Ricarda Lang und Omid Nouripour - Neue Grünen-Doppelspitze: Aufbruch in die Realität

Die Grünen haben auf ihrem Bundesparteitag zwei neue Vorsitzende gewählt. Doch auf die interne Machtarchitektur dürfte dies wenig Einfluss haben. Denn Ricarda Lang und Omid Nouripour wird nichts anderes übrig bleiben, als als verlängerter Arm der grünen Minister in die Partei hineinzuwirken.

Der Neue Grünen-Chef Omid Nouripour beim Bundesparteitag, seine Doppelspitzen-Partnerin Ricarda Lang konnte wegen einer Corona-Infektion nicht kommen / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Wer nach 16 Jahren Opposition in die Regierung eintritt, hat einen langen Weg des Kampfes und der programmatischen Profilierung hinter sich. Gefahr- und mühelos konnte man sich im Vorfeld die Welt ausmalen, wie sie am besten sein sollte. Um dann schlussendlich wieder auf dem harten Boden der Realität zu landen.

Parteitage als Erziehungsmaßnahme

Parteitage nach Übernahme von Regierungsverantwortung sind daher im Grunde unverzichtbare Erziehungsmaßnahmen für die eigenen Anhänger. Der Schwung der Opposition muss in realistische Erwartungshaltungen transformiert, Prinzipientreue durch Kompromissfähigkeit zumindest ergänzt werden. Damit dies gelingt, braucht es diskursive Räume und Auseinandersetzungen, also Parteitage – und das symbolische Kapital der Führungsmannschaft, das die Basis auf eine veränderte Linie zwingt.

Das alles ist auf digitalen Parteitagen nicht zu haben. Während sich Delegierte früher mit dem Nachbarn unterhalten, großen Reden lauschen, mit anderen Delegierten Bündnisse verhandeln oder durch den Saal schlendern konnten, sitzen nun hunderte von ihnen einsam vor den Bildschirmen und verfolgen im besten Falle jede Sekunde des Geschehens.

Die Zwänge digitaler Inszenierung

Das verändert die Choreografie kolossal, und so ist es dieser Tage auch bei den Grünen. Während organisatorische Lücken auf gewöhnlichen Parteitagen im Gewusel des sozialen Miteinanders untergehen, werden sie im online-Format wie mit einem Zoom groß gezogen. 

Schon wenige Minuten nach der Eröffnung steht Bundesgeschäftsführer Michael Kellner etwas hilflos auf der Bühne. Während im Hintergrund das Abstimmungsergebnis zur Tagesordnung ermittelt wird, wirkt er zunehmend genervt. Es wäre jetzt „total hilfreich“, wenn ihm auch mal einer das Ergebnis mitteilte: „‚Formalia‘ ist wirklich mein allerliebster Tagesordnungspunkt.“

Als noch immer nichts passiert, versucht er es nicht mehr mit Sarkasmus, sondern einem Witz, um die Zeit zu überbrücken. Bei den Grünen könnte der eigentlich als sexistisch durchgehen. Ausgerechnet Staatsministerin Claudia Roth und die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann müssen als Lückenbüßer herhalten: „Ich bin wirklich beeindruckt, dass Ihr den Farbton getroffen habt“, urteilt Kellner über ihr Äußeres. Und das in einer Partei, die immerhin Ombudspersonen für Fälle sexueller Gewalt vorhält. Wohlgemerkt auf Grünen-Parteitagen!

Aber derartige Missgeschicke sind in Corona-Zeiten fast unvermeidlich. Man kann ja nicht einfach minutenlang nichts sagen. Andernfalls wäre es auf digitalen Parteitagen so, als ob in einem Blockbuster die Schauspieler plötzlich das Spiel unterbrächen und minutenlang in das Script starrten, bevor es irgendwann weiter ginge. Es müssen Lückenfüller her, um den Strom der Inszenierung nicht zu unterbrechen. Im Ergebnis entsteht ein Format, das mit einem eigentlichen Parteitag nur noch wenig zu tun hat.

Lückenfüller werden zum Hauptakt

Früher waren sie einmal hohe Feste. Alles, was Rang und Namen hatte oder haben wollte, bewarb sich um ein Mandat. Und stets stand das argumentative und machtpolitische Ringen um den richtigen Kurs im Vordergrund. Auf diesen Zusammentreffen wurden einmal die Seelen politischer Parteien verhandelt. Und politische Führungskräfte aufs Schild gehoben oder abgesägt.

Seit Corona jedoch steht mehr denn je die Inszenierung im Vordergrund, und zwar weil schon das Medium dies erzwingt. Es treffen durch Film und Fernsehen geprägte Rezeptionserwartungen des Publikums auf Phasen organisatorisch bedingten Leerlaufs. Diese Lücken wollen gefüllt werden und rücken so unweigerlich ins Zentrum der Veranstaltung.

Die wichtigsten Lückenfüller bei den Grünen sind die professionellen Moderatoren Ninia LaGrande und Marco Ammer. Sie sollen wie Conférenciers durch den Abend führen und die Langeweile vertreiben. Dazu werden Grußvideos aller Landesverbände ausgestrahlt, Menschen hinter der Technik ins Rampenlicht gerückt oder zahllose Lückenfüller-Interviews mit Funktionären geführt. Und am heutigen Tag verbrachten LaGrande und Ammer sogar Minuten damit, vor laufenden Kameras über allerlei Sukkulenten zu plaudern. Auf einem Parteitag!

Schlagworte malen statt Namen tanzen

Als ersten Gast holten sie schon kurz nach der Eröffnung eine junge Illustratorin auf die Bühne, denn die Medienprofis von den Grünen haben sich etwas ganz Hippes ausgedacht: Auf diesem Parteitag werden keine Namen mehr getanzt, sondern Schlagworte live auf einem Tablet gemalt.

