Kosten entstanden sind. Ein trauriges Beispiel dafür ist der vermurkste Flughafenneubau in Berlin: Wahrscheinlich wäre es deutlich günstiger gewesen, das ganze Projekt zu beenden und an anderer Stelle neu zu beginnen, als vor bald neun Jahren die eklatanten Mängel offenbar wurden. Aber weil man eben schon so viel Zeit und Mühen und Geld in den BER investiert hatte, wird bis heute daran weitergebastelt. Es handelt sich also um ein irrationales Verhalten: Wider besseres Wissen wird der eingeschlagene Weg fortgesetzt, um sich selbst über das eigentliche Scheitern hinwegzutäuschen.

Womit wir bei einem sehr aktuellen Problem wären. Der Frage nämlich, wann und wie das soziale und wirtschaftliche Leben in Deutschland wieder hochgefahren werden soll. Eines steht jedenfalls fest: Der Lock- und Shutdown hat bereits zu immensen Schäden geführt, deren ganzes Ausmaß den meisten Bürgern wahrscheinlich noch nicht ansatzweise klar ist. Wir sprechen von einer Katastrophe für die Bildung wegen der Schulausfälle, wir sprechen von einer weitgehend verschwiegenen Explosion an häuslicher Gewalt. Und wir sprechen von einer bevorstehenden Rezession, bei der völlig unklar ist, ob Deutschland, ob Europa sich überhaupt jemals davon vollständig werden erholen können. Die jetzt schon entstandenen Kosten des Herunterfahrens vitaler Lebensbereiche unserer Gesellschaft sind mithin unermesslich. Dagegen ist der Berliner Flughafen ein Klacks.

Lieber schießt man übers Ziel hinaus

Genau daraus erwächst aber ein politisches Problem der extremen Art. Wenn der eingeschlagene Weg jetzt abrupt geändert und damit in Deutschland wieder Hochbetrieb herrschen würde, wären die Shutdown-Kosten ja dennoch entstanden – und die Regierung müsste sich die Frage gefallen lassen, ob man sich die wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen nicht besser ganz hätte sparen sollen. Gleichzeitig würde die Gefahr bestehen, dass die Pandemie erst so richtig Fahrt aufnimmt und am Ende neben dem wirtschaftlichen auch noch ein gesundheitliches Desaster passiert. Andererseits darf die Politik auch nicht dem „Trugschluss der versunkenen Kosten“ aufsitzen und den Weg der wirtschaftlichen Lähmung nur deswegen weitergehen, weil der Preis dafür schon bis hierher derart hoch war, dass eine Umkehr dem Eingeständnis des Scheiterns gleichkäme.

Der bisherige Verlauf der Coronakrise bietet ohnehin viel Anschauungsmaterial für (massen-)psychologische Effekte mit hoher Fehleranfälligkeit. Da wäre nicht zuletzt die Tatsache zu nennen, dass der harte Kurs der bayerischen Landesregierung zur Bekämpfung der Pandemie einen Nachzüglereffekt bei den anderen Bundesländern auslöste, der mit wissenschaftlicher Expertise eher wenig zu tun hatte. Denn natürlich will kein deutscher Ministerpräsident auch nur das geringste Risiko eingehen, womöglich nicht genug zum Schutz von Corona-Risikopatienten getan zu haben. Lieber schießt man übers Ziel hinaus – mit dem Ergebnis, dass in Mecklenburg-Vorpommern Ferienhausbesitzer sogar dann des Landes verwiesen werden, wenn ihre Immobilie in völlig abgelegenen Landstrichen steht. Rational ist das nicht zu begründen. Aber Politik ist bekanntlich nicht immer eine vernunftbasierte Veranstaltung.

Kurz als Vorbild für Merkel?

Der Nachzügler-Effekt könnte jetzt allerdings in die entgegengesetzte Richtung wirken. Seit der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündet hat, erste Lockerungen für sein Land zuzulassen (von nächstem Dienstag an dürfen dort kleine Läden sowie Bau- und Gartenmärkte wieder öffnen, ab Anfang Mai alle Geschäfte), steht die deutsche Bundesregierung unter Druck. Die Bild-Zeitung feierte Kurz auf ihrer Titelseite bereits als Anti-Shutdown-Helden und Vorbild für Angela Merkel. Die wiederum will sich nicht von einem kleinen Nachbarland in Zugzwang setzen lassen und wiegelt erst einmal ab. Dabei ist natürlich allen Beteiligten klar, dass schon sehr bald ein Ausweg aus dem ökonomischen Wachkoma gefunden werden muss, um ein Absterben des Wirtschaftsstandorts namens Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Um den Raum für irrationale Entscheidungen möglichst zu verengen, sollte die Öffentlichkeit, sollten die Medien den politischen Entscheidungsträgern allerdings auch Spielräume für „trial and error“ zugestehen: Schlimmstenfalls müssen Lockerungsmaßnahmen auch wieder zurückgenommen werden können, ohne dass das skandalisiert wird. Insofern sind entsprechende Vorstöße von Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen ein Signal, das schnell Nachahmer under den Ministerpräsidentenkollegen finden dürfte.

In einem Interview mit der FAZ sagte Kanzleramtsminister Helge Braun vor wenigen Tagen, die Vorstellung, dass man in Deutschland vielleicht bald manche Kranke nicht mehr versorgen können, weil die Zahl der Infektionen hochschießt, „ist so schwerwiegend, dass ich sage: Das Wichtigste ist zunächst, dass wir das vermeiden. Dahinter steht die Wirtschaft erst mal einen großen Schritt zurück“. Braun, der übrigens selbst Mediziner ist, wird sich seinen Satz sehr gut überlegt haben. Aber natürlich gilt auch, dass die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitssystems in erheblichem Maße von einer funktionierenden Wirtschaft abhängt. Es fragt sich also, welchen Zeitraum Helge Brauns Formulierung von wegen „erst mal“ umfassen kann, und wie groß der „große Schritt“ tatsächlich sein darf, damit die Abwägung nicht völlig aus dem Lot gerät. Eine Antwort darauf ist zugegebenermaßen alles andere als einfach. Trotzdem muss die Frage gestattet sein.

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