Sahra Wagenknechts neues Buch - Auferstanden aus Ruinen

Nach ihrem Rückzug vom Fraktionsvorsitz der Linken im Bundestag vor zwei Jahren erschien Sahra Wagenknecht eher als Medienfigur denn als aktive Politikerin. Jetzt hat sie sich zurückgemeldet. Mit der erneuten Kandidatur für den Bundestag und einem Buch, in dem sie ihrer Partei die Leviten liest.

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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Sahra Wagenknecht hat eine turbulente Zeit hinter sich. Seit Jahren ist die weit über das linke Spektrum hinaus populäre Politikerin in der eigenen Partei heftigen Anfeindungen bis hin zu Mobbingkampagnen und Hasstiraden ausgesetzt. Ihr Versuch, angesichts der zunehmenden Abwendung der Linken von ihren Kernklientelen in den unterprivilegierten Schichten eine neue, parteiübergreifende soziale Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen, verzeichnete im Herbst 2018 mit über 100.000 registrierten Unterstützern zwar einen fulminanten Start, scheiterte aber bereits nach wenigen Monaten kläglich, weil weder sie noch die anderen Protagonisten von „aufstehen“ einen Plan hatten, wie man mit diesem Pfund wuchern könnte.

Wenig später gab sie – inzwischen auch gesundheitlich stark angeschlagen – den Fraktionsvorsitz der Linken im Bundestag auf. An ihrer Medienpräsenz und auch ihrer Popularität änderte das nichts. Und Wagenknecht betonte stets, auch weiterhin in- und außerhalb ihrer Partei für ihr Anliegen streiten zu wollen: Eine Gesellschaft, die allen Menschen gerechte Teilhabe an den materiellen und sozialen Ressourcen ermöglicht und auf Zusammenhalt orientiert ist. Und eine linke Partei, die die Lebenswirklichkeit der „einfachen Leute“ in den Fokus rückt, statt sich an immer neuen Partikularinteressen, Politikfeldern und minoritären Lebensformen auszurichten. 

Die heile linksliberale Welt

Jetzt hat Wagenknecht diese Anliegen ausführlich in einem Buch dargelegt, das bereits vor der offiziellen Veröffentlichung am heutigen Mittwoch für erheblichen Wirbel sorgte. Es beginnt mit einer pointierten, bisweilen zornigen Abrechnung mit den „Lifestyle-Linken“ in ihrer Partei und deren totalitärem Politikverständnis im Umgang mit abweichenden Meinungen, das sie so beschreibt:

„Nazis sind gegen Zuwanderung? Also muss jeder Zuwanderungskritiker ein verkappter Nazi sein! Klimaleugner lehnen CO-Steuern ab? Also steckt wohl mit ihnen unter einer Decke, wer höhere Sprit- und Heizölpreise kritisiert! Verschwörungstheoretiker verbreiten falsche Informationen über Corona? Wer anhaltende Lockdowns für die falsche Antwort hält, steht also mutmaßlich unter dem Einfluss von Verschwörungstheorien! So einfach ist die links-
liberale Welt.“

Deswegen „steht links heute in den Augen vieler Menschen nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern vor allem für Selbstgerechtigkeit“. Was sie damit meint, wird im folgenden Buchteil kapitelweise abgehandelt. Präzise werden jene meist großstädtischen Milieus beschrieben, in denen zumeist besser gestellte junge Menschen ihren moralischen Rigorismus in Sachen unregulierter Zuwanderung, gendergerechter Sprache, Klimapolitik und Bilderstürmerei als vermeintlichen Kampf gegen Rassismus, Faschismus und Sexismus zelebrieren und dabei von vielen Linken hofiert werden.  

Lifestyle-Linke verachten Traditionen

Es folgt ein etwas holzschnittartiger Parforceritt durch die Geschichte der nationalen und globalen Entwicklung der Produktivkräfte und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Prozessen. Ihr  Blick richtet sich dabei in erster Linie auf die Lohnabhängigen, Marginalisierten und Abgehängten, als Geschichte von „Solidarität, Triumph und Demütigung“. In Verbindung mit den Wohlstands- und Aufstiegserfahrungen in den ersten Phasen der Bundesrepublik habe dies im Bewusstsein der meisten Menschen dazu geführt, „dass der Wunsch nach Sicherheit und
Kontinuität eine zentrale Rolle im Leben der Arbeiter spielt. Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen für Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens. [...] Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener führen können“. Stattdessen sei „sozialer Abstieg oder die Angst davor zur prägenden Erfahrung von Millionen Menschen geworden“. 

