Recherchen zu Nord Stream 2 - Blubbernde Colts

Wer hat die Nord-Stream-Pipelines sabotiert? Erst gab es hierüber nahezu kein Wissen, mittlerweile weiß man viel zu viel. Selbst Seymour Hersh prahlte jüngst einmal mehr mit neuen Erkenntnissen. Dabei verunreinigen zu viel Spuren nur den Tatort.

Gasaustritt aus Nord Stream 1 / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Manchmal geschehen ja komische Dinge. Im Film zum Beispiel. Man denke nur an Louis Malles Klassiker „Fahrstuhl zum Schafott“: Julien Tavernier, leitender Angestellte in einem Pariser Rüstungskonzern, versucht in diesem Schwarzweiß-Streifen von 1958, seinen Chef Simon Carala umzubringen. Als sich Tavernier mithilfe eines Wurfankers und eines daran befestigten Seils Zutritt zu dem eine Etage höher befindlichen Büro seines Chefs verschafft und ihn dort erschießt, vergisst er auf der späteren Flucht Seil und Wurfanker am Tatort. Alles verweist fortan auf ihn als Täter. Es ist die legendäre „Smoking Gun“, von jedem Kriminellen gefürchtet, aber hoch geschätzt bei sämtlichen Detektiven und Kommissaren – zumindest denen aus dem Kino.

Doch was als Schlüsselmotive in unzähligen Krimis und Thrillern vorkommt, das hat in der kriminalistischen Wirklichkeit für gewöhnlich wenig Platz. Menschen, und das ist ja eigentlich eine gute Nachricht, sind im richtigen Leben meistens gar nicht so vertrottelt wie im Film – auch nicht kriminelle Menschen.

Anders wäre es auch nicht zu erklären, dass laut einer immer noch aktuellen Studie der Universität Münster jeder zweite Mord in Deutschland bereits von Grund auf unentdeckt bleibt. Und die Aufklärungsquote bei zumindest aktenkundig gewordener Sachbeschädigung oder Straftaten gegen die Umwelt ist noch weit miserabler. Nur gut die Hälfte aller Vergehen gegen gesetzlich geschützte Umweltgüter etwa wird am Ende aufgeklärt.

Name, Anschrift und Gesicht

Da ist es also gut, wenn man bei derart schleppenden Ermittlungen von Fall zu Fall mal etwas nachhilft. Zum Beispiel, indem man die Sachlagen aus der cineastischen oder literarischen Fiktion mit denen aus der deutschen Kriminalstatistik kurzschließt. Sagen Sie jetzt bitte nicht, das habe etwas Unredliches. Am Ende will man als unbescholtener Bürger doch eigentlich eh nur eine gute und schlüssige Geschichte lesen – egal, ob die nun in der Tageszeitung oder in der Hardboiled Fiction abgedruckt ist.

Und so gibt es mittlerweile reale Verbrechen, bei denen weiß man vor lauter rauchender Colts nicht mehr, wo man mit seinem sterilen Ganzkörperanzug am Tatort überhaupt noch hintreten soll. Meistens sind dies Straftaten von mindestens nationaler Tragweite. Terroristisch motivierte Morde zum Beispiel oder Anschläge gegen die Infrastruktur eines Landes. Was wurden da nicht in der Vergangenheit schon für komische Dinge am Ort eines Verbrechens gefunden: Reisepässe, Behördendokumente, Personalausweise. Ganz so, als wollten besonders politisch motivierte Täter jene alte Einsicht aus Brechts „Kriegsfibel“ bestätigen, nach der „die dunklen Mächte, die dich da schinden, Name, Anschrift und Gesicht“ besitzen. 

Wären wir nicht so unglaublich vergesslich, wir würden es kaum glauben: Bei den Attacken auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo etwa soll der später getötete Terrorist Said Kouachi seinen Personalausweis doch glatt im Fluchtwagen vergessen haben. Ein Jahr später, beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, hat der später in Italien erschossene Terrorist Anis Amri doch tatsächlich seine Duldungsbescheinigung im Fußraum unter dem Fahrersitz verlegt. Und beim Anschlag auf das Pariser Bataclan wiederum, im November 2015, wurde bei einem Täter, der nach dem mehrfachen Mord mit einem Sprengstoffgurt aus dem Leben schied, am Ende ein zwar gefälschter, aber immerhin unversehrter Ausweis sichergestellt.

