Politikernamen in der Gebärdensprache - Die hängenden Merkel-Mundwinkel sind tabu

Bislang hieß Annalena Baerbock in der Gebärdensprache „die mit dem Grübchen". Doch weil dieser Name zu alltäglich war, haben gehörlose Aktivisten jetzt eine neue Gebärde gefunden. Wie Politiker zu ihren kuriosen Namen kommen und welche Regeln dabei gelten, erklärt eine Gebärden-Dolmetscherin.

„Die mit dem Pottschnitt“: So heißt die Kanzlerin in der Gebärdensprache / Rose (3)
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Lemonia Rose ist gehörlos. Sie ist staatlich anerkannte Dozentin für die Ausbildung deutscher Gebärdendolmetscher. Das Interview mit Cicero hat ihr Mann Thorsten gedolmetscht, der in Köln eine Schule für Gebärdensprache betreibt. 

Frau Rose, in der Gebärdensprache hieß die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bislang „die mit dem Grübchen“. Jetzt haben grüne, gehörlose Aktivisten eine Umfrage gestartet, ob eine Kombination aus Bär und Bock nicht besser wäre, weil Grübchen zu harmlos klinge. Ist das ein Witz?

Na ja, was heißt hier Witz? Diese Grübchen sind in der Gehörlosensprache schon sehr stark verbreitet, so wie jeder zweite Mensch mit Nachnamen Müller heißt, hat auch jeder zweite das Grübchen als Gebärdenname. Man tippt dann mit dem Zeigefinger einfach neben den Mundwinkel. Um klar zu unterscheiden, dass es hier um Annalena Baerbock geht, wurde diese Diskussion losgetreten. Inzwischen wurde ein neuer Gebärdenname für sie mit einer Umfrage gefunden.

Und wie sieht diese Gebärde aus?

Die Hand springt kurz ans Ohr. Sie formt mit den Fingern ein N aus dem Fingeralphabet, weil der Buchstabe doppelt in Annalena vorkommt. Die Gebärde leitet sich von den längeren Ohrringen ab, die Annalena Baerbock häufig trägt. Es ist aber auch eine Anspielung an ihre frühere Sportler-Karriere als Trampolinspringerin. So funktioniert die Vergabe von Gebärdennamen immer. Man schaut sich den Namen der Person an, wie sie aussieht und was sie in ihrer Freizeit treibt. Aus diesen Merkmalen kreirt man eine Gebärde.

Warum hat man sich in diesem Fall nicht für den Nachnamen entschieden? Bär und Bock, so eine Kombination dürfte einzigartig sein.

Jein. Baerbock sind zwei Tiernamen in einem, man versucht in der Gebärdensprache aber immer eine Gebärde zu machen.

Das heißt ja, dass Gehörlose jetzt zum ersten Mal in den Wahlkampf eingreifen, oder ist es schon mal vorgekommen, dass man für eine Gebärde für einen Politiker eine andere Gebärde gesucht hat, um ihn einzigartiger zu machen?

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Nein, in der Form war es das erste Mal. Es war eine Initiative von grünen Aktivisten, die aktiv gesucht haben. Dabei ist es generell schon üblich, dass Gehörlose für Politiker gemeinsam Gebärden entwickeln.

Aber was macht Sie so zuverlässig, dass eine grüne Kanzlerin die Belange der Gehörlosen besser vertritt als andere Parteien.

Man stößt bei den Grünen tatsächlich auf mehr Fürsprache für die Belange Gehörloser als bei der CDU oder bei der SPD. Sie waren zum Beispiel die erste Partei, die auf ihren Parteitagen Gebärdendolmetscher für gehörlose Menschen hinzugezogen hat. Das war der erste Schritt. Sie zeigen sich auch sehr offen für gehörlose Mitglieder.

Welche Gebärde gibt es denn für die amtierende Noch-Kanzlerin?

Bei Angela Merkel waren das anfangs die kurzen Haare, dieser unverwechselbare Pottschnitt. Der hatte sich schon vor dem Siegeszug der sozialen Medien etabliert.

Wird sie von den Tagesschau-Gebärdendolmetschern nicht mit hängenden Mundwinkeln gezeigt?