Auf der anderen Seite entstand in bisher nicht da gewesenem Umfang eine neue akademische Mittelschicht, zwischen gut bezahlten Jobs in der Digital- und  Medienwirtschaft, über ein Geflecht von öffentlich finanzierten Institutionen bis hin zur prekären Selbstständigkeit. Das ist der Nährboden für eine Lifestyle-Linke, die tradierte kollektive Wertvorstellungen zutiefst verachtet.

Freibrief für islamistische Parallelgesellschaften

Diversität ist das Motto, in atemberaubenden Tempo werden stetig neue diskriminierte Minderheiten identifiziert, die es vor der Mehrheitsgesellschaft zu schützen und letztlich zu privilegieren gilt. Unter Berufung auf eine Art höherer Moral wird Deutungsmacht eingefordert und exekutiert. Die Forderung nach „offenen Grenzen und Bleiberecht für alle“ wurde zum Goldstandard für die Messung „linker Gesinnung“, ein weitgehender Freibrief für islamistische Parallelgesellschaften gehört ebenso dazu wie Bekenntnisse zu einem diffusen „Antifaschismus“    
Dass Wagenknecht wegen derartiger Analysen Rassismus, Sexismus und Nähe zu Rechtsextremen attestiert wird, braucht nicht weiter kommentiert zu werden. Es spricht in seiner Absurdität für sich 

Plädoyer für Brauchtum, Heimat und Nation

Im zweiten Teil des Buches präsentiert Wagenknecht dann ihr „Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand“, was sicherlich etwas zu dick aufgetragen ist. Es ist eher eine Art Manifest, ein polemischer Gegenentwurf zur geistig, kulturell und oftmals auch materiell abgeschotteten „Lifestyle-Linken“. Genüsslich hangelt sich die Autorin an linken Tabubegriffen wie Brauchtum, Tradition, Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit, Familie, Heimat und (nicht ethnisch definierter) Nation entlang und skizziert ausführlich deren historische Entwicklung. Und sie hält den Lifestyle-Linken den Spiegel vor:

„Ist die Sehnsucht nach einer vertrauten und beherrschbaren Lebenswelt, nach sicheren Arbeitsplätzen, sicheren Wohnvierteln und stabilen Familienverhältnissen ein rückschrittliches Ressentiment? Oder sind nicht diese Werte ein sehr viel überzeugenderer Gegenentwurf zum entfesselten Kapitalismus als der bindungslose Selbstverwirklichungs-Individualismus und die linksliberale Weltbürgerlichkeit?“

In den letzten Kapiteln widmet sich Wagenknecht dann einzelnen Politikfeldern wie Digitalisierung, Innovation, Ökologie, Staatsfinanzen, Demokratieentwicklung und dem Verhältnis zwischen sozialer Sicherung, Teilgabe und Leistungsgesellschaft. Auch hier finden sich diskutable Ansätze, dennoch ist es der schwächste Teil des Buches, da ihre Ausführungen teilweise arg an der Oberfläche bleiben und der Komplexität der Themen nicht gerecht werden.  

Keine Angst vor Cancel Culture 

Das schmälert diese wichtige Veröffentlichung aber nur unwesentlich. Wagenknecht hat ein Buch geschrieben, das sich mit großem Gewinn und viel Spaß lesen lässt, und das aufgrund seiner Klarheit auch von jenen Menschen verstanden werden kann, die kein sozial- oder geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben, wie es sonst bei den meisten linken Diskursen der Fall ist.

Natürlich war ihr bewusst, welche Reaktionen dieses Buch vor allem in ihrer Partei auslösen würde. So mobilisierten ihre Gegner Mann und Maus, um ihre Nominierung für den ersten Platz der Landesliste Nordrhein-Westfalen für die kommende Bundestagswahl zu verhindern. Ohne Erfolg. Und schrecken kann sie das ohnehin nicht mehr: „Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls ‚gecancelt‘ werden könnte. Doch in Dantes Göttlicher Komödie ist für diejenigen, die sich in Zeiten des Umbruchs ‚heraushalten‘, für die ‚Lauen‘, die unterste Ebene der Hölle reserviert“, heißt es am Ende des langen Vorworts. Da wird sie wohl nicht landen. 

Sahra Wagenknecht:
Die Selbstgerechten. 
Mein Gegenprogramm
- für Gemeinsinn und Zusammenhalt
Campus Verlag, April 2021,
345 Seiten. Gebundene
Ausgabe, 24,95 Euro,
ISBN 978-3-593-51390-4 

 

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