Politik und Moralismus - Deutschland im Spiegel

Der deutsche Außenminister hatte den USA im Januar einen Marshallplan für Demokratie vorgeschlagen. Hinter dieser Hybris der Moralmeister gegenüber den USA verbirgt sich eine linke Spielart des deutschen Nationalismus, schreibt unser Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer.

Gekommen, um zu moralisieren: Heiko Maas / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Joschka Fischer, grüner Außenminister unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder, lieferte der Neuen Zürcher Zeitung die Titelzeile: „Wir müssen es mit Joe Biden noch einmal versuchen.“

Wie soll man das qualifizieren? Als „große Töne spucken“, wie es zum einstigen Streetfighter der Frankfurter Revoluzzerszene passen würde? Oder eher als „deutsche Töne spucken“, wie es zum selbstgewissen Gebaren der Moralnation passen würde? 

Sei’s drum, die Berliner Republik ist jedenfalls wieder ganz bei sich: Bereit, den USA nach deren Trump-Aussetzer Gnade widerfahren zu lassen, wobei das „Wir“ des einstigen Außenpolitikers Fischer die EU selbstverständlich mitvereinnahmt. Mit dieser atemberaubenden Anmaßung ist er nicht allein. Der amtierende Außenminister Heiko Maas lässt die Welt gleich noch wissen, er biete den USA „einen gemeinsamen Marshallplan für die Demokratie“ an. 

Marshallplan? So hieß nach der Befreiung von der Nazidiktatur die gigantische wirtschaftliche Hilfsaktion der USA für das darniederliegende Europa, insbesondere für das zerstörte Deutschland. 
In Fischer und Maas haben die Sieger und Helfer von damals endlich, endlich ihr Vorbild für heute: Die Deutschen, demokratische Musterschüler seit drei Generationen, schwingen sich zum Lehrer auf. 

Linke Spielart des Nationalismus

Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das „eine linke Spielart von deutschem Nationalismus“, wobei der Autor des Epochenwerks „Der lange Weg nach Westen“ tief aus dem Brunnen deutscher Vergangenheit schöpft: „Schon das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hat sich als übernationales Gebilde empfunden und leitete daraus einen Vorrang vor anderen Mächten ab. Dieses Gefühl, das Reich sei mehr als ein Nationalstaat, hat die Jahrhunderte überlebt.“ Keimt jenes Urgefühl wieder auf? 

Vom Zuchtmeister zum Moralmeister? Ach ja, die deutsche Moral: 80 Prozent der Bundesbürger wären im Falle eines Konflikts zwischen Washington und Peking für Neutralität. So ergab es eine Umfrage Anfang Januar. Das Resultat entspricht den politischen Präferenzen der letzten Jahre:
Xi Jinping hui, Trump pfui. 

Der Sturm aufs Kapitol lieferte dafür nachträglich die willkommene Rechtfertigung. Wird es Joe Biden je gelingen, sie zu widerlegen? Seine Vizepräsidentin Kamala Harris quälte sich in den Tagen der Washingtoner Wirren mit dem Shitstorm über ihr Outfit auf dem Titelbild des Nobelfrauenmagazins Vogue: Converse-Turnschuhe und ein lässiger Blazer würden dem zweithöchsten Amt der USA nicht gerecht. Allerdings gab’s Harris gleich nach der Wahl auch schon in weißer Seidenbluse und weißem Hosenanzug vom Feinsten. Und die Linke Alexandria Ocasio-Cortez, jüngste Abgeordnete der Demokraten im Repräsentantenhaus, schaffte es auf den Titel von Vanity Fair, hip gestylt, wie die angesagte Etikette es dekretiert. 

So inszeniert das demokratische Milieu seit Jacqueline Kennedy, seit Hillary Clinton, seit Michelle Obama seine First-Frauen – eine Provokation für Trumps hinterlassenes, vom Präsidenten verlassenes Populistenprekariat. 

Was ist bloß in die Deutschen gefahren?

Wer holt diese Wähler zurück? Joe Biden? Der bescheidene Sohn eines Autohändlers, der schicksalsgeprüfte Ehemann und Vater, der seine erste Frau und die gemeinsame Tochter durch einen Autounfall verlor, später einen Sohn durch Hirntumor?