Ja, ganz am Anfang hat man diese Gebärde für sie genommen, weil es so typisch ist für sie.

Aber dann hat sie sich beschwert?

Das kann sein. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es Politikern bewusst ist, wie sie in der Gehörlosen-Sprache dargestellt werden.

Aber politisch korrekt ist es eigentlich nicht, oder dürfen Sie sich darüber hinwegsetzen?

Nein, man muss natürlich auch ein bisschen auf die Political Correctness achten und Eigenschaften nehmen, die nicht die negativen Seiten einer Person hervorheben. Deshalb hat man sich entschieden, die hängenden Merkel-Mundwinkel im offiziellen Kontext nicht mehr als Gebärde zu nutzen. Neben dem Pottschnitt hat sich jetzt auch die Kanzlerinnen-Raute etabliert.

So eine staatstragende Geste hätte Markus Söder bestimmt auch gerne. Der aber heißt „der mit den zackigen Augenbrauen“. Wie ist man ausgerechnet auf den Namen gekommen?

Oh, diese Gebärde ist aber nicht offiziell. Vielleicht gibt es die schon in Bayern. Bei uns in Nordrhein-Westfalen wird Markus Söder noch nach dem Finger-Alphabet buchstabiert.

Welche Gebärde gibt es für Olaf Scholz?

Das SCH und das Z.

Gibt es nichts Auffälligeres an dem Vize-Kanzler?

Er wird wohl der nächste in der Runde sein, über den diskutiert wird. Bisher ist sich die Community noch nicht einig über eine Gebärde.

Was käme denn in Frage?

Man könnte die relativ kurzen Haare nehmen.

Was ist mit dem „Schlumpfgrinsen“, über das sich Markus Söder mal mokiert hat?

Wir sollten auch bei Herrn Scholz sachlich bleiben.

Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken hat als Typ mehr Ecken und Kanten. Macht es das leichter, eine Gebärde zu finden?

Bei Frau Esken hat man sich schon auf eine Essen-Geste verständigt, die sich aus dem Namen ableitet.

Wie sieht es aus bei Sahra Wagenknecht?

Da nimmt man die Reifen von einem Wagen.

Auch keine schmeichelhafte Gebärde für eine Politikerin, die gerne mit einer Prinzessin verglichen wird.

Na ja, in der Gehörlosensprache ist es eben nicht so, dass der Name immer aus einer Eigenschaft heraus entsteht. Als erstes guckt man, ob die Person eine hervorstechende Charaktereigenschaft hat. Wenn das nicht funktioniert, nimmt man den Namen. An dritter Stelle kommt das Aussehen.

Wer wählt denn in der Gehörlosen-Community, welche Gebärden für Politiker die offizielle wird? Gibt es da jedesmal eine Umfrage wie im Fall Baerbock?

Nein, so eine Umfrage gab es jetzt zum ersten Mal. Die neuen Medien werden aber immer bewusster eingesetzt. Ich gehe davon aus, dass dies nun öfter passieren wird. Vorher wurden Gebärdennamen einfach gestreut, und irgendwann hatte sich eine durchgesetzt. 

Menschen auf Äußerlichkeiten zu reduzieren, ist eigentlich ein Tabu. Warum gilt das nicht für Gehörlose?

Man darf nicht vergessen, dass gehörlose Menschen visuell geprägt sind. Es sind dann schon äußerliche Dinge, die ins Auge fallen, über die man spricht. Es ist aber nicht so, dass das negativ gemeint ist. Ganz im Gegenteil: Wenn jemand im Gedächtnis bleibt, bedeutet das, ich habe mir die Person gemerkt, egal, ob das an einer Narbe im Gesicht liegt oder an einer größeren Nase. Das ist nicht beleidigend gemeint.

Wir leben in einer Zeit, wo jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Sollten da nicht auch Gehörlose sensibler werden – besonders dann, wenn sie mit den Grünen sympathisieren, die ja keinen Spaß verstehen, wenn es um Identitätspolitik geht?

Nein, so eine Namensgebärde ist immer auch ein Privileg. Man muss sie sich verdienen. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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