Parteilose Oberbürgermeister - Die Partei hat immer recht

Freiburg, Rostock, Köln – immer mehr deutsche Städte werden von parteilosen Bürgermeistern regiert. Was hat es mit diesem Trend auf sich? Gibt es vielleicht bald auch mehr Parteilose im Bundestag?

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Martin Horn zog ohne Partei ins Rathaus von Freiburg ein / picture alliance
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Markus Bickel ist freier Journalist. Er war jahrelang Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Die Schnauze endgültig voll von Parteipolitik hatte Anke Domscheit-Berg im Juni 2014. Und das ausgerechnet auf dem Parteitag der Antiparteienpartei Die Piraten. In Halle war das, tief in Sachsen-Anhalt, dort, wo heute längst eine andere Protestpartei die Prozente einfährt, nicht mehr die jungen, wilden Verteidiger der freien Informationsgesellschaft. Mit Stichwörtern wie Liquid Feedback und Demokratie 2.0 wollten die Piraten damals dem Establishment eins auswischen; in einer modernen Netzpolitik sahen sie den Weg hin zu mehr demokratischer Beteiligung und Transparenz im politischen Betrieb.

Auch die Netzaktivistin Domscheit-Berg hatten sie damit geködert. „Du lebst wie eine Piratin, warum kommst du nicht zu uns?“, war der Satz, der die damals 44-Jährige 2012 zum Eintritt bei der angeblich so auf Transparenz bedachten Partei bewegte. Trotz aller Bedenken, die sie über die von Nerds und Hackern dominierte Männertruppe hegte. Trotz aller Abneigung gegen Parteien überhaupt, die sie mitbrachte als eine, die 21 Jahre jung war, als die SED-Diktatur 1989/1990 zusammenbrach.

Das Hoch der Piratenpartei

Inhaltlich lag dieser Schritt auf der Hand: Nach beruflichen Stationen bei Accenture, McKinsey und Microsoft hatte die erfolgreiche Betriebswirtin Ende der 2000er Jahre das Netzwerk Government 2.0 mitgegründet, das sich für die Öffnung von Regierung und Verwaltung gegenüber der Öffentlichkeit einsetzte. 2010 heiratete sie Daniel Domscheit-Berg, den Mitgründer von Wikileaks, der nach der Trennung von Julian Assange mit OpenLeaks eine eigene Enthüllungsplattform in Deutschland aufbauen wollte. Eine Digital Marriage, wenn man so will.

Wenn schon Privates und Politisches zusammenflossen in einem Leben für eine freie Informationsgesellschaft, warum sollte sie sich da nicht bei den Piraten engagieren, dachte sich Domscheit-Berg. Schließlich war sie mit ihrem Anliegen einer modernen Netzpolitik bei den Grünen gegen die Wand gefahren; ihr Engagement bei der ersten bundesdeutschen Antiparteienpartei im Berliner Bezirk Mitte beendete sie deshalb im Mai 2012.

Ein Jahr später schon übernahm sie dann den Vorsitz der Brandenburger Piraten. Auf Platz 2 der Landesliste trat sie im September 2013 für die Bundestagswahl an, im Mai 2014 auf Platz 3 der Bundesliste für die Europawahl. Nach dem Einzug in vier Landtage standen die Chancen für die Piraten damals nicht schlecht, die Netzaktivisten waren im Trend.

Männerseilschaften innerhalb der Parteien

Doch was wie eine klassische Parteikarriere begann, endete schnell – und ohne Erfolg: Beide Male verfehlte Domscheit-Berg den Einzug ins Parlament. Drei Monate nach dem Scheitern bei der Europawahl warf sie das Handtuch und legte ihr Amt als Vorsitzende des Brandenburger Verbands nieder.

Die Schlappen bei den Wahlen seien jedoch nicht der Grund für ihren Abschied von den Piraten gewesen, sagt Domscheit-Berg fünf Jahre nach dem Parteitag von Halle, wo sie auf offener Bühne verhöhnt wurde. Nicht der Karriereknick, beteuert sie, sondern Männerseilschaften hätten sie zum Abschied von der inzwischen in der Versenkung verschwundenen Protestpartei gezwungen. Wenigstens das sei bei den Grünen anders gewesen, so die bekennende Feministin, auch wenn die nie wirklich verstanden hätten, wie wichtig ein demokratischer Umgang mit der Digitalisierung für eine freie Gesellschaft sei.

