Olaf Scholz und Cum-Ex - „ Wer verschweigt, hat etwas zu verbergen “

Wegen seiner Rolle im Cum-Ex-Skandal steht Olaf Scholz schon lange unter Beschuss. Mit Tricksereien und Falschangaben ist es ihm jedoch gelungen, die Sache kleinzureden – und schließlich sogar Bundeskanzler zu werden. Dokumente, die Cicero vorliegen, zeigen: Scholz hat den Parlamenten in Berlin und Hamburg eine Reihe von Halbwahrheiten und Lügen aufgetischt, die ihn noch einholen dürften.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Fall Cum-Ex gelogen / dpa
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Oliver Schröm ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten in Deutschland. Viele seiner Recherchen zu Themen wie Terrorismus, Islamismus und Rechtsextremismus sind auch als Bücher erschienen. Von 2016 an arbeitete er beim NDR, später als Chefredakteur beim Recherchezentrum Correctiv. 2019 kehrte er zum NDR zurück. 
 

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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Es ist der 1. Juli 2020, ein Mittwoch. Hinter der schweren Holztür des Sitzungssaals E 2400 im Paul-Löbe-Haus, dem achtgeschossigen Abgeordneten- und Parlamentsgebäude des Deutschen Bundestags, berichtet Olaf Scholz von seinen Begegnungen mit Christian Olearius, dem Mitinhaber von M. M. Warburg, eine der größten und ältesten Privatbanken Deutschlands. Die Sitzung im Finanzausschuss ist als VS-vertraulich eingestuft, Scholz soll frank und frei sprechen und sich nicht wie bei Sitzungen zuvor hinter dem Steuergeheimnis verstecken.

Er habe den Bankier mehrmals in seinem Leben bei gesellschaftlichen Ereignissen getroffen, etwa in der Elbphilharmonie, sagt Scholz. Die Gesprächsthemen seien aber stets harmlos gewesen. Treuherzig versichert er, er habe seinerzeit als Hamburger Bürgermeister keinen Einfluss genommen auf das Steuerverfahren von M. M. Warburg. Die anderen Treffen mit Olearius in seinem früheren Amtszimmer verschweigt er.

Treffen im September 2016

Rückblende: 7. September 2016, 18.45 Uhr. In seinem Amtszimmer im Hamburger Rathaus empfängt Olaf Scholz die Bankiers Max Warburg und Christian Olearius, beide Mitinhaber von M. M. Warburg & CO. Das Geldinstitut, 1798 gegründet, residiert an der Außenalster. Scholz weiß, warum die Bankiers um einen Termin gebeten haben. Seine Mitarbeiter haben für ihn ein anderthalb Seiten langes Informationspapier verfasst: „Ein möglicher Ansprechpunkt könnten die sogenannten ‚Cum-Ex-Geschäfte‘ sein, die Anfang 2016 auch in Verbindung mit der Privatbank M. M. Warburg gebracht wurden“, heißt es darin. Die beiden Bankiers stehen im Fokus der Staatsanwaltschaft. Ihre Bank wurde Anfang des Jahres durchsucht. Der Vorwurf: Die Bank soll in die kriminellen Cum-Ex-Aktiengeschäfte verwickelt sein, bei denen sich Akteure auf Kosten der Steuerkasse nur einmal abgeführte Kapitalertragsteuern mehrmals zurückzahlen ließen. Die Warburg-Bank soll sich so ab 2007 rund 170 Millionen Euro aus der Staatskasse ergaunert haben.

Scholz trifft sich nicht allein mit den beiden Bankiers. Auf seinen Wunsch hin nimmt ein Beamter an der Unterredung teil. Es ist der Autor des Informationspapiers, verantwortlich für Börsenaufsicht, Kredit- und Versicherungswirtschaft in der Hamburger Wirtschaftsbehörde.

Was Scholz nicht weiß: Christian Olearius, Sohn eines Pfarrers, schreibt Tagebuch. Nahezu jeden Abend setzt sich der Bankier hin und hält in krakeliger Handschrift akribisch die Ereignisse des Tages fest. In den mit schwarzem Leder eingeschlagenen Kladden, deren Vorderseite die Initialen CO zieren, vermischt sich Privates mit beruflichen Dingen.

Millionen ergaunert

An diesem Septemberabend schreibt Olearius über den Besuch beim Bürgermeister: „Er lässt mich spüren, dass er frühere Treffen mit mir in Erinnerung hat, hört aufmerksam unseren Schilderungen zu und stellt kluge Fragen“, so der Bankier. „Ich verweise neben unserer positiven rechtlichen auch auf unsere miserable wirtschaftliche Situation. Wir bekommen nichts versprochen, erwarten, fordern das auch nicht. Jederzeit könne ich mich melden, er erwarte das auch in dieser Angelegenheit. Wir diskutieren noch Hamburger Themen, werden auch um Rat gefragt. Nach eineinhalbstündigem Gespräch freundschaftlichste Verabschiedung.“

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Im Oktober 2016 spitzt sich die Situation der Bank weiter zu. Nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch das Hamburger Finanzamt für Großunternehmen nimmt die Cum-Ex-Geschäfte von Warburg unter die Lupe. Die Betriebsprüfer des Finanzamts kommen zu dem Ergebnis, Warburg habe mit den kriminellen Aktienkreisgeschäften allein in den Jahren 2009 bis 2011 insgesamt rund 90 Millionen Euro aus der Staatskasse erbeutet. Sie plädieren dafür, das Geld zurückzufordern. Eile ist geboten, Ansprüche aus den Jahren zuvor sind bereits verjährt. Und Ende des Jahres werden weitere 47 Millionen Euro verjähren.