Das Rätsel, was das Ganze eigentlich soll, wird über den gesamten Abend hinweg nicht aufgelöst, und ein wenig zerstört sich die Inszenierung auch sogleich von selbst. Die junge Illustratorin nämlich lässt sich im Gespräch entlocken, dass sie pro Werk eigentlich ein bis drei Stunden benötige und daher in Abstimmung mit den Organisatoren des Parteitages schon einiges vorgezeichnet habe.

Und so entsteht eine Choreografie, in der die Redebeiträge fast wie die eigentlichen Werbeeinspielungen erscheinen und gänzlich unverbunden nebeneinander stehen. Keine hitzige Debatte, kein Austausch von Argumenten, rein gar nichts. Stattdessen wird in den meisten der neun „gesetzten“ Redebeiträge ranghoher Parteimitglieder und in den 36 ausgelosten Redebeiträgen einfacher Mitglieder steif vom Teleprompter abgelesen. Absolut nichts bleibt dem Zufall überlassen.

Nur der Vizekanzler ist der Partei voraus

Dabei hätten die Grünen dieser Tage einiges zu diskutieren, und es ist allein der scheidende Bundesvorsitzende Robert Habeck, der es auch zur Sprache bringt. Während die Partei sich und ihren Wahlsieg mit allerlei Inszenierungen noch einmal feiert, legt der grüne Wirtschaftsminister in einer engagierten Rede den Finger in die Wunde. Er ist ihr schon ein paar Monate voraus.

Erst vor wenigen Tagen musste ausgerechnet er ein Förderprogramm der KfW für energieeffiziente Gebäude wegen viel zu vieler Anträge stoppen. Das sorgte im eigenen Milieu für reichlich Irritationen. Das KfW-Programm sei aber „völlig aus dem Ruder gelaufen“ und strotze vor „Mitnahmeeffekten für Leute, die es nicht nötig haben“. Das müsse er beenden. Habeck will, dass die Grünen nach 16 Jahren Opposition wieder in der Realität ankommen.

Viel Zeit verwendet er deshalb darauf, für den Kern des Politischen in einer Demokratie zu werben. Es sei unmöglich, sich immer durchzusetzen. Kompromisse seien daher nichts Schlechtes, sondern vielmehr die „Kunst der Politik“. An parteiinterne Kritiker richtete er energisch die Frage: „Glaubt denn irgendjemand, dass die Welt besser wäre, wenn das andere machen würden?“ Habeck versuchte als erster und einziger, seine Partei auf künftige parteiinterne Diskussionen über das Verhältnis von Prinzipientreue und Realitätssinn vorzubereiten.

Lang und Nouripour als neue Vorsitzende gewählt

Als Nachfolger von Habeck und Baerbock als Parteivorsitzende wurden die noch nicht einmal dreißigjährige Bundestagsabgeordnete Ricarda Lang und ihr Abgeordnetenkollege Omid Nouripour gewählt. Beide sind Studienabbrecher. Ihren Wahlergebnissen hat das nicht unbedingt geschadet. 

Lang erreichte als Einzelkandidatin nur 76 Prozent aller Delegiertenstimmen, Nouripour, gebürtiger Iraner und fast doppelt so alt wie Lang, trotz zweier Gegenkandidaten im ersten Wahlgang immerhin 83 Prozent. Er gewann dabei auch gegen Torsten Kirschke, der als Mensch mit geistiger Behinderung selbstbewusst beanspruchte, die Partei im Sinne der Inklusion und Gleichberechtigung aller Menschen führen zu wollen. Programmatisch wäre das für die Grünen durchaus konsequent gewesen. Aber so kam es nicht. Kirschke konnte nur 60 von 752 Stimmen auf sich vereinen. Das könnte Stoff zum gründlichen Nachdenken geliefert haben.

Insbesondere die Wahl Langs wird man dabei so interpretieren müssen, dass der Staat den Grünen mit ihrem Eintritt in die Regierung das Spitzenpersonal für Parteiämter wie mit einem Staubsauger abgezogen hat. Die Trennung von Amt und Mandat hat eben nicht nur Vorteile. Nouripour wird der Hund sein, der bei den Grünen mit dem Schwanz Lang wedelt.

Die Regierung als Machtzentrum der Partei

Auf die Machtarchitektur in der grünen Partei dürfte dies allerdings wenig Einfluss haben. Lang und Nouripour wird gar nichts anderes übrig bleiben, als als verlängerter Arm der grünen Regierungsmitglieder und der Bundestagsfraktion in die Partei hineinzuwirken und sie mit der Realpolitik der Regierung zu versöhnen. Andernfalls droht ein Ansehensverlust der Partei in der Öffentlichkeit durch parteiinternen Streit.

Die neue Vorsitzende äußert sich offiziell anders. Lang, die wegen einer Corona-Infektion von zu Hause zu den Delegierten sprechen musste, kündigte so zum Beispiel an, „über den Koalitionsvertrag hinausdenken“ zu wollen. Das hörte sich bei Nouripour, der seit 2006 dem Deutschen Bundestag angehört und über große politische Erfahrung verfügt, schon etwas anders an. Er nämlich „habe so Lust darauf“ – und er meinte das Regieren.

Und das ist ziemlich naheliegend. Bei jeder regierenden Partei schlägt das Herz der Macht in den Ämtern des Staates und nicht in den Basisgruppen der Partei. Warum das so auch sinnvoll ist, gab der scheidende Vorsitzende Habeck in seiner Abschiedsrede allen Mitgliedern noch mit auf den Weg. Die Partei sei schließlich „kein Selbstzweck“, sondern zum Gestalten da.
 

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