Rot-Rot-Grün - Versuchslabor Berlin

Seit 2016 regiert eine rot-rot-grüne Koalition die Hauptstadt. In vielen Bereichen ist sie gescheitert – ob in der Bildungs-, Verkehrs- oder in der Wohnungspolitik. Und beim Thema Innere Sicherheit steht die Polizei auf verlorenem Posten. An diesem Sonntag wird nicht nur im Bund, sondern auch in Berlin gewählt. Ein Stimmungsbild.

Die Berliner Polizei löst auf dem RAW-Gelände nahe der Warschauer Straße eine Schlägerei auf / Anja Lehmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Ein warmer Spätsommerabend in Berlin, am Kottbusser Tor mitten in Kreuzberg. Die Hauptkommissare Christian Stahl und Thomas D. stehen am Kreisverkehr, über den gerade eine gelbe U-Bahn rauscht. Unter dem U-Bahnhof hat ein Transporter geparkt, die Heroin- und Cracksüchtigen holen sich ihre Essenspakete ab. Eine Gruppe arabisch aussehender Jugendlicher läuft an den Uniformierten vorbei. „Eins, zwei, Polizei“, ruft einer, ein anderer schiebt leiser hinterher: „Fick die Polizei.“ Stahl sagt: „Respekt für die Polizei in dieser Gegend – null. Aber man darf sich nicht provozieren lassen. Sonst hat man keine Zeit mehr für das Wichtige.“ 

Die erfahrenen Polizisten leiten die 1. Dienstgruppe der 125 Mann umfassenden Brennpunkt- und Präsenzeinheit, die sich seit Anfang 2020 ausschließlich um die sechs kriminalitätsbelasteten Orte Berlins kümmert. Die liegen fast ausschließlich in einem knapp fünf Quadratkilometer großen Dreieck zwischen Kottbusser Tor, Hermannplatz und Warschauer Straße – im alternativ-grünsten Bezirk Deutschlands: Friedrichshain-Kreuzberg. 

Ein lebhaftes Fleckchen

Tausende Menschen ziehen bis in die Morgenstunden durch die Straßen dieses Bermudadreiecks: Fleischspieße brutzeln auf riesigen Kohlegrills, Marihuanageruch schwebt durch die Nachtluft, Araber lassen ihre dicken Karren an den Ampeln kickstarten, auf der Oberbaumbrücke ist ein DJ von Dutzenden Tanzenden umringt. 

Mitten in diesem Getöse zeigen die Polizisten Präsenz. Mehr ist oft nicht möglich. Das gilt insbesondere für ihre Arbeit im Görlitzer Park, wo auch an diesem Abend wieder Dutzende Schwarzafrikaner Marihuana, Koks und Härteres an das Berliner Partyvolk und die Touristen verkaufen. Im „Görli“ wurden im ersten Halbjahr 584 Straftaten registriert, davon 71 Körperverletzungen, 72 Diebstähle und drei Sexualdelikte. In 66 Fällen ging es um Drogenhandel.

Die Polizei ist nicht tatenlos

Seit Jahren wiederholt sich dort das immer gleiche Spiel: Die Polizei nimmt Dealer fest, aber weil die Menge an Drogen, die diese bei sich haben, meist klein ist, sind sie bald wieder frei. „Als junger Beamter hat mich das frustriert“, sagt Stahl. „Heute denk ich mir: Und wenn ich einen 60 Mal festgenommen habe, dann nehm ich ihn eben zum 61. Mal fest. Die Bürger sollen das Gefühl haben, dass die Polizei diesen Park nicht aufgegeben hat!“ Dass Drogen wie Marihuana und Kokain derart fest in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien, ist für die Kommissare ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sie hier auf der Straße nicht beheben können. 

Immerhin erlaubt die Einrichtung eines neuen Fachkommissariats, dass die Informationen, die Stahl und seine Kollegen sammeln, jetzt gebündelt werden: Die Taten werden von den Sachbearbeitern nicht mehr nach Delikt geordnet, sondern täterorientiert. Das heißt, dass Intensivtäter, die verschiedene Delikte begehen, schnell ins Visier der Justiz geraten. In der Einheit werden auch Dinge ausprobiert, mit denen sich Rot-Rot-Grün lange schwertat: Body-Cams und Taser. Eine Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen – ein probates Mittel zur Täter­ermittlung – ist aber mit Grünen und Linken nicht zu machen.