Daniela P. ist Sachgebietsleiterin im Finanzamt für Großunternehmen und zuständig für die Warburg-Bank. In einem 28-seitigen Schreiben an die Hamburger Finanzbehörde listet sie die Hinweise auf Cum-Ex-Geschäfte der Bank auf. Sie geht auch auf rechtliche Probleme ein und erwähnt „die Auswirkungen für die Warburg-Bank“, die im Falle einer Rückforderung „erheblich“ seien. Dennoch „bittet das Finanzamt“, schreibt Daniela P. an die vorgesetzte Behörde, „um Zustimmung“, die zu Unrecht erstatteten Steuermillionen zurückfordern zu dürfen.

Mit Scholz vorbei am Finanzamt

Als Olearius davon erfährt, reagiert er umgehend. Er weist seine Juristen und Steuerberater an, einen Schriftsatz für das Finanzamt zu verfassen. Auf sieben Seiten wird ausgeführt, warum die Bank glaubt, das Geld nicht zurückzahlen zu müssen. Die Bank sei unschuldig, lautet der Tenor, verbunden mit einer Drohung: Eine Rückforderung der Steuer, heißt es in dem Papier, könne zur „Existenzgefährdung“ führen. Das Papier ist adressiert an Daniela P., unterzeichnen werden es Olearius und Warburg. Aber bevor es an die Finanzbeamtin abgeschickt wird, möchte Olearius das Papier auch Scholz übergeben, persönlich, und mit dem Bürgermeister über das Ansinnen des Finanzamts sprechen.

Am 26. Oktober 2016 ist Olearius wieder bei ­Scholz im Rathaus, zusammen mit seinem Kompagnon Warburg. Scholz ist dieses Mal allein. Die Bankiers vertrauen Scholz eine Kopie des Papiers an, das sie am nächsten Tag an die Finanzbeamtin schicken werden. Ihre Intervention beim Bürgermeister hat ein Ziel: Die Forderungen des Finanzamts sollen sich in „weiße Wölkchen“ auflösen, wie später einmal einer ihrer Anwälte im Untersuchungsausschuss großspurig einräumt. 

Abends vermerkt Olearius in seinem Tagebuch, dass Scholz „das Gespräch alleine“ geführt habe, ohne Zeugen. „Ich berichte über den zwischenzeitlichen Verlauf und unsere Einstellung. Er fragt, hört zu, äußert keine Meinung, lässt nichts durchblicken, was er denkt und ob und wie er zu handeln gedenkt. Ich verstehe das, will ihn auch nicht drängen und ihn in irgendeiner Weise kompromittieren. Aber wissen soll er schon, wie aus unserer Sicht Sach- und Rechtslage sind. Wir diskutieren noch weitere politische Themen.“

Weiterleitung an Tschentscher

13 Tage später lässt zur Überraschung Olearius’ Scholz mitteilen, er werde sich telefonisch melden. Olearius ist „voller Spannung“, wie er später seinem Tagebuch anvertraut. Dann die Enttäuschung: Scholz lässt absagen, er werde sich am nächsten Tag zwischen 9 und 10 Uhr melden. Statt mit Olearius telefoniert Scholz an diesem 8. November 2016 mit Peter Tschentscher, dem damaligen Finanzsenator Hamburgs. Über was sich Scholz mit seinem Finanzsenator unterhält, ist nicht überliefert. In Tschentschers Dienstkalender, der Cicero vorliegt, steht lediglich: „BGMI – Verschiedenes“. Bei anderen Terminen mit „BGMI“-Kennzeichnung, der behördeninternen Abkürzung für Erster Bürgermeister, ist meist ein konkreter Anlass vermerkt.

Bei Olearius meldet sich Scholz wie angekündigt am nächsten Tag telefonisch. Zunächst spricht ­Scholz über die Präsidentschaftswahl in den USA. Das Ergebnis steht seit wenigen Stunden erst fest. Zur Überraschung vieler hat Trump gewonnen. Scholz zeigt sich darüber „pikiert“, wie Olearius später notiert. Schließlich kommt Scholz zur Sache: die Steuerrückforderung an die Bank. Offensichtlich hat er das Papier gelesen, das Olearius ihm vor 14 Tagen überreicht hatte und das eigentlich an die Finanzbeamtin Daniela P. adressiert ist. Scholz fordert den Bankier auf, das Papier „ohne weitere Bemerkung“ an den Finanzsenator Tschentscher zu schicken.

Umgehend folgt Olearius dem Rat des Bürgermeisters. Noch am selben Tag schickt er Tschentscher das Papier – allerdings mit einer Anmerkung: „Wegen der Bedeutsamkeit des Vorgangs erlaube ich mir, Ihnen eine Ablichtung des Schreibens an Frau P., Finanzamt für Großunternehmen, direkt zuzuleiten“, schreibt Olearius. „Eine baldige Entscheidung ist im Interesse der Bank äußerst wünschenswert.“ Als Tschentscher das Schreiben erhält, schreibt er mit grüner Tinte an den Rand: „Bitte um Informationen zum Sachstand“ – und gibt es weiter in die Steuerabteilung seiner Behörde. 

Plötzlich verzichtet Hamburg

Acht Tage nach dem Anruf von Scholz bei Olearius haben die Finanzbeamtin Daniela P. und ihre Chefin einen Termin in Tschentschers Finanzbehörde. Es geht um ihr 28-seitiges Papier und die Bitte, die mit Cum-Ex-Geschäften ergaunerten Millionen zurückfordern zu dürfen. Den zwei Mitarbeiterinnen aus dem Finanzamt für Großunternehmen sitzen sechs Mitarbeiter der Behörde gegenüber, darunter die dortige höchste Steuerbeamtin. Sie ist eine der engsten Mitarbeiterinnen Tschentschers. Das Ergebnis der Sitzung: Hamburg verzichtet auf die Rückforderung. Die Beamten gehen davon aus, dass Ende des Jahres Ansprüche von 47 Millionen Euro verjähren. Diesen Preis sind sie bereit zu zahlen. Tschentscher wird schriftlich darüber informiert. Er hat zwei Verständnisfragen, erhebt aber keinen Einspruch.