Ein Ort wie gemacht für Hacker

Sich keiner Partei mehr anzuschließen, schwor sich die 1968 in Brandenburg geborene Domscheit-Berg dennoch. Denn ein weiteres Mal Lust auf Intrigen und Intransparenz hatte sie nach den Erfahrungen mit den von Mackern und Hackern dominierten Piraten im Sommer 2014 wirklich nicht. Wieder gründete sie ein Start-up, betätigte sich als Beraterin und Publizistin und half in Fürstenberg an der Havel, wo sie seit vielen Jahren lebt, ab 2015 bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen.

Eine Handvoll von ihnen sitzt gerade zum Deutschkurs in einem Raum im alten Bahnhofsgebäude der eine Stunde nördlich von Berlin gelegenen Gemeinde. Von der Couch in der früheren Wartehalle blickt man direkt auf die Gleise, alle halbe Stunde kommt ein Zug aus oder in Richtung der Hauptstadt vorbei. Ein Ort wie gemacht für Hacker und Piraten: überall Rechner, ein 3-D-Drucker und allerhand Schalter. Kabel hängen von den Arbeitstischen. Verstehbahnhof heißt der Treffpunkt für junge Leute, den sie gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Boden gestampft hat, um zu vermitteln, wie die Digitalisierung zur Entwicklung einer freieren Gesellschaft beitragen kann.

Bundestagsabgeordnete ohne Parteibuch

Denn für eine digitale Wende und mehr Demokratie kämpft Domscheit-Berg bis heute – wenn auch inzwischen als Bundestagsabgeordnete. Als einzige ohne Parteibuch, was sie unterscheidet von Frauke Petry oder Marco Bülow, die die AfD respektive die SPD während der laufenden Legislaturperiode verließen. Nun sitzen sie als Fraktionslose im Parlament, auch wenn sie über die Landeslisten ihrer Parteien in den Bundestag eingezogen sind. Ihre Rechte sind gegenüber denen von Fraktionsangehörigen begrenzt, ihr Rederecht im Plenum eingeschränkt. Sie können aber Geschäftsordnungsanträge stellen und Fragen zur schriftlichen oder mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung richten. De facto, so muss man es leider sagen, sind sie aber machtlos.

Domscheit-Berg hingegen gehört zwar keiner Partei an, einer Fraktion aber schon – der der Linken. Für die sitzt sie als Obfrau im Ausschuss Digitale Agenda, auch in den Beratungsgremien zu Bildung, Forschung, Technikfolgen und Verkehr sowie Digitale Infrastruktur ist sie vertreten.

Imagegewinn durch Parteilose auf der Liste

Eine parteilose Abgeordnete nur unter 709 Bundestagsabgeordneten, wie kann das sein? Noch dazu in Zeiten, wo fast täglich von der schwindenden Bindungskraft der Volksparteien die Rede ist? Domscheit-Berg gibt die Antwort selbst: „Wer nominiert wird, hat sich in der Regel lange hochgedient, sodass es meist nur sehr konforme Politiker auf die vorderen Listenplätze schaffen.“ Somit stelle sich „die berechtigte Frage, ob Ähnlichkeit, massive Zeitinvestitionen in das richtige innerparteiliche Netzwerk und uneingeschränkte Loyalität genau die Eigenschaften sind, die wir uns bei Volksvertretern wünschen“.

Nach den schlechten Erfahrungen bei Grünen und Piraten bot sich ihr das Privileg, diesen Weg zu um gehen, weil ihr die Brandenburger Linke 2017 ein Angebot machte, das sie nicht ablehnen konnte: einen sicheren Listenplatz und den Wahlkreis Havel I. Dort unterlag sie zwar der CDU-Kandidatin, zog aber über die Zweitstimme in den Bundestag ein.

