Regierungswechsel - Alle vier Jahre wieder

Jenseits der parteipolitischen Veränderungen spiegeln sich am Tag des Regierungswechsels andere gesellschaftliche Veränderungen wider: der Vormarsch der Frauen und die schwindende Bedeutung des Religiösen. Noch nie gab es so viele Ministerinnen. Und noch nie haben so viele Kabinettsmitglieder beim Ablegen ihres Amtseides auf die religiöse Formel „So wahr mir Gott helfe“ verzichtet.

Der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir kam heute als Einziger klimaneutral in den Reichstag. / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Regierungswechsel. Das heißt: The same procedure as every four years. Kanzlerwahl im Bundestag, Ernennung des Gewählten durch den Bundespräsidenten im Schloss Bellevue, Vereidigung des Ernannten vor dem Parlament, anschließend Überreichung der Ernennungsurkunden an die Minister wiederum am Amtssitz von Frank-Walter Steinmeier, dann alle zurück in den Reichstag zur Vereidigung. Ein munterer Pendelverkehr entlang der Spree – und viel Arbeit für die Personenschützer.

Was die Wähler am 26. September mit ihrer Stimmabgabe eingeleitet haben, wird von den neu gewählten Bundestagsabgeordneten ratifiziert. Mit der Vereidigung von Olaf Scholz (SPD) als Bundeskanzler enden endgültig die Ära Angela Merkels und die 16 Jahre währende Dominanz der CDU/CSU unter der Reichstagskuppel. Auf Schwarz-Rot folgt Rot-Grün-Gelb.

Mehr Frauen im Kabinett

Jenseits der parteipolitischen Veränderungen spiegeln sich am Tag des Regierungswechsels andere gesellschaftliche Veränderungen wider: der Vormarsch der Frauen und die schwindende Bedeutung des Religiösen. Noch nie gab es so viele Ministerinnen. Und noch nie haben so viele Kabinettsmitglieder beim Ablegen ihres Amtseides auf die religiöse Formel „So wahr mir Gott helfe“ verzichtet.

Parität im Kabinett hatte nicht nur der neue Bundeskanzler versprochen; der gescheiterte Unionskandidat Armin Laschet hatte dies ebenfalls zugesagt. Acht Ministerinnen – vier von der SPD, drei von den Grünen und eine von der FDP – sind eine stattliche Zahl. Sein Paritätsversprechen hat Scholz dennoch nicht eingelöst: Wenn von 17 Ministern acht weiblich sind, haben die Männer mit neun zu acht immer noch die Mehrheit. 17 durch 2 ergibt eben 8,5. Als Finanzminister konnte Scholz zwar „Abermilliarden“ herbeizaubern, doch halbe Minister kann er – Geschlecht hin, Parität her – nicht präsentieren.

Als Scholz am Tag vor der Kanzlerwahl darauf angesprochen wurde, versuchte er sich herauszureden. Unter den 16 Ministerinnen und Ministern seien acht Männer und acht Frauen. „Selbstverständlich wird es dann noch einen Bundeskanzler geben, der für alle zuständig ist.“ Da tut Scholz so, als gehörte er gar nicht zum Kabinett, sondern schwebte als höchste Instanz darüber. Der Jurist Scholz müsste es freilich besser wissen. Artikel 62 Grundgesetz ist eindeutig: „Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern.“

Regieren mit und ohne Gottes Hilfe

Mehr Frauen im Kabinett. Damit liegt die Politik im Trend. Dem gesellschaftlichen Wandel entspricht ebenfalls, dass Scholz bei der Eidesleistung darauf verzichtete, den Beistand Gottes zu erbitten. Der erste sozialdemokratische Kanzler, Willy Brandt, hatte 1969 ganz selbstverständlich die religiöse Formel hinzugefügt, obwohl er kein bekennender Christ war. Aber damals schien es dem Sozialdemokraten ratsam, die bei der Wahl von der Union hinzugewonnenen kirchlich gebundenen Wähler nicht zu verprellen. Gerhard Schröder leistete den Amtseid knapp zwei Jahrzehnte später ohne diesen Zusatz.

Die Ampel ist nun die erste Bundesregierung, in der fast die Hälfte ihrer Mitglieder (8 von 17) dem „Wohl des deutschen Volkes“ ohne Gottes Hilfe dienen will. Neben Scholz verhielten sich bei der SPD noch Entwicklungsministerin Svenja Schultze und Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt so. Bei den Grünen lehnten alle fünf Kabinettsmitglieder diesen Zusatz ab. Für eine gewisse Überraschung sorgten die Freien Demokraten. Ihre vier Minister wollen ihr Amt mit „Gottes Hilfe“ ausüben, selbst der aus der Kirche ausgetretene Vizekanzler Christian Lindner. 

Hohe Limousinendichte entlang der Spree

Ebenfalls zur neuen Zeit gehört, dass der Koalitionsvertrag fast auf keiner der 177 Seiten ohne Klima und Umwelt auskommt. Doch bei ihrer Amtseinführung verhielten sich Scholz, der sich als Klimakanzler sieht, und seine Minister nicht gerade vorbildlich, was ihren CO2-Fußabdruck betrifft. Es wäre ein Leichtes gewesen, wenn der Bundespräsident ins Reichstagsgebäude gekommen wäre, um dort die Ernennungen vorzunehmen und die Urkunden zu überreichen. An repräsentativen Räumen herrscht im Reichstagsgebäude kein Mangel. Das hätte den Pendelverkehr auf der zwei Kilometer langen Strecke überflüssig gemacht. Aber ein bisschen Prunk und Pomp muss wohl sein.

Nur einer machte da nicht mit: Der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir verhielt sich so, wie seine Grünen das von normalen Bürgern erwarten: Er legte die Strecke im eleganten blauen Anzug - mit Krawatte und Einstecktuch – auf dem Fahrrad zurück. Wie der Sender „Phoenix“ berichtete, überholte er dabei manche Dienstlimousine. Auf die im Koalitionsvertrag angekündigte „Stärkung des Radverkehrs“ wollte der „anatolische Schwabe“ (Özdemir über Özdemir) nicht warten. Selbst ist der Mann – selbst im feministischsten Kabinett aller Zeiten.

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