Hamburg, ein Jahr später: Das Spiel wiederholt sich. Diesmal geht es um 43 Millionen Euro. Wieder will die Finanzverwaltung das Geld von Warburg nicht zurückfordern und nimmt damit erneut in Kauf, dass in wenigen Wochen die Steueransprüche verjähren. Doch diesmal bekommt das Bundesfinanzministerium (BMF) davon Wind. Durch eine Routineabfrage über offene Cum-Ex-Fälle bei den Ländern erfährt das BMF von der Absicht der Hamburger. Normalerweise mischt sich das BMF nicht in steuerliche Einzelfälle der Länder ein. Aber diesmal intervenieren sie, fordern die Hamburger Kollegen auf, das Geld zu sichern. Als sich Tschentschers Behördenmitarbeiter weigern, kommt es zu einem höchst seltenen Vorgang: Das BMF erteilt der Hamburger Finanzbehörde am 8. November 2017 eine Weisung. 

Finanzminister Scholz verwischt seine Spuren

Zwei Tage später ist Olearius im Rathaus. „Ich bin mit Bürgermeister Scholz verabredet. Pünktlich treffen wir um 17.00 Uhr in seinem Bürgermeister-Amtszimmer zusammen. Jetzt mit hellem Blauteppich ausgelegt. Kein Schreibtisch. Erst Plaudern“, schreibt er später in sein Tagebuch. „Dann berichte ich vom Sachstand bei Finanzbehörde, Staatsanwaltschaft. Ich meine, sein zurückhaltendes Verhalten so auslegen zu können, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen.“

Die Finanzbehörde wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Weisung aus Berlin. Das BMF bleibt bei seiner Entscheidung, unterstreicht dies in weiteren Schriftsätzen. Hamburg muss im Dezember der Warburg-Bank neue Steuerbescheide überreichen, die Bank soll die 43 Millionen Euro zurückzahlen. Bei Olearius jagt eine Krisensitzung die nächste. Er schickt einen seiner Emissäre zu Scholz, Alfons Pawelczyk, früherer Vizebürgermeister. Pawelczyk ist jenseits der 80, aber noch immer einer der Granden in der Hamburger SPD. Anfang Januar 2018 ist er bei ­Scholz im Rathaus, anschließend berichtet er Olearius: Jetzt stünde nur noch der Rechtsweg offen, lautet die Botschaft aus dem Rathaus. Scholz wird mittlerweile als Bundesfinanzminister gehandelt. Als Olearius dies vernimmt, sieht er seine Felle davonschwimmen. Er könne sich nicht vorstellen, dass ihm Scholz im neuen Amt helfen kann, schreibt er in sein Tagebuch. Scholz würde sonst riskieren, der „Begünstigung“ bezichtigt zu werden.

Im März 2018 tritt Scholz sein neues Amt als Finanzminister an. Wenige Monate später schickt er den Spitzenbeamten Michael Sell in den einstweiligen Ruhestand. Sell hatte einst die Weisung des BMF an die Hamburger Behörden angeordnet. Später im Hamburger Untersuchungsausschuss darauf angesprochen, ob er einen Zusammenhang sehe, antwortet Sell: Er habe Scholz nur drei Mal in größerer Runde gesehen. Später habe er das Gerücht gehört, er sei „nicht aus fachlichen Gründen“ in den Ruhestand geschickt worden.

Erst Schweigen, dann Krokodilstränen

In seinem ersten Jahr als Finanzminister sieht sich Scholz mit dem Thema Cum-Ex auch medial konfrontiert. Im Oktober 2018 veröffentlichen unter der Leitung der Recherchekooperation Correctiv 19 europäische Medien die Cum-Ex-Files. Nicht nur der deutsche Fiskus wurde mit Cum-Ex und ähnlich kriminellen Aktiendeals geschädigt, sondern auch die Steuerkassen in Dänemark, Belgien, Frankreich und Italien. Insgesamt beträgt der Schaden 55,2 Milliarden Euro, haben die Journalisten herausgefunden.

Deutschland wurde am stärksten geschädigt. Zwischen 2001 und 2016 wurden mit diesen Aktienkreisgeschäften 31,8 Milliarden Euro gestohlen. Der Aufschrei ist groß. Staatschefs gehen vor die Kamera und kündigen an, sich das Geld zurückholen zu wollen. Im Europaparlament wie auch im Bundestag gibt es Sondersitzungen. Von Olaf ­Scholz ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Kein Wort des amtierenden Finanzministers zum größten Steuerraub der Geschichte. 

Bis zum 9. Dezember 2019, mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung der Cum-Ex-Enthüllungen: Am Internationalen Antikorruptionstag, kurz nach seiner gescheiterten Kandidatur zum SPD-Vorsitz, präsentiert sich Scholz als rechtschaffener Klartextsprecher. Auf einer Podiumsdiskussion des Netzwerks Steuergerechtigkeit, Transparency Deutschland und Weed e.V. verurteilt er die Aktiendeals als „frech und dreist, verachtenswert“. Auf Twitter wiederholt er am selben Tag: „Ich halte Cum-Ex für eine Riesenschweinerei. Und ich frage mich, wie irgendjemand diese Steuertricks für legal und legitim halten konnte.“
Zwei Monate später platzt die erste Bombe. Im Februar 2020 berichten „Panorama“ und Die Zeit erstmals über eines der drei Treffen zwischen Scholz und Olearius, jenes vom November 2017. Sehr zur Irritation der Hamburger Bürgerschaft, denn noch im November 2019 hatte die Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage der Linken in Hamburg gelautet, es habe keine persönlichen Gespräche zwischen Senatoren und der Warburg-Bank über das Cum-Ex-Verfahren gegeben.