Domscheit-Bergs Lesart stimmt auch der Politikwissenschaftler Jens Walther zu, Fellow am Institut für Parteienrecht und Parteienforschung. Während es bei Kommunalwahlen für starke Persönlichkeiten relativ leicht sei, sich bei Wählern bekannt zu machen, sei dies bei Bundestagswahlen ungleich schwieriger. Die Unabhängigkeit freier Kandidaten stelle die Parteien vor Herausforderungen: „Einerseits lässt sich durch Öffnung für Nichtmitglieder ein Imagegewinn erzielen, andererseits stellt sich die Frage, inwieweit freie Geister kontrollierbar sind.“

Der am besten Angepasste überlebt

Der im Bundestag vorherrschende Fraktionszwang und Parteidisziplin schreckten viele engagierte Menschen ab, die mit dem Gedanken spielten, auf Bundesebene Politik zu machen, so Walther. Oder in den Worten Domscheit-Bergs: „Was der Fraktion der Fraktionszwang, ist der Partei die Loyalität.“ So ließen sich „die darwinschen Selektionsprozesse auch auf politische Karrieren anwenden: Der am besten Angepasste überlebt.“ Denn wer nicht schon bei der Jungen Union, den Jusos oder den Grünen früh angefangen habe, in der Hierarchie hochzuklettern, schaffe es später kaum, bei der Listenaufstellung der etablierten Parteien zu punkten.

Hinzu kommt das Risiko, trotz Ochsentour durch Orts- und Kreisverbände am Ende nicht auf einem der begehrten vorderen Plätze zu landen. Dafür gibt kaum jemand einen sicheren Job auf.

So gesehen stimmt der Eindruck nur bedingt, der durch die Wahlerfolge freier Oberbürgermeisterkandidaten in Freiburg 2018 und in Rostock in diesem Jahr entstanden war: Martin Horn und Claus Ruhe Madsen war es da aus dem Stand gelungen, sich ohne Parteiapparat im Rücken beim Kampf um die Chefposten der beiden 200 000-Einwohnerstädte durchzusetzen. Manche Beobachter sahen darin schon einen neuen Trend hin zu amerikanischen Verhältnissen, wo nur noch schillernde Persönlichkeiten, nicht fachliche Kompetenzen eine Rolle spielten.

Sachverstand sowie der Wille anzupacken

Das aber, so der Politikwissenschaftler Walther, lasse sich auf Deutschland nicht einfach übertragen. Das Präsidialsystem in den USA, aber auch jenes in Frankreich funktioniere schon deshalb anders, weil dort die Regierungschefs per Direktwahl bestimmt würden. Hierzulande hingegen bleibe trotz allen Aufruhrs, den der Aufstieg der AfD mit sich bringe, die Bindungskraft des alten bundesrepublikanischen Parteiensystems stark. In den Augen der Wähler zählten zwar vor allem Sachverstand sowie der Wille von Politikern, Probleme auf un­ideologische, pragmatische Weise anzupacken. Das funktioniere aber auf kommunaler Ebene einfacher als auf der großen Bühne: „Persönlichkeiten, die nicht dem Parteiapparat verhaftet sind, können etwas Erfrischendes haben.“

„Erfrischend“ war auch der parteilose Martin Horn, der sich 2018 gegen den amtierenden Bürgermeister von den Grünen durchsetzen konnte. Wie „unparteiisch“ Kommunalpolitik ist, diese Erfahrung hat Horn in den anderthalb Jahren seiner Amtszeit erfahren. „Als Oberbürgermeister einer mittelgroßen Stadt habe ich einen Haushalt von zwei Milliarden Euro zu verwalten. Weil es dabei meistens um Sachpolitik geht, fallen viele Beschlüsse einstimmig, über Parteigrenzen hinweg. Da es hier konkrete Entscheidungen zu treffen gibt, kann man auch am besten Koalitionen schmieden im Sinne dieser einen Sache, nicht dauerhaft.“

