Corona-Inzidenz über 400 - „Auf Dauer geht das einem richtig an die Nieren“

Der Saale-Orla-Kreis in Thüringen hat momentan eine der höchsten Inzidenzen in ganz Deutschland. Woran das liegt und wie der Landkreis damit umgeht, berichtet Landrat Thomas Fügmann im Interview.

Landrat Fügmann betont, dass die Impfungen der Schlüssel aus der Pandemie sind / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Thomas Fügmann ist seit 2012 Landrat des Saale-Orla-Kreis. Im Mai 1990 wurde er Mitglied des Kreistags.

Herr Fügmann, fangen wir doch erstmal mit der schlechten Nachricht an. Die Inzidenz im Saale-Orla-Kreis liegt bei 424 pro 100.000 Einwohnern. Wie kommt dieser hohe Wert zustande? 

Die Frage wird sehr oft gestellt. Ich kann das relativ eindeutig beantworten: Wenn Sie sich die Deutschlandkarte mit den Infektionszahlen anschauen, dann werden Sie sehen, dass die Inzidenzen insbesondere im Vier-Länder-Eck Sachsen, Thüringen, Bayern und Tschechien sehr hoch sind. Durch den Grenz- und Pendlerverkehr insbesondere mit dem Hochrisikogebiet Tschechien haben wir Inzidenzwerte in dieser Größenordnung bekommen. Dies ist ein wichtiger Grund. Aber es gibt noch einen anderen nicht zu vernachlässigenden Grund für die hohe Inzidenz. Der Saale-Orla-Kreis hat jetzt seit sehr langer Zeit hohe Inzidenzwerte. Das hat im November des vergangenen Jahres begonnen. Wir hatten den höchsten Wert an Heiligabend mit einer Inzidenz von 499 pro 100.000 Einwohnern. Von dort sind wir nie richtig heruntergekommen. Wir hatten Anfang Februar den niedrigsten Wert bei einer Inzidenz von circa 150. Die sogenannte zweite Welle ist bei uns nie richtig abgeflacht. Deswegen haben wir heute wiederum so hohe Zahlen. 

Welche Maßnahmen ergreifen Sie?

Zusätzlich zur Thüringer Verordnung ergreifen wir eigene Maßnahmen, die dazu beitragen, dass sich die Inzidenzzahlen nach unten bewegen. Konkret heißt das: Wir haben jetzt schon über einen längeren Zeitraum eine Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr. Und wir haben auch verschärfte Maßnahmen was die Kontaktbeschränkungen betrifft.

Haben Sie in Ihrem Landkreis höhere Testkapazitäten als anderswo?

Ohne die genauen Zahlen in anderen Landkreisen zu kennen, denke ich, dass das eigentlich nicht zutrifft. Wir haben jetzt die Testkapazitäten deutlich erhöht und wollen sie weiter ausbauen. Aber bereits im Vorfeld hatten wir die Ahnung, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist, und das bestätigt sich jetzt. Wir haben aktuell sechs zentrale Teststationen im Saale-Orla-Kreis. Weitere sind in Planung, sodass die Möglichkeit für jeden Bürger besteht, sich testen zu lassen. Das wird die Zahlen nochmal ansteigen lassen, davon bin ich überzeugt. Aber wir bekommen durch die Ergebnisse ein objektives Bild der tatsächlichen Situation, und das ist entscheidend. 

Interessant zu wissen wäre dann natürlich auch, ob die Intensivbettenauslastung mit der hohen Inzidenz angestiegen ist. 

Das ist für uns auch ein ganz wichtiges Kriterium. Allerdings ist die Zahl des Intensivbettenregisters für den Saale-Orla-Kreis nicht aussagekräftig, da wir lediglich zwei kleine Krankenhäuser haben und davon aktuell nur eins eine Covid-19-Station betreibt. Dort ist es so, dass die Zahl der Corona-Patienten deutlich zugenommen hat, aktuell sind es zwölf Patienten. Die überwiegende Mehrzahl der Erkrankten wird jedoch in den größeren Krankenhäusern der benachbarten Städte und Landkreise – insbesondere in Jena, Gera, Plauen, Hof und Saalfeld – versorgt. Derzeit nimmt die Patientenzahl deutlich zu. 

Heißt es dann, dass ihre Krankenhäuser noch lange nicht ausgelastet sind, wenn die Patienten in die naheliegenden größeren Kliniken kommen? 

Das Schleizer Krankenhaus ist mit seiner Auslastung an der Grenze. Sie können also keine weiteren Patienten mehr aufnehmen. Demzufolge bin ich dankbar, dass die großen Krankenhäuser Patienten aus unserem Kreis aufnehmen können. Aber die Entwicklung ist zumindest ernst. Wenn auch dort die Kapazitätsgrenzen erreicht werden, wird es kritisch.

Sie sind Landrat eines Kreises mit rund 80.000 Einwohnern. Hört in der Politik irgendjemand darauf, was Sie vorschlagen? 

Ja, wir sind ein kleiner Landkreis. Ich muss aber auch dazu sagen, dass Thüringen insgesamt kleinteilig geprägt ist mit 17 Landkreisen und fünf kreisfreien Städten. Und ich glaube schon sagen zu können, dass wir zumindest bei der Thüringer Landesregierung Gehör finden. Allerdings gehört zur Ehrlichkeit auch dazu, dass wir vielmehr vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen müssen, und da erwarten wir nicht allzu viel Hilfe von Erfurt oder auch von Berlin. Die konkreten Dinge müssen wir vor Ort entscheiden. So will ich es aber auch.

Das heißt, Sie sind ein Befürworter des Föderalismus in der Pandemiebekämpfung?