Bei Straftaten ist Berlin auf Platz eins

Laut Statistik liegen die Straftaten in Berlin unter Rot-Rot-Grün etwa auf dem Niveau des vorigen rot-schwarzen Senats bis 2015 – blendet man den steilen Anstieg während der Flüchtlingskrise aus. In der Rangliste der Städte mit den meisten (gemeldeten) Straftaten pro Einwohner hat Berlin jüngst von Frankfurt am Main den ersten Platz erobert – vor allem aufgrund der stark gestiegenen Zahl der Einbrüche. Weltweit Schlagzeilen machte 2017 der Raub einer 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Bode-Museum durch Mitglieder des Remmo-Clans. Aus derselben Gang kamen die Kriminellen, die zwei Jahre später das Dresdner Grüne Gewölbe ausraubten. Ein Täter war schon wegen des Goldmünzenraubs verurteilt – aber wegen einer Revision auf freiem Fuß.

Unter den Polizisten haben die letzten fünf Jahre wenig Begeisterung hinterlassen. „Die grundsätzlich kritische Haltung dieser Parteien der Polizei gegenüber, dieses Misstrauen, macht Kollegen krank“, sagte zuletzt Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Bezug auf Grüne und Linke. Im Zentrum der Kritik stand das 2020 in Kraft getretene „Landesantidiskriminierungsgesetz“, mit dem die Koalition Menschen, die sich durch Beamte diskriminiert fühlen, ermöglicht, sich bei einer Ombudsstelle zu beschweren. Bei einer Beschwerde müssen Beamte nun widerlegen, dass sie sich diskriminierend verhalten haben. 

Im Zweifel für die Hausbesetzer

Auch im Streit um das besetzte Haus an der Friedrichshainer Rigaer Straße kämpfte die Polizei gegen grüne Windmühlen: Als der Senat wegen Brandschutzmängeln eine Begehung des Hauses unter Polizeischutz durchführen lassen wollte, schickte der grüne Bezirksstadtrat Florian Schmidt rechtswidrig eine Mitarbeiterin seines Amtes durchs Haus, die „keine schwerwiegenden Mängel“ feststellen konnte. Der Polizeieinsatz wurde so kurzfristig abgeblasen, dass er den Steuerzahler dennoch eine halbe Million Euro kostete. Im Zweifel für die Hausbesetzer – das ist die Linie der Grünen im grünsten Bezirk Deutschlands. 

Gleichzeitig leiden die Polizisten, deren Grundgehalt nur in einigen ostdeutschen Bundesländern niedriger ist, wie alle anderen Berliner auch unter den steigenden Mieten. Das hat dazu geführt, dass der Anteil der Beamten, die die Stadt verlassen wollen, laut GdP deutlich angestiegen ist: Im vorigen Jahrzehnt lag die Zahl zwischen 60 und 100, 2021 waren es 150. Demgegenüber steht die chronische Unterbesetzung der Behörde, an der die Polizei seit dem radikalen Sparkurs unter Thilo Sarrazin vor zwei Jahrzehnten krankt.

Zwei Kilometer ostwärts vom pulsierenden Bermudadrei­eck liegt die Rummelsburger Bucht, ein seeartiger Seitenarm der Spree. Es ist ein Ort, an dem viele Probleme der Stadt zusammenkommen – und vor denen dieser Senat kapitulierte. Vom „Sündenfall dieser Koalition“ sprach selbst Georg Kössler, der für die regierenden Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt.

Kalter Krieg an der Rummelsburger Bucht

Auf den ersten Blick wirkt die Szenerie idyllisch: Auf einem Steg am Wasser sitzen ein paar Studenten, ein Hauch von Marihuana liegt in der Luft, leise Musik kommt aus einem Lautsprecher, auf dem Wasser an die 30 Schaluppen, eine Art schwimmende Wagenburg. Wäre die Bucht Niemandsland wie vor 25 Jahren, wäre die Idylle perfekt.