Komische Dinge

Am rätselhaftesten aber ist wohl diese Geschichte: Da soll doch tatsächlich am 11. September 2001 ein bis heute unbekannter Passant nur einen Block vom damals noch nicht eingestürzten World Trade Center entfernt ein Visum bei der New Yorker Polizei abgegeben haben, das zu dem saudischen Terroristen Satam al-Suqami gehörte; zu just jenem Massenmörder also, der zum selben Zeitpunkt seinem Leben einige hundert Meter oberhalb vom Fundort ein brutales Ende setzte.
 

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Dinge gibt’s, die gibt’s gar nicht. Und weil das Leben eben oft so merkwürdig ineinander verschachtelt ist, spekulieren Psychologen, Journalisten und natürlich auch Forensiker immer wieder darüber, wieso gerade Terroristen dazu verleitet werden, eine Art gut leserliche Visitenkarte am Tatort zu hinterlassen. Vernünftige Antworten auf diese Frage gibt es bis heute nicht. Die einen Experten sprechen von Prahlerei, die anderen stehen vor großen Rätseln. So bleibt am Ende wohl nur eine auffällige Häufung von Einzelfällen.

Als interessierter Hobby-Sherlock-Holmes hat man sich also gar nicht mehr gewundert, als Anfang März verschiedene Medien wie die New York Times, Die Zeit und der SWR darüber berichteten, dass Angehörige einer sechsköpfigen proukrainischen Gruppe angeblich zunächst die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 in die Luft gesprengt und anschließend ihre Ausweispapiere auf einer in Polen gemieteten Segelyacht vergessen hätten. So sind sie halt, die Terroristen! Was soll man sich da noch den Kopf zerbrechen?

Neue Recherchen von Seymour Hersh

Und so klang die Geschichte zwar irgendwie komisch, aber komische Dinge ist man ja längst gewohnt. Nur einen gab es, den hat der gewöhnliche Lauf des Terroraktes keine Ruhe gelassen: den amerikanischen Investigativjournalisten Seymour Hersh. Nachdem der bereits im Februar eine Recherche vorgelegt hatte, die beweisen sollte, dass die Biden-Administration hinter dem Anschlag auf die seit langem umstrittene Gas-Pipeline zwischen dem russischen Vyborg und dem deutschen Lubmin gestanden habe, konnte der die interessante Geschichte von der ominösen Gruppe aus fünf Männern und einer Frau, die den deutschen und amerikanischen Journalisten angeblich von Quellen aus den Ermittlungsbehörden und den Geheimdiensten zugesteckt wurde, nicht recht glauben. 

Vor gut einer Woche legte Hersh daher bei seinen eigenen Recherchen noch einmal nach. In einem neuen Beitrag, der, wie schon der erste, aus der Feder des mittlerweile 85-jährigen Pulitzer-Preisträgers auf dessen eigenem Blog erschien, blieb Hersh nicht nur bei seinen bereits im Februar geäußerten Vorwürfen gegen die US-Regierung. Er lieferte auch neue Hinweise auf eine Mitwisserschaft des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) – und ging dann am Ende hart ins Gericht mit der Pipeline-Geschichte der Konkurrenz: „Ein Lügenmärchen aus amerikanischen Geheimdienstkreisen, das an deutsche Medien weitergereicht worden ist“, sei laut Hersh und eines nicht näher benannten Informanten aus US-Geheimdienstkreisen die Geschichte um die freiberuflichen Saboteure und deren vergessenen Ausweispapiere auf der Privatyacht. Eine Ente, in die Welt gesetzt, um Hershs eigene Geschichte vergessen zu machen.

