NSU 2.0 - Das Phantom aus dem Wedding

Ein arbeitsloser Berliner soll als „NSU 2.0“ volksverhetzende Morddrohungen verschickt haben – überwiegend an Frauen. Seine Festnahme entlastet die hessische Polizei, die selbst lange im Verdacht stand. Doch noch immer ist unklar, wie der Mann an die Privatadressen seiner Opfer kam.

Die Drohbriefe des „NSU 2.0“ hielten das Land in Atem / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Mehrere anonyme Drohschreiben an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz haben 2018 einen Skandal um rechtsextremistische Umtriebe innerhalb der hessischen Polizei ausgelöst. Denn die Ermittler folgten einer Spur, die in ein Frankfurter Innenstadtrevier führte. Sie stießen auf Beamte, die in einer Handychatgruppe Hitlerbilder und Hakenkreuze ausgetauscht haben.

Der Fall wurde zum Politikum, zumal bald noch weitere Fälle aus anderen Polizeieinheiten des Landes ans Licht kamen. Sogar ein illegales Waffenlager mit Sprengstoff und Kriegswaffenmunition wurde dabei ausgehoben. Gegen vier ehemalige hessische Polizisten hat die Staatsanwaltschaft bislang Anklage erhoben.

53-jähriger Arbeitsloser, einschlägig vorbestraft

Am Montag ist den Ermittlern der nächste Erfolg gelungen – und zwar ein spektakulärer. Spezialkräfte des hessischen Landeskriminalamts (LKA) haben im Berliner Stadtteil Wedding den mutmaßlichen Urheber der mit „NSU 2.0“ unterzeichneten Drohschreiben festgenommen. Laut einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft und des LKA handelt es sich um einen 53-jährigen Arbeitslosen, der bereits wegen zahlreicher „unter anderem auch rechtsmotivierter“ Straftaten verurteilt worden ist. Polizist war er demnach nie, weder in Hessen noch in einem anderen Bundesland.

Ob und wie der Mann im Kontakt zu jenen Frankfurter Beamten stand, die Daten der Rechtsanwältin Basay-Yildiz abgerufen hatten, lässt die Staatsanwaltschaft Frankfurt offen. Diese Frage sei Gegenstand der laufenden Ermittlungen, heißt es dazu nur.

Kleine Wohnung mit vielen Bildschirmen

Aus Sicherheitskreisen ist zu hören, der Festgenommene lebe isoliert in einer sehr kleinen Wohnung, die mit zahlreichen Bildschirmen ausgestattet sei. Von dort aus verfolge er das politische Geschehen und sei im sogenannten Darknet unterwegs, einem versteckten Teil des Internets.

Der Mann sei hochintelligent und habe die Arbeits- und Ausdrucksweise von Behörden durchdrungen. Dadurch sei er in der Lage, sich am Telefon als Beamter auszugeben. Womöglich sei er auf diese Weise an die Meldedaten der Anwältin herangekommen. Der Berliner scheint eine Art Hauptmann von Köpenick zu sein, der sich womöglich das Vertrauen der Frankfurter Polizisten erschlichen hat. Deren rechtsradikale Chatgruppen wären dann ein eher zufälliger Beifang der Ermittlungen. 

An der politischen Gesinnung des Tatverdächtigen selbst gibt es nicht viel herum zu deuten. Die mutmaßlich durch ihn verfassten Faxnachrichten an Basay-Yildiz sprechen eine eindeutige Sprache. „Miese Türkensau!“, beginnt das erste „NSU 2.0“-Schreiben an die Anwältin. „Du machst Deutschland nicht fertig. Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du Schwein!“

Anwältin verteidigt auch Islamisten

Für die Juristin sind solche Beschimpfungen nichts Ungewöhnliches. Sie verteidigt islamistische Terrorverdächtige und trat im Strafprozess gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) als Nebenklage-Vertreterin auf. Dass sich Rechtsradikale in wütenden E-Mails und Briefen an ihr abarbeiten, war damals nichts Neues. „Ich ignoriere das normalerweise einfach“, sagte sie 2018. „Doch diesmal ging es zu weit.“

Denn in dem Telefax, das sie am 2. August 2018 erhielt, waren der Name ihrer Tochter sowie ihre Privatadresse enthalten. Basay-Yildiz erstattete Strafanzeige. Die Ermittlungen der Kriminalpolizisten des Staatsschutzes führten daraufhin zu jener Meldeabfrage im 1. Revier, die den hessischen Polizeiskandal ins Rollen brachte.

Bundesweite Serie an Drohschreiben

Weitere, ähnliche Schreiben folgten. Auch an andere Adressaten in ganz Deutschland. Mindestens 133 E-Mails, Briefe oder Faxe waren es insgesamt. Die meisten waren an Frauen adressiert. Die Ermittler gehen offenbar davon aus, dass einige dieser Schreiben ebenfalls aus der Einzimmerwohnung im Wedding kamen. Denn in der Pressemitteilung heißt es, der Beschuldigte stehe „in dringendem Verdacht, seit August 2018 unter dem Synonym ‚NSU 2.0‘ bundesweit eine Serie von Drohschreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten verschickt zu haben.“

Das Einsatzkommando des hessischen LKA hat am Montag in Berlin auch einige Datenträger des Beschuldigten beschlagnahmt. Diese würden nun ausgewertet. Falls sich darauf doch noch Hinweise auf direkte Verbindungen zu hessischen Polizisten finden, wäre das für Landesinnenminister Peter Beuth (CDU) eher unangenehm.

Hessens Innenminister reagiert erleichtert

Denn Beuth steht wegen des Polizeiskandals unter massivem Beschuss der Opposition und der Medien. Auf den jüngsten Erfolg des von ihm eingesetzten Sonderermittlers reagierte er daher mit Erleichterung. „Wenn sich der Verdacht bewahrheitet, können Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische Polizei aufatmen. Die Drohschreiben hatten einen sehr schwerwiegenden Verdacht auf die Polizei gelenkt. Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die NSU 2.0-Drohmailserie verantwortlich.“

Über die anderen im Zuge des Skandals aufgedeckten Rechtsextremismus-Fälle in den eigenen Reihen verlor der oberste Dienstherr der hessischen Polizei in seinem schriftlichen Statement kein Wort.

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