Scholz erzählt nicht die ganze Wahrheit

Von nun an ist Scholz auf das Thema Cum-Ex nicht mehr gut zu sprechen: Nach mehreren unbeantworteten Anfragen konfrontiert ein „Panorama“-Reporter Scholz im Februar 2020 ausgerechnet am Rande einer Veranstaltung zum Thema „Unternehmenssteuerrecht“. Noch bevor der Reporter seine Frage zu Ende stellen kann, drängelt sich Scholz’ Sprecher Steffen Hebestreit dazwischen, wie ein Bodyguard schirmt er Scholz ab und würgt den Reporter vor laufender Kamera ab.

Am 26. Februar versucht Scholz, die Wogen zu glätten, als er sich den konfrontativen Fragen von Moderator Louis Klamroth in dessen ntv-Sendung „Klamroths Konter“ stellt. „Kleine Anfrage der Linken Hamburger Bürgerschaft: Gab es persönliche Gespräche von Mitgliedern des Senats mit Vertretern von Warburg zu dem steuerlichen Verfahren. Antwort: Nö! Warum lügt der Senat da?“, fragt Klamroth. Scholz redet um den heißen Brei, verweist darauf, was Olearius in seinen Tagebüchern geschrieben hat: „Herr Scholz hat nicht zu erkennen gegeben, ob er der Ansicht von Herrn Olearius ist“, zitiert Scholz den Bankier. Es habe sich schnell erwiesen, dass die Vorwürfe der politischen Einflussnahme „heiße Luft“ seien, so Scholz. Über Warburg findet er kein kritisches Wort: „Soweit ich das in der Zeitung lese, sagen sie (…), sie sind unschuldig in diesem Verfahren.“

Trotz der angeblich nur heißen Luft muss er sich kurz darauf auch im Finanzausschuss rechtfertigen. Viel Zeit bringt er an diesem 4. März 2020 nicht mit. Die Sitzung beginnt um 12.08 Uhr, um 12.50 Uhr müsse der Bundesminister die Sitzung wegen dringender Anschlusstermine verlassen, kündigt die Vorsitzende an. Für jede Frage seien deswegen jeweils maximal zwei Minuten vorgesehen. Einmal mehr beteuert Scholz, dass beim publik gewordenen Treffen nichts gewesen sei. Es habe keine Beeinflussung bei Entscheidungen der zuständigen Steuerverwaltung durch die Politik in Hamburg gegeben. Die zentrale Frage stellt der Linken-Abgeordnete Fabio De Masi: ob es weitere Gespräche dieser Art außer dem bisher bekannten gegeben habe. Scholz antwortet sinngemäß, es gäbe nichts außer dem, was in der Presse steht. In der Presse sind die beiden Treffen aus dem Jahr 2016 noch nicht bekannt. 

Drei Monate später die nächste Sitzung

Scholz versteht es, im Ungefähren zu bleiben, doch bei den Mitgliedern des Ausschusses besteht an diesem Tag kein Zweifel darüber, dass es laut Scholz nur das eine bisher bekannte Treffen aus dem Jahr 2017 gegeben hat. Selbst Cansel Kiziltepe, die für die SPD im Ausschuss sitzt, sagt auf Nachfrage des NDR: „Zwischen Olaf Scholz und Herrn Olearius gab es kein Treffen im Jahr 2016.“

Die Opposition ist nicht zufrieden. Drei Monate später wird Scholz erneut befragt. Diesmal ist die Sitzung VS-vertraulich eingestuft. Scholz kann sich nicht wie bei der vorangegangen Sitzung hinter dem Steuergeheimnis verschanzen, was es erschwert, über einen konkreten Einzelfall zu sprechen. Das Protokoll dazu können die Abgeordneten jedoch später nur unter Aufsicht in der Geheimschutzstelle einsehen. 

Entgegen seiner sonstigen Art spricht Scholz nicht frei. Satz für Satz liest er ab. Es ist eine bizarre Situation: Scholz, Vizekanzler und Finanzminister, referiert über den Ablauf der Weisung des BMF an die damals widerspenstige Finanzbehörde Hamburgs. Weil er damals Bürgermeister der Hansestadt war, hat ihm sein heutiges Ministerium sozusagen angeordnet, der Warburg-Bank nicht erneut ein Millionengeschenk zu machen und die durch Cum-Ex-Aktiengeschäfte zu Unrecht erhaltenen 43 Millionen Euro zurückzufordern. 

Wieso verschenkt Hamburg Geld an Großbanken?

Den Abgeordneten ist bislang nicht bekannt, dass Hamburg die Weisung zunächst nicht umsetzen wollte und das BMF sogar noch eine zweite erteilen musste. Den Ablauf damals hat ihm seine Behörde für die Ausschusssitzung feinsäuberlich aufgeschrieben. Auf dem Sprechzettel ist auch die zweite Weisung vermerkt. Scholz hält sich sklavisch an den Sprechzettel. Als er von der zweiten und unbekannten Weisung berichtet, kommt es zu Aufregung im Ausschuss. Der Abgeordnete Fabio De Masi fühlt sich getäuscht. Seit zwei Jahren stellt er immer wieder parlamentarische Anfragen zum Komplex Warburg und zu der Weisung.

