Reichelt-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Karlsruhe spricht ein Machtwort zur Meinungsfreiheit

Die Kritik des Journalisten Julian Reichelt an der Bundesregierung ist zulässig – das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden. Das Urteil ist auch eine Ohrfeige für die Innenministerin und den Verfassungsschutzpräsidenten.

„Nius“-Chef Julian Reichelt / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Darf man in der Demokratie des Grundgesetzes die Regierung kritisieren – hart, polemisch und sogar ungerecht? Selbstverständlich darf man das. In einer Demokratie soll man das sogar. Aber seit Corona ist diese Auffassung nicht mehr unstrittig gewesen. In letzter Zeit haben sich die Ministerinnen Faeser und Paus zusammen mit Thomas Haldenwang, dem Verfassungsschützer, mit Plänen zur Einschränkung der Meinungsäußerung hervorgetan. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt: Der Schutz der Meinungsfreiheit reicht weit.

Entwicklungshilfe an die Taliban

Die Kommunikationsplattform X kann ein explosives Medium sein. Wer eine große Reichweite hat und pointiert und polemisch formuliert, erzielt große Wirkung. Wie das geht, weiß der Journalist Julian Reichelt natürlich. Im letzten Sommer setzte er einen Post ab, in dem es hieß: „Deutschland zahlte… Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!).“ Polemisch zugespitzt kritisierte er damit die Entwicklungshilfegelder, die an Afghanistan geflossen sind.

Natürlich war das starker Tobak, und natürlich kann man darüber streiten. Über solche Äußerungen politisch zu streiten – das ist freiheitliche Demokratie. Aber streiten wollte die kritisierte Entwicklungsministerin gerade nicht. Sie setzte ihre Anwälte in Marsch, um Reichelt die Äußerung gerichtlich verbieten lassen. Vor dem Kammergericht Berlin hatte sie tatsächlich Erfolg. Die Richter in Berlin werteten den Post als falsche Tatsachenbehauptung, die unzulässig sei. Die bemerkenswerte Begründung: Der Post könne das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit des Entwicklungsministeriums erschüttern und seine Funktionsfähigkeit gefährden. Deshalb untersagten die Richter Julian Reichelt, die Äußerung zu wiederholen.

Von einem Berliner Gericht lässt sich ein hartnäckiger Journalist nicht abschrecken. Reichelt geht deshalb weiter zum Bundesverfassungsgericht und macht sich um die Meinungsfreiheit verdient. Die Richter in Karlsruhe haben ihm gestern Recht gegeben. 

Eine Liebesgeschichte: Karlsruhe und die Meinungsfreiheit

Das Verfassungsgericht sieht sich selbst als Hüter der Verfassung. So ist es von den Müttern und Vätern der Verfassung auch gedacht. Dieser Aufgabe wird es bei weitem nicht immer gerecht. In der Coronazeit hat es viele Hoffnungen enttäuscht und nichts für den Schutz der Grundrechte vor extremen Einschränkungen getan. Als Hüter der Meinungsfreiheit kann man das Gericht aber mit gutem Recht bezeichnen. Seit Beginn seiner Rechtsprechung betont es immer wieder den existentiellen Wert der Meinungsfreiheit für die Demokratie. Damit hat es von Anfang an die noch junge Demokratie in der Bundesrepublik sehr gestärkt. Ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie – von dieser Erkenntnis lässt sich das Gericht bis heute leiten. Konsequent entscheidet es im Zweifel für die Meinungsfreiheit.

 

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In dieser freiheitlichen Tradition steht der Beschluss zum Post von Julian Reichelt. Das Bundesverfassungsgericht wertet den Post nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als vom Grundgesetz geschützte Meinungsäußerung. Die Karlsruher Richter betonen, dass der Staat auch scharfe und polemische Kritik aushalten müsse. Auch Kritik am System ist nach Ansicht der Richter im Staat des Grundgesetzes natürlich erlaubt. Klar und eindeutig stellen sie fest: Gerade wenn die Macht kritisiert wird, ist der Schutz der Meinungsfreiheit besonders wichtig. Denn die Macht hasst Kritik und wehrt sich mit allen Mitteln dagegen. Das sieht man nicht zuletzt an diesem Fall. 