Aber am Ufer stehen jetzt schicke Eigentumswohnungen, schwarz und weiß gestrichen, mit hohen Fensterfronten. Zwischen ihnen und den Hippies auf dem Wasser herrscht wegen des Lärms und der Verschmutzung der Bucht kalter Krieg. Im Sommer 2017 und im vergangenen Winter brannten mehrere Boote. Die Polizei geht von Brandstiftung aus, gefasst wurde niemand. Seit Corona haben die Wasserbewohner auf der Mitte der Bucht eine Art hölzerne Bar errichtet – dort wurde und wird Party gemacht, weil viele Klubs geschlossen haben. Der kalte Krieg ist seitdem ein paar Grad heißer geworden.

Das alte Idyll

Ein paar Hundert Meter weiter sitzen Angela Volz und Thorsten Bänsch auf schwarzen Ledersofas und bereiten sich auf das Ende vor: Über das zurückliegende Jahrzehnt haben sie auf einer Brachfläche am westlichen Ende der Bucht, umgeben von Pappeln, ein kleines Paradies namens „Rummels Bucht“ aufgebaut: Im Biergarten sitzt man auf bunt zusammengeschraubten Holzkonstruktionen, trinkt Bier und isst riesige Pizzas mit Blick aufs Wasser, im Klub, einer uralten Bruchbude, die an die industrielle Vergangenheit der Bucht erinnert, wurden vor Corona wilde Partys gefeiert, und draußen fand gerade das letzte Freiluftkonzert statt. 

Das, was die beiden Mittvierziger, in die Hauptstadt geflohen aus Baden-Württemberg, hier mit ihren Mitstreitern aufgebaut haben, atmet Berlin, ist das, was diese Stadt lange attraktiv gemacht hat – auch für die Start-up-Szene, die in Berlin der aufstrebendste Wirtschaftszweig ist. „Arm, aber sexy“ hat Klaus Wowereit das einst genannt: eine Kultur- und Partylandschaft, geprägt von Glücksrittern aus der ganzen Republik, die in die günstige Hauptstadt kamen, um Dinge auszuprobieren, für die in Stuttgart, Hamburg und München kein Platz ist. 

Platz für Wohnungsbau

„Das ist der Ausverkauf der Stadt. Hier wird das kaputt gemacht, was Berlin ausmacht“, sagt Klub-Betreiberin Volz, schwarze Stiefel, golden schimmernde Armreifen, Nasenring. „Am liebsten würde ich die Rummels Bucht mit Luftballons in die Luft heben und an einem anderen Ort wieder landen lassen“, sagt sie. Daraus wird nichts. Im Oktober werden sie wohl mit dem Abriss anfangen, der Besitzer des Grundstücks wird in naher Zukunft mit dem Wohnungsbau beginnen.

Das Problem: Freiflächen wie die, auf denen die Rummels Bucht entstand, werden dringend für Wohnungen benötigt. Berlin wächst seit einem Jahrzehnt, und in der traditionellen Mieterstadt verdoppelten sich die Quadratmeterpreise in dieser Zeit von um die sechs auf über zwölf Euro. Rot-Rot-Grün versuchte es mit der Brechstange Mietendeckel, der aber vor dem Verfassungsgericht scheiterte. Stattdessen stimmen die Berliner jetzt bei einem Volksentscheid darüber ab, ob der Konzern Deutsche Wohnen von Berlin enteignet werden soll. Die große Popularität dieser Idee zeigt vor allem die Verzweiflung vieler Berliner. 

Für „Coral World“ ist trotzdem Platz

Der Biergarten, in dem Volz und Bänsch sitzen, wirkt jetzt schon wie ein gallisches Dorf: Rundherum stehen Baukräne, auf der einen Seite sind die Eigentumswohnungen schon fast fertig – eine Dreizimmerwohnung kostet eine knappe Million. Angesichts der Lage – direkt am Wasser, der Verkehrsknotenpunkt Ostkreuz gleich um die Ecke – ist das verständlich, aber es ist selbst für Berliner Gutverdiener jenseits von Gut und Böse. Gekauft werden die teuren Wohnungen oft als „Betongold“ von Menschen außerhalb Berlins oder Deutschlands.