Scholz realisiert, was er soeben verkündet hat. Betont ausdruckslos schaut er den obersten Steuerchef des BMF an, der neben ihm sitzt und dessen Abteilung das Papier für die Sitzung verfasst hat. Schließlich versucht Scholz die Situation zu retten. Entscheidend sei doch, dass Hamburg letztlich die Weisung umgesetzt habe. Auf Nachfrage, wann und wie er von der Weisung damals erfahren habe, sagt Scholz: Er könne sich nicht mehr erinnern, es könne sein, dass er es aus der Presse erfahren habe. Jedenfalls sei er mit dem Warburg-Vorgang nicht befasst gewesen.

Florian Toncar, FDP-MdB, betont, es sei schon ein sehr ungewöhnlicher Vorgang, dass sich eine Finanzbehörde sogar über eine Weisung des BMF hinwegsetzt, und deshalb nach einem entsprechenden Treffen auch noch eine zweite schriftliche Weisung nötig war. Toncar will wissen, mit welchen Argumenten sich die Hamburger Finanzbehörde der Weisung widersetzte. Scholz weicht aus und verweist auf den anwesenden Steuerchef des BMF, der zusammen mit seinem Vorgänger die Weisung ausgearbeitet hat. Es habe zum einen unterschiedliche Rechtsauffassungen gegeben, zum anderen habe die Hamburger Behörde auch argumentiert, eine Rückforderung der 43 Millionen Euro würde die Bank in ihrer Existenz bedrohen.

Hamburg ist klein...

Toncar, Jurist und früher bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Freshfields tätig, macht deutlich: Das Argument, die Rückforderung der Gelder würde die Existenz der Bank gefährden, sei kein steuerrechtliches Argument, zumal das Geldinstitut durch Cum-Ex-Deals die Summen zu Unrecht erhalten habe. Für ihn sei dies vielmehr ein „politisches Argument“, was sich hier eine Steuerbehörde zu eigen machte. Die Frage wird nicht ausgesprochen, aber sie steht im Raum: Gab es politische Einflussnahme bei der Entscheidung der Finanzbehörde?

Scholz schaltet sich ein und wirft Toncar „Foulspiel“ vor. Später werden sich dieses Wort und der konkrete Ablauf so nicht im Protokoll finden. 

Nun geht es um das öffentlich bekannte Treffen mit Olearius im Rathaus. Fabio De Masi fragt Scholz, ob es für das Treffen ein Briefing gegeben habe oder einen sogenannten Lauf- oder Sprechzettel. Scholz verneint. Schließlich stellt De Masi wie bei der letzten Sitzung die Frage, ob Scholz sich noch öfter mit Olearius getroffen habe. Scholz lächelnd: Hamburg sei klein, da laufe man sich schon mal über den Weg. 

Scholz will „Aufklärung“

Zwischenruf der Grünen-Abgeordneten Lisa Paus, die wissen will, wie oft sich Scholz und Olearius bei gesellschaftlichen Ereignissen begegnet sind: zweimal, dreimal oder zehnmal pro Jahr? 
Scholz schmunzelt, erwähnt ein Treffen in der Elbphilharmonie. Er habe auch einmal bei einem Jubiläum der Warburg-Bank eine Rede gehalten. Als Bürgermeister habe er sich öfter mit Bankern getroffen, nicht nur mit Mitarbeitern der Warburg-Bank, sondern auch mit Vertretern der Berenberg-Bank oder der Haspa. Dies sei normal. 

Nach der Sitzung tritt Scholz vor die Kameras: „Das war heute eine sehr gute Sitzung. Ich glaube, es ist wichtig, dass alles aufgeklärt wird“, sagt er. „Ich bin überzeugt, dass wir alle eine große Gemeinschaftsanstrengung nötig haben, um die schlimmen Cum-Ex-Fälle aufzuklären. Dafür zu sorgen, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu ihrem Recht kommen. Wir unser Geld Stück für Stück zurückholen.“

Am 3. September 2020 platzt die zweite Bombe. Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und „Panorama“ berichten, dass sich Scholz noch öfter mit Olearius getroffen hatte als bislang bekannt. Und dass die weiteren Treffen im zeitlichen Zusammenhang mit einer Steuerentscheidung Hamburgs zugunsten der Warburg-Bank standen. 

Gedächtnislücken und Ungereimtheiten

All das hat er dem Parlament und dem Finanzausschuss des Bundestags verschwiegen. Dessen Mitglieder sind brüskiert. Der Gegenwind wird schärfer. Fabio De Masi wirft ihm gezieltes Lügen vor: „Olaf Scholz hat im Bundestag Pinocchio gespielt und die Unwahrheit gesagt“, so der Linken-Abgeordnete. „Die Aussage, Scholz habe keinerlei Einfluss auf das Steuerverfahren der Warburg-Bank und die Eintreibung krimineller Cum-Ex-Beute in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister genommen, ist nicht glaubhaft.“ Lisa Paus, Finanzexpertin der Grünen und wie De Masi Mitglied im Finanzausschuss, fühlt sich „klar getäuscht“ und schlussfolgert: „Wer verschweigt, hat etwas zu verbergen.“ Scholz habe „die beiden Treffen mit Olearius 2016 auf ausdrückliche Frage hin zweimal verschwiegen“, sagt der FDP-Mann Florian Toncar.

