Nach Beschluss zum „Flügel“ - Implodiert der „gärige Haufen“ AfD?

Die Führung der AfD nutzt die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, um den völkisch-nationalistischen „Flügel“ mit Björn Höcke an der Spitze zurechtzustutzen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Partei das aushält - oder zerbricht.

Höcke, Gauland, Meuthen: Es brodelt in der AfD / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Das letzte Jahr schien wie ein unaufhaltsamer Durchmarsch für Björn Höcke, Landeschef der Thüringer AfD und Galionsfigur des völkisch-nationalistischen „Flügels“: Zuerst wurde die AfD in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Brandenburg und Thüringen zweitstärkste Kraft mit jeweils deutlich über 20 Prozent - das ist Volksparteistärke.

Eine beispiellose Torpedierung

Auf dem AfD-Parteitag Ende November flogen dann mehrere Gegner des „Flügels“ aus dem Bundesvorstand, die sich im Sommer öffentlich gegen Höcke positioniert hatten. Und zuletzt gelang Höcke mit der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten in Thüringen eine beispiellose Torpedierung der „Altparteien“. Von so viel Einfluss auf das politische System können die Landesverbände im Westen der Republik nur träumen. 

Dass die Parteiführung nun fast geschlossen die Auflösung jener „Partei in der Partei“ fordert, ist vor diesem Hintergrund eine unerwartete Wendung in der Geschichte der AfD. Denn die meisten Vertreter in der heutigen Führung der Partei hatten zuletzt betont, dass der von Höcke 2015 begründete „Flügel“ ein integraler Bestandteil der AfD sei. Die Stärke der Partei wurde gerade darin gesehen, dass es sowohl die „parlamentsorientierten“ Politprofis gab, als auch die Polterer vom „Flügel“, dessen Unterstützer sich eher als Kämpfer einer außerparlamentarischen Bewegung sahen - und damit auch kaum Berührungsängste mit Pegida oder der Identitären Bewegung hatten.

Keine tiefen ideologischen Gräben

Der „Flügel“ erinnerte in den letzten Tagen, als man merkte, dass sich da etwas zusammenbraute, an die Bekenntnisse des Parteiestablishments auf seiner Facebookseite: „Der Flügel ist eine ganz wichtige Strömung innerhalb der Partei“ sagte die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel noch im Februar, „Der Flügel ist ein Bestandteil in dieser Partei“ der neue Bundessprecher Tino Chrupalla nach seiner Wahl Anfang Dezember letzten Jahres. Woher kommt nun das plötzliche Umdenken?

Es kommt sicher nicht daher, dass zwischen den gemäßigten AfD-Mitgliedern und den „Flügel“-Leuten tiefe ideologische Gräben bestehen würden. Wenn Flügler die von der Bundesregierung geplante  „Umvolkung“ anprangern, sagen die Gemäßigten in der Partei: Im Prinzip habt ihr Recht, aber das Wort „Umvolkung“ darf man nicht verwenden. 

Die letzte Chance

Hinter der Entscheidung des Bundesvorstands, den „Flügel“ zur Selbstauflösung aufzufordern, steht die Angst, dass dieser Moment das letzte „window of opportunity“ sein könnte, um die Höcke-Fraktion in der Partei zurecht zu stutzen. Denn die Macht der parteiinternen Bewegung, die laut Verfassungsschutz 7000 Mitglieder hat - insgesamt hat die AfD gut 30.000 Mitglieder - geht inzwischen darüber hinaus. In vielen Landesverbänden nutzen AfD-Politiker das gut organisierte „Flügel“-Netzwerk, um sich Mehrheiten zu verschaffen.

In Baden-Württemberg musste Alice Weidel persönlich sich für den Chefposten im Landesverband bewerben, um eine Übernahme durch den vom „Flügel“ unterstützten Kandidaten zu verhindern - und konnte sich nur knapp durchsetzen. Die Fronten haben sich dadurch aber eher verhärtet. 

Es brodelt in der Partei

Dass der Verfassungsschutz die Gruppierung jüngst als rechtsextrem eingestuft und zum Beobachtungsfall gemacht hat, nutzt das Parteiestablishment nun als Vorlage, um dem gut organisierten „Flügel“-Netzwerk einen Teil seiner parteiinternen Macht zu nehmen. Und hofft gleichzeitig auf zwei Fliegen, die es mit dieser Klappe schlagen kann: Löst sich der vom Verfassungsschutz beobachtete „Flügel“ auf, könnte die Gesamtpartei aus der Schusslinie geraten. Zum anderen hofft man, mit einer Distanzierung vom „Flügel“ auch im Westen für breitere Schichten wählbar zu werden. Die Hamburg-Wahl hatte zuletzt gezeigt, dass die AfD im Westen - im Gegensatz zum Osten - keine Volkspartei ist, sondern darum kämpfen muss, nicht an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern.

Die Verve, mit der die „Flügel“-Unterstützer in den letzten Tagen gegen den drohenden Beschluss des Bundesvorstands agitierten, lässt aber erahnen, wie sehr es in der Partei brodelt. Dass mehrere AfD-Landeschefs die Entscheidung begrüßen, mag täuschen, denn grundsätzlich gilt: Je weiter unten in der Parteihierarchie, desto mehr Sympathien gibt es für die „Flügel“-Leute, die sich „den Mund nicht verbieten lassen“.

Gauland hielt den Deckel auf der Flasche

Selbst wenn der „Flügel“ entsprechend der Forderung des Parteivorstands nun seine Selbstauflösung beschließt - der nächste Bundesparteitag nach dem Ende der Corona-Krise wird zeigen, ob die Partei bei diesem Manöver mitzieht. Oder ob es sogar zu einer Spaltung kommt: in eine gemäßigtere West-AfD und eine radikale Ost-AfD um Höcke. 

Eines zeigt der heutige Tag ganz sicher: Alexander Gauland, AfD-Gründer und bis Ende November Vorsitzender der Partei, war eine Klammer, die mühselig zusammenhielt, was auseinanderdrängte. Er hielt den Deckel auf der Flasche, in welcher der „gärige Haufen“ (Gauland) vor sich hingärte. Den Deckel hält nun niemand mehr, und die nächsten Monate werden zeigen, was der Gärungsprozess am Ende hervorbringt.

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