Sahra Wagenknecht im Interview - „Erfolgreiche linke Parteien sind auch konservativ“

Für Sahra Wagenknecht geht der Kampf immer weiter. Inzwischen ist es ein Zweifrontenkrieg: gegen das Großkapital, aber vor allem gegen die Linksliberalen in den eigenen Reihen. Was ihr bleibt, ist der Glaube, dass sich die Welt zum Besseren verändern lässt.

Sahra Wagenknecht spricht im Interview über die Probleme des Linksliberalismus / Julia Steinigeweg
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Frau Wagenknecht, sind Sie nicht eigentlich eine historisch völlig unwahrscheinliche Erscheinung? 

Sahra Wagenknecht: Weshalb?

Vor 30 Jahren lösten Sie mit Ihrem Aufsatz „Marxismus und Opportunismus“ eine Stalinismus-Debatte aus. Sie bezeichneten Lenin als „historisch im Recht“ und Stalins Politik als „prinzipientreue Fortsetzung“ des leninschen Weges. Sie galten fortan als „Stalin-Versteherin“ und verloren sogar Ihren Posten im PDS-Parteivorstand. Aus dieser Zeit stammt auch Ihr besonderes Verhältnis zu Gregor Gysi. Hätte Ihre politische Karriere nicht eigentlich schon damals beendet gewesen sein müssen? Stattdessen stiegen Sie zu einer der bedeutendsten politischen Linken der Republik auf. 

Na ja, ich war damals eine junge Frau von Mitte zwanzig und voller Trotz. Zu DDR-Zeiten habe ich das System kritisiert und durfte deshalb im SED-Staat nicht studieren. Als die DDR untergegangen war, nervte mich der Opportunismus der vorher Systemtreuen, die sich plötzlich um 180 Grad gewendet hatten. So, wie die plötzlich alles an der DDR schrecklich fanden, hatte ich das Gefühl, als Linke müsste ich jetzt alles schönreden. So nach dem Motto: „Über einen toten Onkel sagt man nichts Schlechtes.“ Damals ist auch dieser Aufsatz entstanden. Das Lob von Erich Honecker hält sich allerdings in Grenzen.

Sie verteidigten damals vielmehr Ulbricht und Stalin gegen Honecker und Gorbatschow. 

Ich habe Stalins Verbrechen nie verteidigt. Aber es stimmt schon, insgesamt hatte ich damals Auffassungen, von denen ich mich zum Glück sehr bald verabschiedet habe. Aber fragen Sie mal andere Politiker, was die mit zwanzig so gedacht und geredet haben …

Verdanken Sie anschließend nicht kurioser­weise ausgerechnet dem Westen der Republik Ihre politische Wiederauferstehung?

Politisch zurückgemeldet habe ich mich jedenfalls mit einer Bundestagskandidatur in Dortmund, die natürlich nicht aussichtsreich war. Bis heute haben wir im Westen keine Direktmandate, und die PDS hätte nie eines gewonnen. Durch öffentliche Auftritte und erste Bücher wurde ich dann allmählich bekannt und konnte mich auch deshalb 2004 in einer Kampfkandidatur zur Wahl für das Europaparlament durchsetzen. 

Im Grunde sind Sie doch aber wieder in Ihren alten Status zurückgekehrt. Sie genießen zwar öffentliche Anerkennung, sind in der eigenen Partei aber höchst umstritten. Das geht teils bis in tiefe Verfeindung hinein. Ziehen Sie Streit an?

Nein. Ich bin kein streitlustiger Mensch. Im Gegenteil, innerparteiliche Rangeleien nerven und langweilen mich. Aber wenn man klare Positionen vertritt, dann eckt man halt auch an. Ich glaube, die einzigen Politiker, die nie umstritten sind, sind diese soften Gummibärchen, die sich jederzeit in jede Richtung verbiegen können.