Am 9. September 2020 wird Scholz zum dritten Mal binnen eines Jahres vor den Finanzausschuss zitiert, der wie immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Um 11.05 Uhr steht Tagesordnungspunkt 8 auf dem Plan, der Umgang mit Cum-Ex-Geschäften. In seiner Eingangsrede bestätigt er, dass der Abgleich mit seinem Kalender die Treffen mit Olearius bestätige, er sich aber nicht an diese erinnere. Scholz wird nicht konkret, dennoch verwickelt er sich in Ungereimtheiten. Dass er sich daran nicht weiter erinnern könne, sei nicht verwunderlich, einerseits wegen der großen Menge seiner Gespräche als damaliger Bürgermeister. Und andererseits, weil sie für ihn nicht die Bedeutung gehabt hätten, die heute von Interesse sei. Warum waren 47 Millionen Euro Steuerrückforderungen infolge krimineller Aktiendeals für ihn nicht von Bedeutung? Dass er Olearius getroffen habe, sei aus seiner Sicht selbstverständlich, denn dieser habe sich über Jahrzehnte ein hohes Ansehen in Hamburg erworben. Scholz leistet Argumentationsakrobatik: Obwohl er behauptet, sich nicht an die Gespräche erinnern zu können, sei er sich sicher, dass er sich von diesen Gesprächen nicht zu weiteren Handlungen habe leiten lassen. 

Die anschließenden Fragerunden erfolgen in zwei Blöcken. Die sechs Abgeordneten stellen hintereinander ihre Fragen, erst dann antwortet Scholz. Was ihm zugutekommt: Weil er nicht unmittelbar auf eine Frage antworten muss, kann er leichter Fragen umgehen, ohne dass es so offensichtlich ausweichend ist wie das unmittelbare Nichtbeantworten einer einzelnen Frage. 

Scholz umschifft Fragen

Florian Toncar merkt an, Scholz habe in der VS-vertraulichen Sitzung vom 1. Juli 2020 harmlose soziale Begegnungen im öffentlichen Raum erwähnt, bei denen er Christian Olearius getroffen habe. Nun aber erkläre er, dass er sich an Termine mit Christian Olearius in seinem eigenen Büro nicht erinnern könne, obwohl diese in einem sehr kleinen Format und just in der Phase stattfanden, als sich die Hamburger Finanzbehörde 2016 eine Meinung darüber hätte bilden müssen, ob sie Gelder von der Warburg-Bank zurückfordern sollte oder nicht. Erinnerungspsychologisch halte er dies für erstaunlich, so Toncar. Scholz wird darauf nicht konkret eingehen, sondern nur mantra­artig beteuern, dass er sich an die Treffen nicht erinnere, aber keinen Einfluss genommen habe.

Fabio De Masi erinnert daran, dass er in seiner ersten Frage in der Sitzung des Finanzausschusses am 4. März 2020 von Scholz habe wissen wollen, ob es weitere Treffen mit Christian Olearius gab. Ihn interessiere, warum die Kalender nicht abgeglichen und die weiteren Termine eingeräumt worden seien. Scholz wird nicht konkret antworten. Er sagt, dass er die Kalender nicht abgeglichen habe, könne man heute kritisieren. Was er damals nicht habe aufschreiben lassen, waren Antworten auf die Frage, ob es noch weitere Treffen gegeben habe. Nachdem dies nun eine solche Rolle spiele, habe er dies nachgeholt. Warum die Treffen damals keine Rolle gespielt haben sollen, erläutert er nicht.

Scholz wird getrieben

Grünen-Abgeordnete Lisa Paus sagt, in den Gesprächen mit Olearius sei es ebenfalls darum gegangen, dass die Warburg-Bank in ihrer Existenz bedroht gewesen sei. Normalerweise sei man als Politiker alarmiert, wenn die Existenzbedrohung einer Bank oder eines anderen Unternehmens im Raum stehe. Zudem wiederholt sie Florian Toncars Frage, warum er sich nicht aktiv für die Rückforderung der Gelder eingesetzt habe.

Den letzten Punkt wird Scholz nicht beantworten. Er betont noch einmal, dass er sich nicht an die Treffen mit Christian Olearius erinnern könne und dass es nicht unüblich sei, dass er als Bürgermeister wegen wirtschaftlicher Probleme von verschiedenen Unternehmen angesprochen worden sei.

Scholz kommt an diesem Tag nicht zum Verschnaufen. Nach der Finanzausschusssitzung muss er sich einer Regierungsbefragung den Abgeordneten stellen, hinzu kommt eine Aktuelle Stunde, die auf Verlangen der Linksfraktion zusätzlich auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Er finde es richtig, dass man an diesem Tag gleich drei Mal über das wichtige Thema Cum-Ex spreche, sagt Scholz in seiner Rede während der Regierungsbefragung. Dass sein Verschweigen ein Grund dafür ist, erwähnt er nicht. Er spricht zum Großteil über Cum-Ex im Allgemeinen und reagiert auf die Vorwürfe mit inhaltsleeren Nebelkerzen: „Natürlich ist es so, dass, wenn ein Verdacht geäußert wird, wenn Erwägungen angestellt werden, alles Mögliche aufkommen kann. Aber am Ende zählen immer die Tatsachen.“ Die Wörter „Warburg“ oder „Olearius“ nimmt er in seiner neunminütigen Rede kein einziges Mal in den Mund.

