Political Correctness versus Realität - Ostholsteiner Lektionen

Vulnerabilität, Empfindlichkeit und Traumatisiert-Sein scheinen mittlerweile eine Art Statussymbol zu sein. Doch Sophie Dannenberg macht im Urlaub eine erfrischende Erfahrung: Sie trifft auf Grobheit, ganz ohne Triggerwarnung.

In Ostholstein trifft Sophie Dannenberg auf die Realität / dpa
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Mein Urlaub an der Ostsee verlief nicht ganz so entspannt wie gedacht. Gleich zu Anfang gab es in der Familie einen medizinischen Notfall, und ich musste den Rettungswagen rufen. Während die Sanitäter mit irgendwelchen Geräten und Infusionen hantierten, fragte der Notarzt, breites Gesicht, kerniger Ostholsteiner Akzent, nach der Medikation des Patienten. Ich erklärte, dass gerade ein bestimmtes Medikament abgesetzt wurde und nun ein neues angesetzt werden müsse. Daraufhin der Notarzt, mit Seitenblick auf den derangierten Kranken: „Na, ob wir bei dem noch mal irgendwas an- oder absetzen, ist jetzt nicht mehr so klar.“ Sprach’s und verabschiedete sich mit Blaulicht in die Nacht. 

Tatsächlich empörte mich die Bemerkung erst hinterher, als alles gut ausgegangen war, und dann musste ich schon darüber lachen. Das Verhalten des Ostholsteiner Arztes passte so gar nicht in unsere Zeit, wo nach jedem größeren Unglück von allen Seiten die Traumatherapeuten angerannt kommen, um mit den Überlebenden EMDR (Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) zu machen. Oder wo Professoren vor ihren Vorlesungen Triggerwarnungen aussprechen, damit sich zarte Seelen rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Oder wo sich jeder im Internet auf Hochsensibilität testen lassen kann, um dann in entsprechenden Foren die eigene Empfindlichkeit zu feiern.

Erfrischende Grobheit

Nicht, dass ich was gegen Traumaforschung oder wirksame Therapien oder empfindsame Menschen hätte, aber inzwischen ist Vulnerabilität geradezu ein Ideal unserer Epoche geworden. In satten Zeiten gilt das Dünnsein als Statussymbol, in sicheren Zeiten wohl das Traumatisiertsein. Und die Epoche, fordern wir, soll darauf eingehen, sprachlich, psychologisch, politisch. Als würde es keine Welt mehr geben, nur noch Verhalten. Unser Leben oszilliert wie das von Kindern zwischen den Polen Gefährdung und Behütung. Und es sind immer die anderen, die für beides verantwortlich sein sollen. 

Der Ostholsteiner Arzt dagegen machte mir klar, dass wir in einer Welt der Scheinsensibilität leben, in einer kapriziösen Inszenierung der Möchtegernverletzten. Es ist eigenartig, auf dialektische Weise sogar erfrischend, im Zustand der allgemeinen Traumasehnsucht auf Grobheit zu treffen. Die ist zwar eklig, aber echt. Die Realität spielt sich eben immer ohne Triggerwarnung ab. Warum sollte es auch anders sein?

Diesen Text finden Sie in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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