Für manche Zeitgenossen sind Sie eine „Rechte“. Das könnte an zwei Punkten liegen. Beim Thema Migration ist Ihr Bild vom Menschen nicht sonderlich optimistisch, eher nachdenklich: Sie verweisen auf soziale wie kulturelle Grenzen der Belastung im eigenen Land, aber auch auf Folgewirkungen in den Herkunftsländern. Außerdem sehen Sie die Globalisierung kritisch. Seit über 20 Jahren wird in der Linken darüber diskutiert, dass man die Globalisierung durch Internationalisierung der Politik unter Kontrolle bringen müsse. Aber Sie gehen in die entgegengesetzte Richtung: Der Mensch brauche Grenzen, Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit. Beides läuft auf die Preisgabe der Idee einer harmonischen Weltgesellschaft hinaus. Nichts mehr mit „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“. Ist es vielleicht dieser Bruch mit einer Tradition der Linken, der Sie für manche zur „Rechten“ macht?

Das hat wenig mit rechts und links zu tun, eher etwas mit einem realistischen Menschenbild. Zu sagen, „wir machen die Grenzen auf und jeder, der möchte, kann nach Deutschland kommen“, ist eine Position, die schön klingt, aber völlig unhaltbar ist. Niemand könnte das in verantwortlicher Position umsetzen, auch Die Linke nicht. Und genauso unrealistisch ist die Forderung: „Wir müssen die Demokratie globalisieren.“ Nicht einmal in Europa funktioniert das, weil die Länder einfach zu unterschiedlich sind. Ich war fünf Jahre im Europäischen Parlament. Ich habe es erlebt. Brüssel ist eine Lobbyisten-Hochburg, in der Großunternehmen die Gesetze schreiben. Deren Abgesandte gehören zum Apparat der EU-Kommission. Sie sitzen in allen Ausschüssen des Europaparlaments und verfassen die Anträge. Das funktioniert nur, weil das alles außerhalb der Öffentlichkeit stattfindet und sehr weit weg von den Bürgern ist. Aber wenn Demokratie nicht einmal auf europäischer Ebene funktioniert, wie soll das dann weltweit gehen?

Ist diese Position jetzt rechts oder links? 

Für mich ist sie links. Wer den Nationalstaat infrage stellt, stellt auch Demokratie und Sozialstaatlichkeit infrage. Und die Verteidigung von sozialer Sicherheit und demokratischer Mitbestimmung ist für mich linke Politik. Aber ich glaube, die meisten Leute wissen gar nicht mehr, was rechts oder links ist. Früher stand „rechts“ für die Befürwortung großer sozialer Ungleichheit oder für die Rechtfertigung von Militarismus und Krieg. Inzwischen hat sich das völlig umgekehrt. „Links“ wird heutzutage identifiziert mit einer grün-liberalen elitären Ideologie, mit Sprachpolizei und Intoleranz. Mit den klassischen Anliegen linker Politik hat das nichts mehr zu tun.

 

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Aber zumindest eine Begrenzung der Globalisierung ist erforderlich, auch zur Rettung der Demokratie?

Wo das große Geld regiert, hat Demokratie keine Chance. Natürlich hat das auch mit der Globalisierung und der immer stärkeren Zusammenballung wirtschaftlicher Macht zu tun. Es gibt immer mehr Bereiche von öffentlichem Interesse, die zwar vielleicht formal noch staatlich organisiert sind, bei denen man sich aber nicht mehr darauf verlassen kann, dass sie unabhängig und am Gemeinwohl orientiert handeln. 

Die Globalisierung begrenzt sich allerdings gerade selbst. Das hat die Corona-­Krise gezeigt und auch der Krieg in der Ukraine. Je komplexer die Lieferketten, desto anfälliger sind sie auch – und desto abhängiger wird man. Auch Souveränität, Unabhängigkeit gehören zu den Voraussetzungen echter Demokratie.

Der Nationalstaat wird zwar immer wieder totgesagt, aber er ist der einzige Raum, in dem Demokratie zurzeit halbwegs gedeihen kann. Auch im Nationalstaat gibt es natürlich einen übermäßigen Einfluss großer Konzerne auf die Politik, aber der ist bei Weitem nicht so ungebrochen wie in Brüssel oder in globalen Institutionen. Die Politik muss wieder handlungs- und demokratiefähig werden. Das geht nach meiner Überzeugung nur, indem der Nationalstaat wieder mehr Einfluss erhält und durch mehr direkte Demokratie demokratisiert wird.