Eine Ohrfeige für Faeser, Paus und Haldenwang

Seit Wochen trommelt das Trio infernale Faeser, Paus und Haldenwang für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Thomas Haldenwang, der oberste Verfassungsschützer, betont, die Meinungsfreiheit sei kein Freibrief. Sein Dienst dürfe sich nicht nur auf extremistische Taten konzentrieren, er solle auch Denk- und Sprachmuster ins Visier nehmen. Seit Corona beobachtet er auch Menschen, die durch ihre Kritik den Staat und seine Institutionen „delegitimieren“. Darunter versteht er Kritik, die geeignet ist, staatliche Institutionen verächtlich zu machen und zu beschädigen. Aus seiner Sicht ist der Post von Julian Reichelt sicher eine Delegitimierung des Staates, keine geschützte Meinungsäußerung. Gut, dass die Karlsruher Richter das anders sehen.

Nancy Faeser und Lisa Paus arbeiten ebenfalls daran, die Grenzen der Meinungsfreiheit enger zu ziehen. Sie betonen immer wieder, dass auch Äußerungen, die nicht strafbar sind, vom Staat beobachtet und sanktioniert werden könnten. Welch eine Verkennung der Meinungsfreiheit, wie sie sich das Grundgesetz vorstellt. Und welch ein seltsames Verständnis von freiheitlicher Demokratie. Wie gut, dass das Verfassungsgericht diesen Ideen eine klare Absage erteilt. Die Richter in Karlsruhe befördern die Idee von der Delegitimierung des Staates dahin, wo sie hingehört: ins verfassungsrechtliche Abseits. Man kann es noch deutlicher sagen: Der Beschluss des Verfassungsgerichts ist eine Ohrfeige für Faeser, Paus und Haldenwang.

Politisches Timing als Statement

Man soll sich nichts vormachen: Das Verfassungsgericht ist kein Gericht wie jedes andere. Es ist auch ein politischer Akteur von Gewicht. Man kann, man muss manche Entscheidungen deshalb auch als politische Statements lesen. In der Politik ist das Timing von großer Bedeutung. Eine Idee zur richtigen Zeit entfaltet starke Wirkung. Kommt sie zur Unzeit, wird sie ignoriert und verpufft. Literarisch hat das Victor Hugo so ausgedrückt: Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Das ist auch den Verfassungsrichtern bekannt. Dass Karlsruhe ausgerechnet jetzt diesen Beschluss trifft, ist deshalb kein Zufall.

Wann sie welche Entscheidung treffen und veröffentlichen, entscheiden die Richter ganz allein. Sie sind dabei an keine Regeln und Vorgaben gebunden. Durch das Timing ihrer Entscheidungen kann das Gericht Einfluss auf politische Debatten nehmen. Karlsruhe hätte den Reichelt-Beschluss nicht jetzt fassen müssen. Juristisch wäre es einfach gewesen, Julian Reichelt auf den klassischen Rechtsweg zu verweisen, den er noch lange nicht ausgeschöpft hatte. Das legt den Schluss nahe, dass die Richter mit diesem Beschluss ein politisches Statement setzen wollten. Die Richter ziehen eine rote Linie. Die Botschaft lautet: Die Meinungsfreiheit ist existentiell; wir dulden keine Relativierung durch Gedankenspiele von Ministerinnen und Verfassungsschutzbeamten.

Glücklich das Land, das ein Verfassungsgericht hat? Nein, unglücklich das Land, das ein Verfassungsgericht braucht. Aber gut, dass Karlsruhe in diesem Fall ein Machtwort gesprochen hat und die Regierung in ihre Schranken verweist.

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