Die Belege, die der einstmals gefürchtete Enthüllungsjournalist Seymour Hersh für diese Behauptung liefert, sind dünn. Ebenso dünn sind aber auch die Quellen hinter der Geschichte der New York Times und des deutschen Rechercheverbundes. Seymour Hersh verweist in seinem Blog-Beitrag auf ein in der Tat interessantes Interview mit dem Times-Journalisten Julian E. Barnes, in dem letzterer sehr offen darüber spricht, dass er sich in seinen Recherchen einzig auf Geheimdienstquellen gestützt habe. Barnes könne sich daher selbst nicht sicher sein, ob die Angaben seines Artikels überhaupt stimmten. Offen spricht er zudem von „Spekulation“ sowie darüber, dass die proukrainische Gruppe auch für ihn am Ende mysteriös bleibe. 

Viel Rauch um nichts?

Kurz: Man weiß immer noch nichts Genaues über die Täter und die Hintergründe der Sabotage. Ein paar Ausweispapiere, ein möglicherweise ehrverletzter älterer Journalist – und seit Ende der vergangenen Woche ist auf Grundlage russischer Hinweise auch noch eine merkwürdige leere Seerauchboje zu den unerklärlichen Personen und Dingen gekommen, die das Rätsel um die Ostsee-Pipeline immer verrückter erscheinen lassen. Dänische Behörden hätten demnach nahe der Insel Bornholm ein zylinderförmiges Objekt geborgen, das sich direkt neben der Pipeline befunden habe. Eine Meldung, die interessanterweise kurz nach der Nachricht eintraf, wonach wenige Tage vor den Anschlägen angeblich ein russischer Schiffsverband in der Nähe des späteren Tatorts gesichtet worden sei. 

Rauchende Schiffe, rauchende Bojen, rauchende Colts. Und doch scheint nicht überall da, wo Rauch ist, auch wirklich Feuer zu sein. Je mehr Geheimdienste, Journalisten und Regierungen am Ort der Sprengung zündeln, je geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man das Rätsel um die zerstörten Gasröhren je wird in Gänze aufklären können. Und das wiederum bringt uns noch einmal zurück zu Julien Tavernier, den etwas vertrottelten Mörder aus Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“. Der stolpert letztlich nämlich gar nicht über seine am Tatort vergessene „Smoking Gun“. Es ist eher der hilflose Versuch, die gegen ihn sprechenden Beweise noch einmal aus der Welt zu bekommen, der ihm in den letzten Minuten des Filmes das Genick bricht. 

Verspielte Glaubwürdigkeit

Ähnlich könnte es jetzt auch bei Nord Stream sein. Je länger die Aufklärung auf sich warten lässt, je mehr bekommt man den Eindruck, dass jeder neue Hinweis nur deshalb in die Welt gekommen ist, um mit ihm einen früheren Hinweis vergessen zu machen. Die rauchenden Revolver jedenfalls sind mittlerweile derart zahlreich, dass man es gar nicht mehr glauben mag. Und am wenigsten ist man noch geneigt, Journalisten etwas abzukaufen, die sich in ihren Recherchen ausschließlich auf amerikanische Geheimdienste oder gar auf den Bundesnachrichtendienst (BND) beziehen.

Hatte nicht jüngst erst eine parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung ergeben, dass selbiger BND es notfalls sogar für geboten hielte, Honorare an Journalisten zu zahlen – Gelder also, deren Höhe man aus Gründen des Staatswohls aber leider nicht benennen wolle? Kooperationen des BND, so die Bundesregierung in der bemerkenswerten Drucksache 20/5437, seien nämlich „besonders schützenswert“.

Nun sei damit natürlich nicht gesagt, dass die Nord-Stream-Recherchen von Zeit, SWR oder New York Times im Auftrag eines Nachrichtendienstes ans Licht gekommen sind. Fakt ist aber: Man wird das Gegenteil nicht ausschließen können, solange Medien und Journalisten ihrerseits die Beziehung zu den Geheimdiensten für derart schützenswert halten, dass sie in Sachen dubioser Honorarzahlungen nicht endlich selbst für Aufklärung sorgen. Und ist das Vertrauen erst einmal hin, muss man sich nicht wundern, wenn die Bürger immer mehr dazu neigen, die verrücktesten Geschichten zu glauben. Geschichten, in denen am Ende vielleicht sogar die eigene Regierung ihre Finger im Spiel hatte, als es am 26. September 2022 einige Kilometer vor der Küste Bornholms so merkwürdig zu blubbern begann.
 

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