Paragraf 219a - Ein Weihnachtspäckchen als Sprengsatz

Im Streit um das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche hat sich die Große Koalition auf einen vorläufigen Kompromiss geeinigt – und das Thema damit ins Neue Jahr vertagt. Doch die Ruhe trügt, denn darin liegt ein Sprengsatz für die Koalition

Frauen haben ein Recht auf Information – aber geht es hier wirklich nur um Informationsfreiheit? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD hat sich selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Sie hat es schön dicht verpackt, wasser- und luftdicht, und sie will es erst nach Weihnachten wieder auspacken.

Streit um das „Werbeverbot für Abtreibungen“

Der Inhalt des Päckchens passt auf eine Art zum Heiligen Abend, den es hat auch etwas mit Kinderkriegen zu tun. Oder eben auch nicht. Es geht um den Streit über den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches, also die Frage, wie mit Informationen über Praxen umgegangen werden soll, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Das Ganze firmiert unter dem Stichwort „Werbeverbot“ und dreht sich im Kern um die Frage, was man als nüchterne Information begreift und wo Werbung anfängt. 

Der Streit zwischen SPD und Union geht tief, in Wahrheit steht dahinter der Streit um den Paragrafen 218, der bis heute Abtreibungen unter Strafe stellt, auch wenn die Praxis der Schwangerschaftsabbrüche inzwischen mittels eines schwiemeligen Kompromisses (verboten, aber möglich) eine andere ist, ähnlich jenem zum Cannabis-Besitz und -Konsum.

Ist der Deal mit Kauder nun hinfällig?

Das Päckchen hat das Zeug zum Sprengsatz dieser Koalition. Denn der damalige Fraktionschef Volker Kauder hatte der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles zu Beginn der dritten Großen Merkelkoalition eine Regelung abgetrotzt, die eher die Handschrift der Union als jene der SPD trug.

Das war schon seinerzeit für die SPD nur schwer erträglich. Seither hat sich eine Menge geändert, vor allem das Machtgefüge. Der Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion heißt nicht mehr Volker Kauder, und die Parteivorsitzende der CDU heißt nicht mehr Angela Merkel, die in Fragen dieser Art (wie auch bei der Homo-Ehe) generell eine gewisse Nonchalance an den Tag legt, um nicht zu sagen: Wurschtigkeit.

Die neue Parteivorsitzende heißt nun Annegret Kramp-Karrenbauer, eine in diesen Fragen konservative Katholikin mit Prinzipien, also eine dezidierte Abtreibungskritikerin.

Eine Mischung aus Sach-und Machtfrage

Zugleich steht Andrea Nahles in der SPD schwer unter Druck. Ihre Autorität ist längst nicht mehr so groß wie zu Zeiten des Deals mit Volker Kauder. Die Jusos haben inzwischen sogar einen Beschluss gefasst, wonach Schwangerschaften bis kurz vor der regulären Geburt abgebrochen werden könnten. Zu den Befürwortern einen liberaleren Abtreibungspraxis in Deutschland gesellen sich auch Leute, die weniger wegen der Sache, sondern aus Unmut über Andrea Nahles auf diesem Standpunkt beharren. Sach- und Machtfragen mischen sich aufs Unseligste.

Zumal auch Kramp-Karrenbauer ein Interesse haben muss, einen Leitungsnachweis in Richtung der frustrierten Konservativen in der CDU zu erbringen. Obendrein ist diese dritte Große Koalition Merkel noch zu keinem Zeitpunkt ein stabiles Konstrukt gewesen. Es bleibt fragil und anfällig, gerade bei einem Thema, das so stark emotional aufgeladen ist wie dieses.

Ruhe vor dem Sturm?

Vor einigen Tagen haben die Koalitionäre einen in der Sache völlig vernünftig scheinenden Kompromissvorschlag aus der Regierung zunächst einmal unkommentiert zur Kenntnis genommen und bis zu den Fraktionsklausuren im Neuen Jahr auf Eis gelegt.

Das schafft scheinbar Ruhe. Die könnte aber trügerisch sein. Denn so luftdicht und wasserfest lässt sich das Thema über die Feiertage gar nicht verschnüren. Zeitungen und Agenturen werden in der nachrichtenarmen Zeit nach Schlagzeilen suchen und möglicherweise Kronzeugen für einen Streit finden. Erfahrungsgemäß ist es besser, ein sensibles Thema vor einer Sommer- oder Weihnachtspause abzuräumen anstatt es nur auf Wiedervorlage zu legen. Das geht meistens schief. Und könnte auch hier passieren.

Anzeige