Nein, die Regierung hat zurzeit keine gute Presse. Selbst wohlmeinende Beobachter kommen mehr und mehr zu dem Schluss, dass die Verantwortlichen ein eher unglückliches Bild abgeben. Zunehmend etabliert sich der Eindruck eines Komplettversagens. Katapultierte die Krise die Regierenden noch vor Jahresfrist in ungeahnte Umfragehöhen, scheint sie aktuell alle Beteiligten in den Umfrageabgrund zu reißen. Die Regierenden – ein Trupp von Stümpern?
Das sagt sich leicht daher. Aber ist das wirklich so? Vermutlich werden Sie jetzt denken: Man soll sie an ihren Taten messen. Und weder das Theater um die Masken noch das Impfdesaster oder das Testdurcheinander sprechen für hohe Regierungskunst. Mag sein. Aber denken wir uns die gleiche Situation einfach mit einem anderen Figurentableau und stellen uns die nur scheinbar naive Frage, ob irgendetwas anders gelaufen wäre. Die Antwort liegt auf der Hand.
Das Gesicht des Bösen
Es ist seltsam: In der Geschichtsschreibung sind die großen Männer schon lange passé, vor Jahrzehnten wurde sogar der Tod des Autors verkündet, später der Tod des Subjekts – doch im Alltag glauben wir noch immer an die Macht einzelner Entscheidungsträger. Nach Jahrzehnten antiautoritärer Erziehung ein bemerkenswertes Ergebnis.
Auch der sich aufgeklärt wähnende Mensch des frühen 21. Jahrhunderts hat offensichtlich immer noch das unstillbare Bedürfnis, Eigenschaften und Ereignisse symbolisch zu personalisieren. Fast zwanghaft geben wir dem Guten, dem Bösen, dem Erfolg oder dem Scheitern ein menschliches Gesicht. Anthropologisch ist das wenig überraschend. Die Vorstellung von Göttern entstand so. Doch inzwischen sollten wir es eigentlich besser wissen.
In hoch differenzierten Gesellschaften entscheidet kein Einzelner
Moderne Gesellschaft lassen sich nicht regieren wie einst das Frankreich des Sonnenkönigs: in der Mitte die Zentrale, die bis in die Peripherie hinein alles steuert. Selbst unter den Bedingungen einer autoritätsgläubigen und übersichtlich strukturierten Feudalgesellschaft hat das nur bedingt funktioniert. In der Massengesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihren zahllosen Institutionen, Vernetzungen und Entscheidungsebenen ist das vollkommen unmöglich.
In den hoch differenzierten Gesellschaften unserer Moderne entscheidet kein Einzelner. Auch keine Gruppe. Man denke an die aktuelle Situation: Da gibt es das Bundesgesundheitsministerium, 16 Landesgesundheitsministerien, etwa vierhundert Gesundheitsämter, wissenschaftliche Berater, das RKI, gesundheitspolitische Sprecher der Parteien und Fraktionen, Pharmaunternehmen, Ärzteverbände, medizinische Institute, Krankenkassen undsoweiter. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Probleme liegen in der Architektur des Systems
Unter diesen komplexen Systembedingungen ist die rührende Idee der politischen Verantwortung im Grunde naiv. Letztlich ist es das System, das handelt. Das wusste schon der Soziologe Niklas Luhmann. Bei ihm klingt das dann allerdings etwas kompliziert: „Funktionale Differenzierung treibt die Ausdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme ins Extrem einer vollen, eigenen, autopoietischen Autonomie.“
Auf unser Problem angewandt: Politiker sind allenfalls Symbole der Macht. Das klingt fatalistisch? Vielleicht. Doch um die Probleme zu erkennen, dürfen wir uns nicht mit albernen Schuldzuweisungen aufhalten. Die Probleme liegen in der Architektur des Systems selbst. Und wenn etwa mit der EU-Bürokratie noch ein zusätzlicher Spieler auf das Spielfeld drängt, dann wird klar, dass die Ineffizienz und Dysfunktionalität unserer Gesellschaft eher weiter zunehmen wird.
Dezentralisieren und lokal handeln
Das ist auch deshalb heikel, weil es Misstrauen in die politischen Institutionen sät und bei dem Einzelnen ein Gefühl der Ohnmacht hinterlässt. Die Lösung des Problems? Ist seit langem bekannt: Dezentralisieren, verschlanken, regionalisieren, lokal agieren, Subsidiarität. Der Wahn des allzuständigen Staates droht sich selbst zu ersticken. Niemand braucht für eine Impfung sechs Durchschlagsformulare und drei Beglaubigungen: Der Bürger muss mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen. Das wäre immerhin ein erster Schritt.