Untersuchungsausschuss in Hamburg

Das Prozedere wiederholt sich: Die Abgeordneten haken nach, verweisen auf Widersprüche, Scholz bleibt im Allgemeinen, wiederholt, sich nicht erinnern zu können und keinen Einfluss genommen zu haben. Der einzige Unterschied ist, dass die Fragen der Abgeordneten unterbrochen werden von den empörten und höhnischen Zwischenrufen der SPD-Abgeordneten.
In der Aktuellen Stunde sammeln sich die Vorwürfe. Fabio De Masi führt aus, dass keine Finanzbeamtin und kein Finanzbeamter sich über mehrere Wochen einer Weisung des Finanzministeriums widersetze, „Ansprüche in Höhe von zig Millionen an Steuergeldern für ihre Stadt nicht verjähren zu lassen, ohne politische Rückendeckung zu haben. Das können Sie meiner Großmutter erzählen!“ Zwischenruf Dagmar Ziegler von der SPD: „Die ist wahrscheinlich intelligenter als Sie!“

FDP-Mann Florian Toncar zieht aus den Ausweichmanövern des Beschuldigten eine Schlussfolgerung: Er fordert die CDU auf, den Weg frei zu machen für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg. „Es ist vom Hauptbeteiligten dieses Vorgangs genug gehört worden. Jetzt ist es so weit, dass Hamburg untersuchen muss; dort gehört der Fall hin.“

Im Oktober 2020 passiert Ungewöhnliches in der Hamburger Bürgerschaft. Die CDU hebt ihren Grundsatzbeschluss auf, wonach sie im Stadtparlament nie gemeinsame Sache mit den Linken macht. Gemeinsam mit den Linken setzt die CDU einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) durch. Mit ihrem Minderheitenrecht können die beiden Oppositionsparteien zusammen auch Zeugen ihrer Wahl benennen. Allerdings entscheidet die rot-grüne Mehrheit im PUA über die Reihenfolge der Zeugenanhörung. Zunächst soll Scholz erst im Sommer 2022 gehört werden, also lange nach der Bundestagswahl. Als der Plan publik wird und Empörung auslöst, knickt die SPD ein. ­Scholz soll nun als erster Zeuge im PUA auftreten. Der Termin wird auf April 2021 festgelegt. Somit will die SPD sicherstellen, dass ihr Kanzlerkandidat sich nicht in der heißen Phase des Wahlkampfs im Zeugenstand unangenehmen Fragen stellen muss.

Was hätte Tschentscher tun sollen?

Am 30. April 2021 wird Scholz vor den PUA zitiert. Mehr als 40 Mal antwortet er auf die Fragen der Mitglieder, sich nicht erinnern zu können. Einmal mehr, so scheint es, gelingt es „Teflon-Scholz“, alle Fragen an sich abgleiten zu lassen.
Auftritt Till Steffen. Der Grünen-Politiker hat bis zum Vorjahr als Justizsenator mehreren Hamburger Regierungen angehört. Er habe gelernt, erzählt er im Ausschuss, dass es Parallelen zwischen dem Amt des Justiz- und des Finanzsenators gibt: Beide seien zu strikter Zurückhaltung verpflichtet, wenn sie jemand nach den Hintergründen eines Strafverfahrens befragt. Was Scholz sich dabei gedacht habe, fragt Steffen, als er Olearius anrief und riet, das Argumentationspapier an den damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher zu schicken. „Was sollte der denn real tun? Also, ich würde meinen, sein Spielraum, konkret zu handeln, ohne dass das dann tatsächlich sehr wohl als Einflussnahme wahrgenommen würde, ist gleich null.“ Eine punktgenaue Frage. Scholz antwortet nicht. Stattdessen zuckt er nur mit den Schultern. 

Scholz ist ein Profi: Er weiß, dass, anders als in den USA, solche Anhörungen in Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nicht live übertragen werden. Es gibt nur ein Protokoll, und darin hält der Protokollant nur das gesprochene Wort fest – kein Achselzucken, kein Grinsen, keine Gesten.

„Was sollte er tun mit diesem Schreiben?“, fragt Till Steffen. Das Eis wird dünn für Scholz. Es habe keine Einflussnahme gegeben, wiederholt er stumpf. Steffen fragt nach: „Was soll denn der Sinn gewesen sein, das dem Finanzsenator zukommen zu lassen?“ Scholz wenig souverän: „Wir können doch jetzt nur spekulieren.“ Er habe jedenfalls nichts damit zu tun gehabt. Steffen hakt immer weiter nach: Warum sagt er einem Banker, gegen den wegen krimineller Machenschaften ermittelt wird, nicht einfach, dass er ein Strafverfahren am Hals hat und sich rechtlich gut aufstellen soll? 

Vorermittlungsverfahren gegen Scholz

Scholz ist in die Enge getrieben. Doch nun dreht er den Spieß um. Er ist Vizekanzler, Steffen zu diesem Zeitpunkt nur noch ein einfacher Abgeordneter in Hamburg. Der Kanzlerkandidat versucht es mit Autorität. „Herr Steffen, wir bewegen uns jetzt in der fünften spekulativen Abteilung über einen Sachverhalt, zu dem ich nur beitragen kann, was in einem Tagebucheintrag von Herrn Olearius steht, was ich eingangs geschildert habe“, entgegnet er scharf und setzt zu einer Gegenrede an. Der Rollenwechsel geht auf, Steffen reagiert mit einer Rechtfertigung, Scholz ist plötzlich wieder obenauf und zieht sich aus der Bredouille.
Und es hört nicht auf. Scholz verschweigt dem Ausschuss eine weitere brisante Angelegenheit an diesem 30. April 2021 – wie sich aber erst Monate später herausstellt. 

Kurz vor Weihnachten 2021 enthüllen „Panorama“ und das Manager Magazin, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft mehr als anderthalb Jahre lang ein Vorermittlungsverfahren gegen Scholz wegen des Verdachts auf Untreue durchgeführt hat. Das Verfahren wurde im Frühjahr 2020 aufgenommen, nachdem erste Strafanzeigen von Bürgern infolge des „Panorama“-Berichts über das Treffen zwischen Scholz und Olearius aus dem Jahr 2017 gestellt wurden. Drei Wochen vor der Bundestagswahl, am 7. September 2021, wurde das Verfahren eingestellt – es hätten sich keine zureichenden Verdachtsmomente für Straftaten ergeben. Der PUA wurde darüber nicht in Kenntnis gesetzt. 