Besonders sauer macht Volz und Bänsch, dass abgesehen von den Eigentumswohnungen hier auch noch ein „Coral World“ genanntes Indoor-Korallenriff entstehen soll. Dabei ist auch das Lichtenberger Bezirksparlament fest in rot-rot-grüner Hand, Bürgermeister ist ein Linker. Eine Bürgerinitiative sammelte knapp 30 000 Unterschriften gegen den Bebauungsplan, Volz und Bänsch standen im Austausch mit Linken- und Grünen-Abgeordneten – genutzt hat es nichts. 2019 stimmte der Bezirk endgültig dem Bebauungsplan zu – mit Verweis darauf, es entstünden auch eine Schule, 180 kommunale Wohnungen und ein öffentlich zugänglicher Park. Mit dem, was Berlin ausmacht, wird das kaum noch etwas zu tun haben. 

Zeltlager geräumt

Geht man ein paar Schritte weiter an der Bucht, entdeckt man nur noch wenige Spuren eines wilden Zelt- und Hüttenlagers, das hier bis vor kurzem existierte: Drogensüchtige, Obdachlose, Sinti und Roma vegetierten über Jahre vor sich hin und sorgten dafür, dass viele Anwohner nach Einbruch der Dunkelheit den Uferweg mieden, um nicht in die Schlägereien unter Alkohol- und Drogeneinfluss zu geraten. Die Laisser-faire-Politik von Rot-Rot-Grün gegenüber derartigen Lagern sorgt dafür, dass die Polizei die Menschen gewähren lässt – unter einer U-Bahnlinie in Kreuzberg entsteht gerade das nächste Lager.

Das Lager an der Bucht lösten die Behörden in einer Hauruckaktion im Winter auf: Sie nutzten die eiskalten Temperaturen, um die Bewohner mitten in der Nacht aus ihren Behausungen zu holen, dann wurde planiert, was übrig war. Ein hoher Zaun und ein Sicherheitsdienst verhindern nun die Rückkehr der Bewohner. Ein früheres Eingreifen der Behörden hätte womöglich das Leben eines 15-jährigen Mädchens gerettet, das hier im August 2020 von einem 42-jährigen Wiederholungstäter namens Bekim H. vergewaltigt und ermordet wurde. 

Schleppende Verkehrswende

Heinrich Strößenreuther steht an einem Fahrradweg und schüttelt den Kopf: Der frisch aufgemalte grüne Streifen auf der Fasanenstraße unweit des Berliner Zoos endet unter parkenden Autos. „Rot-Rot-Grün hat viel versprochen, aber wenig gehalten“, sagt er. Das harte Urteil ist wenig verwunderlich für ein CDU-Mitglied wie den 53-Jährigen. Verwunderlich ist es aber für einen, der als Fahrrad- und Verkehrswendeaktivist über Jahre von den Grünen hofiert wurde – und der erst im März in die CDU eingetreten ist. 

Strößenreuther initiierte 2015 den „Volksentscheid Fahrrad“, der nie zur Abstimmung kam, weil Rot-Rot-Grün die Forderungen in ein „Mobilitätsgesetz“ übertrug. Wichtigster Punkt: Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel werden in der Verkehrsplanung nun vorrangig vor dem Autoverkehr behandelt. 
Positiv sieht der Aktivist, dass sich in der Verwaltung jetzt nicht mehr zwei oder drei, sondern 80 Mitarbeiter um die Planung des Radverkehrs kümmern. Herausgekommen ist aber wenig. „40 Kilometer neue Radwege in fünf Jahren, davon 25 Kilometer Pop-up-Radwege, das ist nichts, worauf man stolz sein könnte“, sagt er. 

Nichts halbes und nichts ganzes

Mit den Pop-up-Radwegen hatte Rot-Rot-Grün die Gunst der Corona-­Stunde genutzt: Unter Berufung auf die besondere Notwendigkeit während der Pandemie wurden an mehreren großen Straßen Auto­spuren in Fahrradwege umgewidmet – abgetrennt durch schnell aufgestellte Baustellenbaken. Die eigentlich temporär gedachten Spuren werden nun nach und nach in permanente Radwege überführt. „Mit einem integrierten Verkehrskonzept hat das nichts zu tun“, sagt Strößenreuther. Das zeigen etwa die Auswirkungen auf den Busverkehr: Der Entzug einer Autospur führt dazu, dass Busse im Autoverkehr feststecken. „Zur Kompensation bräuchte es für Busse eine Vorrangschaltung an der Ampel“, erklärt der Verkehrswendeexperte.