Schlimmes Schicksal als Empfehlung für einen Präsidenten, der Millionen Menschen gewinnen muss, die schlimme Schicksale kennen? 

Die westliche Welt weiß alles über Amerika, bis hinein ins Familiäre der höchsten Protagonisten dieser verletzlich offenen Gesellschaft – dieser Wundertüte von Freiheit und Demokratie. 

Was weiß die westliche Welt über China? Auch alles: Volkskongress, Zentralkomitee, Politbüro, die Lager für Uiguren, die Gefängnisse für Regimekritiker und Hongkonger Freiheitskämpfer; das Verschwindenlassen des regimefernen Multimilliardärs Jack Ma; der digitale Totalitarismus; die Erfassung und Überwachung der Bevölkerung in all ihrem Bewegen und Denken; die Bedrohung des demokratischen Rechtsstaats Taiwan. 

Die Aufzählung gipfelt im Führerkult um den stets ausdruckslosen Machthaber Xi Jinping, eine Mischung aus auferstandenem Mao Zedong und digitalem Stalin. 

Kann es da eine Position geben zwischen China und den USA? Äquidistanz? Neutralität? 
Was ist bloß in die Deutschen gefahren? 

Den Zeiten angepasste deutsche Moral

Ist es der alte antimoderne Reflex, einst auch von Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ gepflegt: erhabene deutsche Kultur gegen verächtlich westliche Zivilisation – heute selbstverständlich den Zeiten angepasst als erhabene deutsche Moral gegen verächtliche amerikanische Randale? 

Im gleichen dunklen, dünkelhaften Humus gedeiht der geschichtsvergessene linke Reflex gegen die USA, diesen Ausbund kapitalistischer Verhältnisse. Das Motiv von der Befreiernation als Schurkenstaat, den es zu bekämpfen gilt, klang bereits gleich nach dem Krieg an: in der sozialdemokratischen Reserve gegenüber der Westbindung der Adenauer-BRD. Aggressiv aufgefrischt wurde es von der 68er-Bewegung, die Ikonen des Dritt-Welt-Totalitarismus wie Mao Zedong, Ho Chi Minh oder Fidel Castro gegen Amerikas gehasste amoralisch-kapitalistische Klasse ins Feld führte und sich sogar hineinsteigerte in Begeisterung für Ajatollah Chomeini als Befreier Irans vom Joch des CIA-Schahs Reza Pahlavi. Schließlich kulminierte die Wut auf die Weltmacht des Westens in Boykottpolitik gegen Israel, zwar die einzige Demokratie im Nahen Osten, aber trefflich geeignet als Ersatzschurke für islambeseelte linke USA-Basher. 

In Deutschland feiern rechte und linke Abwehrinstinkte gegen die freiheitliche Gesellschaftsordnung fröhliche Urständ. Und wenn schon Kapitalismus, dann bitte den der Volksrepublik China, der als Amalgam von kommunistischer Parteimacht und kapitalistischer Wirtschaft durchaus einen gelungenen Faschismus des 21. Jahrhunderts abgeben könnte. Überdies ist die deutsche Automobilindustrie längst existenziell auf das Wohlwollen der KP Chinas angewiesen. 
Wohin des Weges, Westdeutschland? 

Deutschland auf dem Weg nach Westen?

Das europäisch-chinesische Investitionsabkommen, von der China-duldsamen Kanzlerin durchgesetzt, könnte stracks in Abhängigkeit von dieser aggressiven und hochgerüsteten Diktatur führen – und durch die Renationalisierung Amerikas auf kürzestem Wege in die politische Spaltung zwischen USA und EU. 

Was geschieht, wenn China die Gunst der Stunde nutzt und militärisch vom Festland auf die Insel Taiwan übersetzt? 

Deutschland wird sich besorgt zeigen – allerdings kaum besorgter als um den Absatz neuester Mercedes-­Modelle an etablierte Genossen in Schanghai oder Peking. 

Vor 150 Jahren inszenierte Otto von Bismarck die Reichsgründung mitsamt Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Anton von Werner verewigte den Festakt in zwei monumentalen Gemälden als Sinnbild des deutschen Macht-Triumphalismus – und des deutschen Sonderwegs. 
Spiegel gibt es in Berlin genug. Zeigen sie Deutschland auf dem Weg nach Westen?
 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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