Lügen fürs Kanzleramt

Einer wusste von den Vorermittlungen, nämlich Olaf Scholz selbst. Dabei gibt die Staatsanwaltschaft an, ihn nicht informiert zu haben, weil es bei Vorermittlungsverfahren nicht nötig sei, den Beschuldigten in Kenntnis zu setzen. Doch am 17. März 2021 meldet sich völlig unerwartet Scholz’ Anwalt bei der Staatsanwaltschaft – mit einer von Scholz unterschriebenen Vollmacht als dessen Rechtsbeistand legitimiert. Dies geht aus Schreiben hervor, die Cicero vorliegen. Der Anwalt fordert vehement nach Akteneinsicht und in einem langen Schriftsatz die Einstellung des Verfahrens. 

Die Zeit drängt. Einen Monat vor Scholz’ Auftritt im Untersuchungsausschuss steckt der Kanzlerkandidat in einem Dilemma. Scholz muss befürchten, dass auch der PUA irgendwie von den Vorermittlungen erfahren könnte und ihn dazu befragen wird. Die Schlagzeile am nächsten Tag wäre: „Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Kanzlerkandidat wegen des Verdachts auf Untreue“. Für Scholz eine Katastrophe im gerade beginnenden Wahlkampf. 

Doch er hat Glück. Im PUA weiß niemand von den Vorermittlungen und er verschweigt sie – was juristisch als Lüge gilt. Eine Lose-lose-Situation: Entweder, er erzählt von den Vorermittlungen und riskiert das Kanzleramt. Oder er verschweigt sie und nimmt in Kauf, nach einer Enthüllung als Lügner überführt zu werden. Doch bis dahin ist er längst im Kanzleramt, und das hat höchste Priorität. Woher Scholz von den Vorermittlungen wusste, ist bis heute unbekannt. Offensichtlich gibt es ein Leck in der Staatsanwaltschaft beziehungsweise in der Justizbehörde.

Roter Parteifilz in der Justiz

Nach der Anhörung versucht Scholz’ Anwalt weitere Male, eine Einstellung der Ermittlungen zu erzwingen. Drei Wochen vor der Bundestagswahl wird das Verfahren schließlich eingestellt. Aber warum gibt die Staatsanwaltschaft angesichts der dichten Indizienlage an, es hätten sich keine zureichenden Verdachtsmomente ergeben?

Ein Schreiben, das Cicero vorliegt, offenbart, dass der rote Parteifilz in Hamburg bis in die Justiz reicht und willens ist, Scholz und Tschentscher um jeden Preis zu schützen. Nach der Einstellung der Verfahren gegen Scholz und Tschentscher wird von einem der Anzeigenerstatter eine Beschwerde eingereicht, die schließlich zur Generalstaatsanwaltschaft geht. Im November 2021 schreibt der Generalstaatsanwalt dem Beschwerdeerstatter und begründet, warum die Einstellung der Verfahren berechtigt sei. Es gäbe nämlich keinen Anlass, gegen Scholz wie auch Verantwortliche der Hamburger Finanzverwaltung zu ermitteln. Er schreibt dies zu einem Zeitpunkt, an dem allgemein bekannt ist, dass zwei Monate zuvor, im September, die Kölner Staatsanwaltschaft wegen der Warburg-Affäre eine Razzia bei einer leitenden Finanzbeamtin und in der Finanzbehörde durchführen ließ – wegen des Verdachts der Begünstigung, Strafvereitelung, Geldwäsche und Untreue. Zudem läuft in Köln ein zweites Strafverfahren gegen die frühere Chefin des Finanzamts für Großunternehmen wegen des Verdachts der Falschaussage.

Für Durchsuchungen bedarf es eines gravierenden Tatverdachts, doch das hält den Hamburger Generalstaatsanwalt nicht davon ab zu behaupten, es gäbe keinerlei Verdachtsmomente gegen Mitarbeiter der Finanzverwaltung – und so die Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen der Kölner Staatsanwaltschaft zu diskreditieren.

Teflon-Scholz

Mithilfe der Hamburger Staatsanwaltschaft und einer Taktik des Aussitzens und Nebelkerzenwerfens hat Scholz es geschafft, unbeschadet durch den Wahlkampf zu kommen – während sich die Öffentlichkeit auf vergleichsweise Lappalien wie Annalena Baerbocks Plagiate und Armin Laschets Lachen nach der Flutkatastrophe konzentrierte. 

Dabei muss Scholz nicht einmal subtil vorgehen – erst recht nicht, seit er fest im Kanzleramt ist. Dies zeigt sich exemplarisch auf der Pressekonferenz am 24. November 2021 zur Vorstellung des Ampelkoalitionsvertrags. Ein niederländischer Journalist konfrontiert ihn auf der live übertragenen Veranstaltung: „Sie reden viel über Respekt“, sagt er, „auch über Gerechtigkeit. Meine Frage ist: Wo ist dieser Respekt, wenn Sie die Unwahrheit gesagt haben bezüglich Treffen mit der Warburg-Bank?“ Außerdem: „Warum haben Sie dieser Bank 47 Millionen Euro Steuernachlass geschenkt, wobei deutsche Richter diese Personen gebrandmarkt haben als organisierte Kriminelle?“

„Schönen Dank für Ihre Frage“, sagt Scholz und antwortet mit einem inhaltslosen Redeschwall zum Thema innere Sicherheit, ohne auch nur mit einer Silbe auf die Frage einzugehen. Die Nachfrage des Journalisten, ob er auf das Warburg-Thema eingehen könne, wird abgekanzelt – jeder dürfe nur eine Frage stellen. Thema erledigt.

 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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