Aber auch Horn glaubt nicht, dass die Erfolge Parteiloser einfach so auf Landesebene oder gar Bundesebene übertragbar sind. Dort würden die Bürger eben weniger Persönlichkeiten als eine politische Richtung wählen. Und auch die Aufnahme Parteiloser in die Parteien hält der Freiburger OB für keine gute Idee: „Wenn Parteien zu viele Parteilose aufnehmen, laufen sie Gefahr, ihre Identität zu verlieren.“

Lokal denken, bürgernah handeln

In Ostdeutschland, wo sich die etablierten Westparteien nach der Wende vor allem in der Provinz nie flächendeckend festsetzen konnten, lässt sich der Siegeszug der Parteilosen in der Kommunalpolitik in letzter Zeit verstärkt beobachten. Beispiel Brandenburg: Bei 20 Stichwahlen setzten sich hier im September fast ausschließlich parteilose Bürgermeister durch. Im ganzen Land hat jeder zweite Ortsvorsteher kein Parteibuch. Aber auch im „alten“ Bundesland Baden-Württemberg gehören mehr als die Hälfte der amtierenden Bürgermeister keiner Partei an.

In Brandenburg treten die unabhängigen Kandidaten stattdessen für Gruppierungen an wie die Unabhängigen Wähler, das Bündnis Schorfheide oder die Initiative für Bürgerinteresse und Bürgerbeteiligung. Lokal denken, bürgernah handeln, heißt die Devise.

Mit Erfolg: Auch in Fürstenberg an der Havel, wo Domscheit-Berg 2017 als parteilose Kandidatin über die Liste der Linkspartei in den Bundestag einzog, regiert ein Parteiloser. Vor wenigen Wochen setzte sich dort Robert Philipp gegen den CDU-Kandidaten durch, und das bereits zum dritten Mal. Das zeigt, dass die Skepsis, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur den neuen Parteien entgegenschlug, auf kommunaler Ebene anhält. In Brandenburg zeigt sich das unter anderem daran, dass von 2,5 Millionen Einwohnern überhaupt nur rund 20 000 Mitglied einer Partei sind. Bei der freiwilligen Feuerwehr gemeldet sind mehr als doppelt so viele Menschen – und im Anglerverband sogar 74 000.

Bekannt wie ein bunter Hund

Dass die Bundesparteien dennoch nicht davon lassen können, hin und wieder auf schillernde Kandidaten zurückzugreifen, um dadurch einen Imagegewinn zu erzielen, sei kein neues Phänomen, so Politikwissenschaftler Walther. „Bei den Reichstagswahlen im deutschen Kaiserreich, den ersten nationalen Wahlen in Deutschland, war es vor allem liberalen und konservativen Parteien wichtiger, dem Wähler einen geeigneten Kandidaten zu präsentieren, als auf dessen Parteimitgliedschaft zu bestehen.“ Auch bei der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag 1949 schafften noch drei Einzelbewerber den Einzug ins Parlament.

Doch seitdem herrscht weitgehend Flaute. Das beste Ergebnis als unabhängiger Kandidat erzielte der von der CDU ausgeschlossene Abgeordnete Martin Hohmann 2005 im Wahlkreis Fulda mit 21,5 Prozent der Stimmen – er lag aber deutlich hinter dem CDU-Bewerber. Legendär sind auch die Wahlerfolge von Helmut Palmer, Vater des heutigen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Der holte als Parteiloser in den achtziger Jahren zweimal knapp 20 Prozent als Kandidat für den Bundestag. Das war nur möglich, weil Palmer, bekannt als „Remstal-Rebell“, eine schillernde Persönlichkeit war, auf und an der Schwäbischen Alb bekannt wie ein bunter Hund. Für den Einzug ins Parlament hat es aber auch bei ihm nie gereicht.

Wählerverluste bei der SPD

Zwar versuchen es heute alle vier Jahre wieder ein paar Dutzend Einzelkämpfer, sich ohne Parteiapparat wählen zu lassen. Doch die Hürden dafür sind hoch: Jeder Kandidat muss 200 Unterschriften sammeln, um sich beim Wahlleiter registrieren lassen zu können. Flyer zu verteilen und Plakate zu kleben, erledigt für sie kein Kampagnenteam, geschweige denn die Finanzierung.