Der kurz vor der Wahl verabschiedete 3000 Kilometer lange Radverkehrsplan geht aber auch auf Kosten der Fußgänger. „Sie planen ein ideales Netz für ihr Verkehrsmittel – und wer im Weg geht und steht, hat eben Pech“, schimpfte der Vorsitzende des Berliner Fußgängerverbands nach der Vorstellung des Planes. „Bei den Grünen geht leider oft Gesinnung vor Qualität“, sagt Strößenreuther. 

In Hamburg klappt, was in Berlin scheitert

Ein gutes Beispiel dafür sind die Sammeltaxis, die seit 2018 in Berlin verkehren: Die „Berlkönige“ sind Minivans mit flexiblen Routen, in die man an beliebigen Stellen einsteigen kann und die deutlich günstiger als Taxis sind – eine sinnvolle Ergänzung zu Bus und Bahn. Doch das in Berlin zugelassene Konzept ist erst mal gescheitert: Im ersten Betriebsjahr hatte der Service mit 130 Fahrzeugen 700 000 Menschen transportiert. Weiter würde sich der Dienst nur lohnen, wenn die Stadt ihn mit 43 Millionen Euro pro Jahr subventioniert. 

In Hamburg erhielt die VW-Tochter Moia die Genehmigung für einen ähnlichen Shuttle-Dienst: Und der funktioniert in einer Stadt, die halb so groß ist wie Berlin, prächtig. Seit dem Start im April 2019 bis Dezember 2020 transportierte Moia 2,9 Millionen Fahrgäste – mit am Ende 330 Fahrzeugen. 
Als Moia in Berlin anklopfte, um mit 1000 Fahrzeugen ins Geschäft einzusteigen, antwortete die grüne Verkehrssenatorin, der Antrag verfolge ein „nachvollziehbares Geschäftsinteresse des Unternehmens VW nach einem wirkungsvollen Markteintritt“, stehe „öffentlichen Verkehrs­interessen aus unserer Sicht aber eindeutig entgegen“. Linke Aversionen gegenüber einem Grundprinzip der Marktwirtschaft – im Wettbewerb setzt sich der Bessere durch – bringen in diesem Fall ein klares Ergebnis: Berlin scheitert, Hamburg zeigt, wie es gehen kann.

Behäbige Bürokratie

Auch die Sicherheit der Berliner Radfahrer hat sich unter Rot-Rot-Grün nicht verbessert: 2018 starben elf Radfahrer, 2019 noch sechs, im letzten Jahr dann 17. Das liegt am immer stärker werdenden Radverkehr, der heute vielerorts so stark wie in Kopenhagen sei, so Strößenreuther. Aber eben auch an einer viel zu langsamen Umsetzung beim Umbau gefährlicher Kreuzungen. „Der Senat hat sich selbst das Ziel gesetzt, pro Jahr zehn Kreuzungen umzubauen, an denen Blut spritzte und Knochen knackten. Geschafft wurden ein oder zwei“, sagt Strößenreuther. „Berlin ist Weltmeister in der Ausarbeitung toller Papiere und Studien – aber in der Umsetzung sehr schlecht.“

Mit Rot-Rot-Grün hat der legendäre Berliner Amtsschimmel jedoch nur bedingt zu tun. Er ist eine Konsequenz der „Machtarchitektur“ in der Hauptstadt: Neben dem Abgeordnetenhaus und dem Senat hat jeder der zwölf Bezirke ein eigenes Bezirksparlament, einen Bezirksbürgermeister und vier Bezirksstadträte. Dass eine derart föderale Struktur innerhalb eines Bundeslands zu mehr Kompetenzwirrwarr und weniger Effizienz führt, ist an vielen Stellen zu beobachten. Der Tagesspiegel schuf dafür jüngst den Neologismus des „Berliner Bürgeramtsbabylons“.