Sie haben selbst schon den Linksliberalismus angesprochen. Sie werfen ihm vor, dass er sich nicht mehr mit existenziellen Nöten von Menschen, sondern Stehpissoirs für Frauen, Veggie-Days in öffentlichen Kantinen und Sprachnormierung beschäftigt. Ist nicht aber die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung immer auch ein Kampf um Würde und Anerkennung, um Identität gewesen? Sind Sie nicht selbst eine Identitätspolitikerin par excellence, weil Sie das Recht aller Menschen auf ihr Weltbild, ihre Heimat, ihre Kultur, ihren Lebensstil, letztlich ihre Identität verteidigen?

Natürlich, aber das ist ja nicht das, was man unter dem Begriff der Identitätspolitik versteht. Gute Politik bedeutet immer auch Anerkennung von Identitäten und Respekt vor ihnen. Aber das, was heutzutage unter „Identitätspolitik“ verstanden wird, ist letztlich die These, dass nur Minderheiten ein Recht auf Identität haben und der Normalo den Mund zu halten hat. Linksliberale Identitätspolitik ist ja gerade kein Projekt zur Anerkennung kultureller Unterschiedlichkeit, sondern zur Umerziehung der Mehrheit: ob in der Sprache, den Ernährungsgewohnheiten oder im Denken.

Was nehmen Sie dem Linksliberalismus am meisten übel?

Dass er zutiefst antiaufklärerisch ist. Man muss einer – angeblichen oder wirklichen – Opfergruppe angehören, um bestimmte Rechte beanspruchen zu können und über bestimmte Themen reden zu dürfen. Das ist der Kern. Es zählt nicht, was einer sagt, also das rationale Argument, sondern wer etwas sagt, wer über ein Thema redet. Die Aufklärung hat die Gleichheit und die Rationalität des Menschen ins Zentrum gestellt – das ist ihr historisches Verdienst. Die linksliberale Identitätspolitik verwirft die Errungenschaften der Aufklärung, statt für die Einlösung ihrer Versprechen zu kämpfen. Besonders absurd wird es, wenn sich Leute als Opfer inszenieren, die in Wahrheit hochprivilegiert sind. Die wirklichen Opfer, also beispielsweise Einheimische wie Migranten in Niedriglohnjobs oder ältere Menschen mit geringer Rente, kommen in identitätspolitischen Debatten nie zu Wort. Sie haben ja auch andere Probleme als Debatten über das richtige Pronomen oder über die Zulässigkeit von Dreadlocks.

Ergibt sich dadurch nicht eine ziemlich düstere Prognose für die Zukunft der traditionellen Linken? Sie beschreiben in Ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ eine doppelte Tendenz: Einerseits führt der Bildungsaufstieg der traditionellen Mittel- und Unterschichten über die Akademisierung zur Schrumpfung des klassischen proletarischen Milieus. Andererseits speisen sich aus diesem akademischen Milieu einflussreiche Kräfte in Politik und Medien. Das ist sozusagen die soziale Basis des Linksliberalismus. Die Führungsetagen der linken Parteien sind linksliberal dominiert, auch Ihr eigener Rückhalt in der Linkspartei schwindet ja. Hinzu kommen das Debakel der Bundestagswahl und drei katastrophale Landtagswahlen für Die Linke. Ist es nicht auch für Sie Zeit, wie Ihr Mann das sinkende Schiff zu verlassen? Der klassischen Linken sind doch sowohl das historische Subjekt als auch die politische Avantgarde abhandengekommen.

Eine angebliche Ausweglosigkeit ist nicht die Aussage meines Buches. Die Aussage ist, dass Die Linke den gesellschaftlichen Rückhalt verliert, wenn sie sich auf das relativ privilegierte großstädtische akademische Milieu konzentriert und dessen Weltsicht zu ihrer macht. Natürlich gibt es in unserer Gesellschaft viele, die nicht auf der Gewinnerseite stehen. Millionen arbeiten in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs. Daneben gibt es die alte Mittelschicht, zu der auch große Teile der Industriearbeiterschaft gehören. Sie sind nicht arm, aber ihnen geht es in der Regel weniger gut als noch vor 30 Jahren. Sie leben in dem Gefühl, dass sie sich immer mehr anstrengen müssen, um ihren Lebensstandard zu halten, und dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst. Natürlich bräuchte man dringend eine Partei, die all diese Menschen anspricht und vertritt. Insoweit lässt sich mein Buch vielleicht als Abgesang auf die linksliberale Linke lesen, nicht aber auf Die Linke an sich. Im Gegenteil. Ich bin überzeugt von der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, und ich finde, dass man die Verhältnisse zum Besseren verändern kann und auch muss. Wenn ich daran nicht fest glauben würde, hätte ich mich längst zurückgezogen.