Ja, ich bin damit einverstanden, dass man individuelle Entscheidungen trifft und nicht pauschal für alle. Ich möchte das konkret am Beispiel Thüringen festmachen: Wir haben im nahegelegenen Jena eine Inzidenz von 62, wir sind bei über 400. Man kann Thüringen also nicht komplett einheitlich behandeln. Ich wünsche mir manchmal noch mehr Verantwortung, denn ich glaube, dass wir vor Ort die richtigen Entscheidungen treffen können, und da sind die Ansagen von oben manchmal nicht hilfreich. 

Sind Sie denn mit der Verlängerung des Lockdowns bis Ende April einverstanden? 

Ich lasse mich hierzu insbesondere von den Ärzten in unserem Haus beraten und da höre ich ganz klar, dass einer Verlängerung des Lockdowns zugestimmt wird. Wir müssen damit rechnen, dass weitere Infektionsfälle kommen und die Situation in den Krankenhäusern dramatisch werden kann. Und genau das wollen wir ja vermeiden. 

Thomas Fügmann / Foto: A. Hebenstreit, Landratsamt Saale-Orla-Kreis

 

Am Dienstag haben wir den Thüringer CDU-Abgeordneten Albert Weiler interviewt. Weiler berichtet auch, dass die Menschen in seinem Wahlkreis kein Verständnis mehr für die Maßnahmen hätten. Welche Signale bekommen Sie von der Bevölkerung in Ihrem Landkreis?

Albert Weilers Wahlkreis liegt auch bei uns im Saale-Orla-Kreis, allerdings kann ich die Kritik so nicht teilen. Das Verständnis der Bürger ist weniger geworden, und es gibt auch erhebliche Proteste. Aber auf der anderen Seite höre ich nach wie vor sehr ernste Stimmen. Viele Bürger sagen, dass die Maßnahmen aufgrund der hohen Infektionszahlen gerechtfertigt sind. 

Wurden auch vermehrt Kinder und Jugendliche positiv getestet? 

Ich bekomme täglich die aktuelle Liste der bestätigten Coronafälle und stelle fest, dass kein 80-Jähriger oder älterer dabei ist. Die Impfstrategie hat also gegriffen. Das ist ein erstes positives Ergebnis. 
Dafür finden sich beispielsweise auf der heutigen Liste Kinder im Schul- oder Kindergartenalter. Es trifft zu, dass in der Größenordnung die Menschen mittleren Alters, aber auch junge Menschen erkranken. Das sagt uns, dass das Virus und die Mutationen sehr gefährlich sind. 

Wie schätzen Sie die Schul- und Kitaöffnungen in Hinblick auf die Verbreitung des Virus ein? Sollten diese wieder geschlossen werden, oder lediglich vermehrt getestet werden? 

Ich bin für die zweite Variante. Wir müssen nach so einer langen Schul- und Kindergartenschließung, wie wir sie in unserem Landkreis erleben, den Einrichtungen wieder eine Perspektive geben. Das geht aber nur, wenn wir verantwortungsvoll öffnen. Deswegen bin ich für Tests in den Einrichtungen. Dann besteht eine sichere Möglichkeit, die Kinder und Jugendlichen in die Kindergärten und Schulen zu schicken. 

Neben dem Testen sollte aber auch das Impfen als weiteres Mittel im Umgang mit dem Virus ausgebaut werden. Wie sieht das bei Ihnen im Saale-Orla-Kreis aus? 

Die vernünftigste Lösung im Umgang mit der Pandemie geht nur über Impfungen. Die Zahlen beweisen, dass die 80-Jährigen durch ihre Impfung deutlich geschützt sind. Da der Saale-Orla-Kreis ein Hotspot ist, haben wir die Zusage über zusätzliche 7500 Impfdosen erhalten, mit denen wir 3750 Personen – fast fünf Prozent der Bevölkerung – zusätzlich schützen können. In diesem Zusammenhang haben wir auch mit der kassenärztlichen Vereinigung abgestimmt, dass wir die nächste Priorisierungsgruppe öffnen können. Dazu gehörten Personen ab 60 Jahren, aber auch bestimmte Berufsgruppen, die mir sehr am Herzen liegen: Lehrer, Erzieher oder Polizisten. Das ist schon mal eine große Hilfe. Ich wünsche mir für die Zukunft genügend Impfstoff. Mir ist es eigentlich egal, was das für ein Impfstoff ist, solange er zugelassen ist. Damit wollen wir den Menschen eine Orientierung geben, um die Bahnen in Richtung eines normalen Lebens vorzubereiten. 

Machen Sie sich Sorgen um Ihre Bürgerinnen und Bürger? 

Ja, ich mache mir Sorgen, und das beschäftigt mich sehr. Wir kämpfen nun seit dem 2. März 2020 mit dem Coronavirus (Anmerkung der Redaktion: damals hatte der Landkreise den ersten Corona-Fall Thüringens). Seit November gehören wir ununterbrochen zu den am stärksten betroffenen Landkreisen Deutschlands. Wenn man dauerhaft so weit vorne ist, wenn man wirklich richtig hart betroffen ist, dann bereitet das einem schon große Sorgen. Ich habe ein Landratsamt mit rund 500 Mitarbeitern, und wenn davon 60 bis 70 Mitarbeiter nur für die Pandemie arbeiten, dann ist das natürlich eine riesige Herausforderung. Auf Dauer geht das einem richtig an die Nieren. Auch ich muss mich manchmal neu motivieren, um mit einem guten Beispiel voranzugehen. 

Das Interview führte Sina Schiffer 

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