Rot-Grünes Bildungschaos

Auch Arnd Niedermöller hat das Pingpongspiel zwischen den Behörden schon zur Genüge kennengelernt. Der gebürtige Schwabe ist seit 2017 Direktor des Kant-Gymnasiums in Lichtenberg, eine der begehrtesten Schulen der Stadt, und seit diesem Jahr Sprecher der Vereinigung der Oberstudiendirektoren. „Sobald drei am Tisch sitzen, wird’s schwierig“, sagt er. Deutlich wurde das bei den Geldern des Digitalpakts, die der Bund ab 2018 zur Verfügung stellte. „Die Digitalisierung der Schulen ging über Jahre unglaublich langsam voran. Erst mit Corona gab es dann eine regelrechte Explosion“, sagt Niedermöller. Das ist gleichzeitig das einzig Positive, was ihm zur Schulpolitik der letzten fünf Jahre einfällt. Die sei ansonsten kompliziert und an vielen Stellen ineffizient gewesen, eine Politik der „Gleichmacherei“. „Man hat das Gefühl, als würde die Einheitsschule vorbereitet“, sagt er.

Für Linke und Grüne sind die etwa 90 Gymnasien der Stadt offenbar ein Relikt der Vergangenheit: Die Parteien präferieren die 2010 unter Wowereit eingeführte Integrierte Sekundarschule, wie die Gesamtschule hier genannt wird: Während am Gymnasium nur die leistungsstarken Schüler unter sich sind, soll das rot-rot-grüne Modell das gemeinsame Lernen aller fördern. Ein besonderer Dorn im Auge sind dem Senat die „grundständigen Klassen“ der Gymnasien: Während die Grundschule in Berlin sechs Jahre dauert, bieten viele Gymnasien für leistungsstarke Schüler einen Wechsel in die fünfte Klasse an. Die hohen Bewerbungszahlen für diese Klassen zeigen, wie wenig Berliner Eltern von der rot-rot-grünen Bildungsideologie halten. 

Linke und Grüne wollen diese Klassen abschaffen. Davon wäre auch Niedermöllers Gymnasium betroffen. Ein echter Stein am Bein der Gymnasien sind auch die MSA-Prüfungen zur Mittleren Reife, die die Gymnasiasten in der zehnten Klasse machen müssen. „Da müssen unsere Lehrer das Niveau der neunten Klasse wiederholen, obwohl sie die Schüler eigentlich auf die Kursstufe vorbereiten sollten“, sagt Niedermöller. Ein Gesetz des Senats aus dem Frühjahr, die MSA-Prüfungen an den Gymnasien abzuschaffen, wurde von den Fraktionen so ausgehöhlt, dass im September etwas ganz anderes verabschiedet wurde. 

Kaum noch ausgebildete Lehrer

Im Vergleich zu den Problemen, vor denen Astrid Busse steht, klingen Niedermöllers Erzählungen wie aus einer heilen Welt: Die resolute Berlinerin, die zwei Jahre vor ihrer Pensionierung steht, ist Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen (IBS) und leitet die Grundschule in der Köllnischen Heide, eine der 43 Brennpunktschulen in Neukölln. Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund: knapp 100 Prozent. 

Busse hat hier Kinder aus bekannten Clanfamilien, die offiziell von Hartz IV leben, aber von denen man auch mal zu hören bekommt, Papa sei zur Fortbildung im Irak. Schulen wie ihre haben keinen guten Ruf, deshalb machen Lehrer einen Bogen darum. Busse zeigt auf ihre Bürotür: „Vor fünfeinhalb Jahren kam die letzte voll ausgebildete Lehrerin durch diese Tür“, sagt sie. Seitdem findet sie nur noch Quer- und Seiteneinsteiger, also Menschen, die entweder zumindest ein schulrelevantes Fach studiert haben, oder – im letzten Fall – zumindest irgendeinen Uni-Abschluss haben. „Die können auch Friedhofsgärtner sein, Hauptsache studiert“, sagt Busse. Immerhin: Zwei Drittel ihrer Lehrkräfte seien noch „richtige Lehrer“. An anderen Schulen sei es nur noch die Hälfte.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat ausgerechnet, dass 2021 nur noch 40 Prozent der neu eingestellten Lehrer reguläre Lehrkräfte sind, in den Grundschulen nur 15 bis 20 Prozent. Der Berliner Lehrermangel hat wie der Personalmangel bei der Polizei seine Wurzeln in der Sparwut unter Wowereit und Sarrazin: Damals wurde auch die Verbeamtung der Lehrer eingestellt.