So ist es kein Wunder, dass die bunten Listen, mit denen die Grünen Anfang der achtziger Jahre das etablierte Parteiensystem aufzulockern begannen, das am meisten Erfolg versprechende Modell sind, um unabhängige Kandidaten anzuziehen. Und wie zur Zeit der neuen sozialen Bewegungen, als die SPD Teile ihrer Stammwählerschaft an die Ökopazifisten verlor, sorgte Mitte der 2000er Jahre der Zusammenschluss von PDS und der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) für neue Bewegung im Parteiensystem. Wieder zahlten die Sozialdemokraten dafür den höchsten Preis: Zehntausende Genossen, die sich von Gerhard Schröders Agenda 2010 vor den Kopf gestoßen fühlten, liefen zur neu gegründeten Linkspartei über.

Linke Politik jenseits der Sozialdemokratie

Luc Jochimsen hatte da gerade ihre Laufbahn als erfolgreiche ARD-Journalistin beendet. Nach vielen Jahren als Auslandskorrespondentin in London und Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks zog sie bei der vorgezogenen Neuwahl des Bundestags 2005 über die Landesliste Thüringen ins Parlament ein und wurde kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion – als Parteilose. Als Grund für ihren Wechsel aus der Beobachterposition hinein ins politische Gerangel nannte sie „Engagement für eine linke Politik jenseits der Sozialdemokratie“.

Damit hinterließ Jochimsen zumindest Duftnoten: So schlug sie unter anderem vor, den 8. Mai als Nationalfeiertag einzuführen. Weil sie bei der Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr 2009 einen Schal mit der Aufschrift „Nun erst recht – Raus aus diesem Krieg“ (gemeint war der Krieg in Afghanistan) trug, verweigerten ihr Feldjäger den Zutritt zum anschließenden Empfang des Verteidigungsministers. Und als die Linke sie 2010 nach dem Rücktritt von Horst Köhler – inzwischen war sie in die Partei eingetreten – zur Bundespräsidentenkandidatin ernannte, sorgte sie mit der Bemerkung für Aufsehen, dass die DDR „nach juristischer Definition“ kein Unrechtsstaat gewesen sei – auch wenn die SED-Diktatur unverzeihliches Unrecht an seinen Bürgern begangen habe.

Die Unzufriedenheit mit der Alltagspolitik

Auch die heute 83-Jährige hält den Siegeszug parteiloser Bürgermeisterkandidaten für nicht übertragbar auf die Bundesebene. Das Personenbezogene, das in der Lokalpolitik oft den Ausschlag gebe, sei bei nationalen Entscheidungen immer nur einer unter vielen Faktoren für eine Listenaufstellung, sagt Jochimsen. Lediglich bei Neuformierungen der Parteienlandschaft entstünden bisweilen Konstellationen, die es opportun erscheinen ließen, Unabhängigen mehr Raum zu lassen. Doch diese Entscheidungen seien selten von Dauer.

Bedauerlich sei dieses Vorgehen dennoch, da es Menschen mit großer Lebenserfahrung und beruflicher Unabhängigkeit davon abhalte, aktiv in die Bundespolitik einzugreifen. Zumal mit der AfD nun zum ersten Mal eine rechte Partei das Vakuum fülle, das durch Unzufriedenheit mit dem bestehenden Parteiensystem entstanden sei. Mit solchen Umbrüchen umzugehen, sei der politischen Klasse der Bundesrepublik bereits schwergefallen, als sich Grüne und Linkspartei gegründet hätten – obwohl das Gefühl, mit der eigenen Lebensleistung nicht wahrgenommen zu werden, ja geradezu nach Aufmerksamkeit schreie.

„Die Unzufriedenheit mit der Alltagspolitik ernst zu nehmen und sie inhaltlich in der Auseinandersetzung aufzuarbeiten“, sei jedoch auch deshalb schwierig, weil die völkischen Zielvorstellungen der Rechtsextremen unter dem Mäntelchen des Protests daherkämen. „Das muss man ganz klar trennen von einer berechtigten Protesthaltung“, so Jochimsen. Egal, ob mit oder ohne Parteibuch. 

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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