Das ist doch aber soziologisch völlig unwahrscheinlich. Wenn Marx auch nur ein bisschen recht damit hat, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann kann die linksliberale Drift der neuen Akademiker doch nicht überraschen. Und es sind vor allem jene Milieus, die sich im eigenen Interesse politisch organisieren – und nicht für die Malocher.

Das Problem der Linken heute ist nicht, dass die untere Mitte und die Ärmeren politisch nicht mehr ansprechbar wären, sondern dass sie zumindest teilweise erfolgreich von rechten Parteien wie der AfD angesprochen werden, während sozialdemokratische und linke Parteien sich immer mehr von ihnen entfremdet haben. Der Schlüssel, um dies wieder zu verändern, ist sicher nicht, dass linke Intellektuelle an die weniger Begünstigten herantreten und sie belehren: „Kauft E-Autos und vegane Bioprodukte und lernt endlich, korrekt zu gendern.“ Der Weg kann nur sein, diese Menschen und ihre Probleme ernst zu nehmen und gesellschaftliche Vorschläge zu entwickeln, die ihr Leben real verbessern, es sicherer und planbarer machen. Es gibt Linke, die das schaffen, Jean-Luc Mélenchon in Frankreich ist ein Beispiel dafür.

Warum haben Sie dann zwar den Aufruf für eine „populäre Linke“ mitinitiiert, aber auf dem letzten Parteitag nicht selbst nach der Macht gegriffen? Wer, wenn nicht Sie, sollte das denn sonst tun? Scheuen Sie die Gefahr der Niederlage?

Es gab gute Kandidaten.

Was würden Sie dazu sagen, wenn ich behauptete, dass Sie am Ende eine Linkskonservative sind? Das könnte auch die Stellung in Ihrer Partei erklären. Links sind Sie, weil Sie am moralischen Universalismus festhalten. Sie kämpfen für das gleiche Recht aller Menschen auf Selbstentfaltung und ein würdiges Leben. Aber Sie betonen zugleich, dass man bei Veränderungen die Menschen und die Gesellschaft nicht überfordern darf: ob bei Migration oder kulturellem Wandel. Und das scheinen mir eher Aspekte eines konservativen Menschenbilds zu sein. Es gibt zwar viele Menschen, die so denken, aber für sie derzeit keine politische Partei.

Ja, genau das ist das Problem. Wenn wir uns Umfragen ansehen, wünscht sich eine Mehrheit weniger Ungleichheit und mehr Zusammenhalt. Gemeinsame Werte schaffen Vertrauen, daran ist überhaupt nichts reaktionär. Die meisten Menschen sind heute liberal in dem Sinne, dass sie respektieren, dass jeder so lebt und liebt, wie er möchte, und auch zu dem Gott betet, an den er eben glaubt. Aber wenn sie mit Religionen zu tun haben, die ihnen und ihrer Kultur unverhohlen feindselig gegenübertreten, oder mit Missionaren, die ihnen ihre Weltsicht und ihren Lebensstil aufzwingen wollen, reagieren sie abweisend, und zwar zu Recht. Auch wenn der Begriff nicht benutzt wurde, waren erfolgreiche linke Parteien immer linkskonservativ. Sie waren links in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik und konservativ in ihrer kulturellen Ausrichtung. Jenseits der akademischen Kreise sind das eben die meisten Menschen. Ein Konservatismus, der Werte und Traditionen verteidigt, ist ausgesprochen wertvoll und wichtig. Das ist der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Und ohne Zusammenhalt gibt es auch keine Bereitschaft zu sozialem Ausgleich.

Das Gespräch führte Mathias Brodkorb.

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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