5.300 Euro Einstiegsgehalt

„Heute sind wir noch eine starke Industrienation, aber ich mach mir Sorgen“, sagt Busse. „Wir haben ja keine Bodenschätze hier, sondern nur unsere Köpfe.“ Berlin habe angefangen gegenzusteuern, als es schon zu spät war. Denn das Problem wird sich noch verschärfen: Die Schülerzahlen wachsen, 2021 quittierten 862 Lehrer den Dienst, ähnlich viele wurden pensioniert. Einen guten Teil der Lehrer verliert Berlin nach Brandenburg und an andere Bundesländer, zum Teil wegen der Arbeitsbedingungen, zum Teil, weil Berlin heute das einzige Land ist, das Lehrer nicht verbeamtet. Grüne und Linke sperren sich bis heute dagegen. Bei der SPD denkt man inzwischen um – nach 25 Jahren sozialdemokratisch geführter Bildungspolitik.

Rot-Rot-Grün setzt voll auf die Seiten- und Quereinsteiger – und auf Geld. Bei den Bildungsausgaben pro Kind liegt Berlin bundesweit auf Platz 2 (hinter Hamburg). Das Einstiegsgehalt von Grundschullehrern liegt bei 5.300 Euro brutto. Und in Brennpunktschulen wie der von Astrid Busse bekommen Lehrer 300 Euro zusätzlich. Aber ist das der richtige Weg? 

Schüler sind Raubtiere

Busse verneint. Neuanfänger, die nie vor einer Klasse gestanden hätten, müssten eigentlich anfangs in zweiter Reihe hinter einem erfahrenen Lehrer stehen – und dann langsam selber übernehmen. „Stattdessen werden die gleich ins Feuer geworfen! Und so ne Klasse wittert wie Raubtiere, wenn ein Lehrer Schwäche zeigt. Dann machen die den fertig.“ 

Busse hat gerade ihren pensionierten Konrektor wieder angestellt, um den Neuanfängern zumindest ein Mindestmaß an Begleitung zu ermöglichen. Besonders gute Erfahrungen hat sie mit Lehrern aus Osteuropa und Asien: „Die sind zäh. Da geht’s nicht um Work-Life-Balance, die sind nicht vegan, die finden auch im Wald allein zurück.“ 

Zähigkeit allerorten gefragt

Zäh muss man an ihrer Schule sein, auch wenn der Schulalltag auf den ersten Blick friedlich wirkt. Zum Abholen der Kinder kommen fast nur Frauen mit Kopftuch – ein Thema, das auch Busse beschäftigt hat, seit sie Zweitklässlerinnen mit Kopftuch im Unterricht gesehen hat. Einmal hat sie versucht, ein Mädchen darauf anzusprechen – daraufhin drohte ihr der Vater mit Mord. Seitdem lässt sie die Finger davon: „Das bekommen wir hier in der Schule nicht hin. Da hat die Gesellschaft viel zu lange weggeschaut.“

Bei der Brennpunkteinheit der Polizei geht es derweil gegen Mitternacht. Die Einheit ist mit ihren Polizeibussen weiter zur Warschauer Straße gefahren, wo sich die lärmenden Massen über die Brücke schieben, um in einem der vielen Klubs auf einem ehemaligen Bahngelände zu feiern. Christian Stahl hat unterwegs erzählt, wie stolz er darauf sei, dass seine Einheit trotz der schwierigen Einsätze noch keine Beschwerde bekommen hat, auch nicht nach dem Antidiskriminierungsgesetz.

Plötzlich werden sie von Kollegen der örtlichen Polizei zu Hilfe gerufen: Vor einem Klub haben die eine Schlägerei aufgelöst und drei Männer festgenommen, werden allerdings von den Umstehenden attackiert, ein Polizist hat einen Faustschlag ins Gesicht bekommen. Zwei dunkelhäutige Frauen schimpfen aufgeregt in Richtung der Polizei: „Typisch! Nur weiße Polizisten nehmen Schwarze fest. Genau das ist Rassismus!“ Entnervt wendet sich ein junger Berliner Polizist ab, murmelt: „Klar, jetzt sind wir mal wieder alle Nazis.“ An der Schlägerei waren allerdings nur Farbige beteiligt – was hätten die Polizisten tun sollen? Berliner Polizisten brauchen vor allem eines: ein dickes Fell.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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