Olaf Scholz präsentiert Wahlprogramm - Ausgerechnet die SPD spricht von Respekt

In eine „Gesellschaft des Respekts“ will Olaf Scholz Deutschland verwandeln, so schreibt es der SPD-Kanzlerkandidat in einem Essay, und fordert es seine Partei im heute präsentierten Wahlprogramm. Dabei sind gerade die Genossen nicht unbedingt für respektvolles Verhalten bekannt.

Respekt ist Olaf Scholz besonders wichtig / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Dieses Mal soll nichts schiefgehen, das merkt man der Disziplin an, mit der die Sozialdemokraten die diesjährige Bundestagswahl angehen. Keine verstolperte Bekanntgabe des Kanzlerkandidaten wie seinerzeit bei Peer Steinbrück 2013, kein wie nebenher veröffentlichtes Wahlprogramm wie bei Martin Schulz 2017. Nein, die SPD von 2021 erlaubt sich bislang keine Fehler. Sie ist die erste Partei, die sich auf einen Kanzlerkandidaten festgelegt hat – und sie ist die erste mit Wahlprogramm

„Ein Plan für die 20er-Jahre“, nennt Scholz das für SPD-Verhältnisse kompakte Manifest bei der Online-Pressekonferenz an diesem Montag, bei der alles bis auf den raschelnden Ton reibungslos funktioniert. Der Kanzlerkandidat und die Parteivorsitzenden Esken und Walter-Borjans klingen bisweilen, als würden sie nebenbei staubsaugen. Und so routiniert wie Staubsaugervertreter spulen die drei Genossen dann auch ihr Programm ab. Um die Zukunft geht es (worum auch sonst, mag man sich fragen, wenn hier ein Programm präsentiert wird, das nach der Wahl in die Tat umgesetzt werden soll), um Europa, und vor allem um: Respekt.

Die „Gesellschaft des Respekts“

Respekt ist das große Wort der SPD in diesem Wahlkampf. Olaf Scholz hat es in den vergangenen Wochen immer wieder benutzt und in der Montagsausgabe der FAZ nun breit ausgewalzt: „Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts“ heißt sein tatsächlich lesenswerter Essay, der versucht, die Gräben, die in Zeiten von identitätspolitischen Debatten gegraben wurden, wieder zuzuschütten. Und zwar, Überraschung, mit Respekt und viel Geld als Erdmasse. Die „Politik des Respekts“ ist für Scholz liberal und sozial, „sie spielt Identitätsfragen, eine Antidiskriminierungspolitik und die soziale Frage nicht gegeneinander aus“, stellt sich gegen Rassismus, Sexismus und Klassismus.

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Scholz wäre nicht der Scholzomat, wenn er sich allein in einen paradiesischen sozialdemokratischen Zustand hineinschwelgen würde, wie es sein Vorgänger Martin Schulz einst getan hatte. Dieser hatte zwar im Wahlkampf 2017 ebenfalls viel von Respekt gesprochen, war über die etwas eindimensionale Erzählung von Busfahrern, die für ihre verantwortungsvolle Aufgabe ebenso viel Respekt verdienen wie der Chirurg, der Leben rettet, nie hinausgekommen. 

Mehr Geld für alle

Scholz hingegen unterfüttert (oder lässt es von seinen Referenten tun) seine Vorstellung von Respekt mit den Theorien der Soziologen Andreas Reckwitz und Michael Young sowie des Philosophen Michael Sandel. Durchaus erhellend verknüpft Scholz die Identitätspolitik mit ökonomischen und sozialen Fragen, wird dabei allerdings auch hochtheoretisch: „Das meritokratische Prinzip in einer Gesellschaft der Singularitäten blendet aus, dass wir eine arbeitsteilige Gesellschaft sind, in der wir alle aufeinander angewiesen sind“, sind wohl Sätze, mit denen man als SPD-Kanzlerkandidaten nicht gerade Arbeiter überzeugt.

Seine Schlussfolgerungen sind dann aber wieder fast banal sozialdemokratisch. Kurz gefasst: Mehr Geld und mehr Chancengleichheit für alle (außer für Spitzenverdiener, die höhere Steuern zahlen sollen) sorgen für mehr Gerechtigkeit und diese sorgt für größeren gegenseitigen Respekt. Das ist denn auch das, was sich die SPD ins Wahlprogramm geschrieben hat: Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen, Kindergrundsicherung statt Kindergeld, Hartz-IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Um den Grünen noch ein paar Wähler abzujagen, will sich die SPD auch stärker für den Klimaschutz einsetzen (als stelle man nicht schon seit 2013 die Umweltministerin).

Früher hätte es längst gekracht

Ob das reicht, um nach der Bundestagswahl eine Regierung anzuführen? Inhaltlich ist die SPD nicht weiter als 2017. Dennoch hat sie einige Vorteile, die sie unter Martin Schulz nicht hatte. Olaf Scholz ist ein Kandidat, der nicht nur regierungserfahren, sondern auch souverän ist, tatsächlich überzeugt davon, er könne Kanzler werden. Und, so absurd das sein mag, die Partei wirkt geeinter, als sie es unter Sigmar Gabriel und all den anderen Vorsitzenden des letzten Jahrzehnts je war. Dabei haben Esken und Walter-Borjans auf der einen Seite und Olaf Scholz auf der anderen Seite gerade in Wirtschaftsfragen fundamental unterschiedliche Ansichten. 

Früher hätte es bei einer solchen Konstellation im Willy-Brandt-Haus schon längst so laut gekracht, dass sogleich in allen Hauptstadtredaktionen die Seismografen ausgeschlagen hätten. Doch dieser Tage ist es beeindruckend ruhig. Die Sozialdemokraten verstehen es inzwischen, mit den Medien zu arbeiten. Allein am heutigen Montag war Olaf Scholz omnipräsent, morgens in der FAZ und bei Bild, wo er gleich noch den Hoffnungsträger in Sachen Corona-Maßnahmen mimte, dann nachmittags bei der SPD-Pressekonferenz zum Wahlprogramm, und abends aller Wahrscheinlichkeit nach in den Tagesthemen oder im Heute Journal. 

Falls die SPD diese parteiinterne wie auch mediale Disziplin bis in den Herbst durchhält, könnte sie tatsächlich eine Chance bei der Bundestagswahl haben, besser abzuschneiden als beim vergangenen Mal. Auch weil sich Scholz mit seiner unaufgeregten (oder eben emotionslosen) Art als perfekter Merkel-Ersatz geriert.

Wo ist der Respekt in der SPD?

Doch parteiintern und etwas an der öffentlichen Aufmerksamkeit vorbei brodelt es. Die SPD-Granden Wolfgang Thierse und Gesine Schwan haben sich in den vergangenen Wochen ebenfalls mit den Auswirkungen der Identitätspolitik auseinandergesetzt und sich dabei unter anderem mit dem Lesben- und Schwulenverband angelegt. Thierse, weil er sich in einem FAZ-Beitrag als „alter weißer Mann“ verunglimpft fühlte, Schwan, weil sie in einer Online-Diskussionsrunde der SPD die LGBTI-Community nicht gegen die FAZ-Redakteurin Sandra Kegel verteidigte. 

Scholz war gut beraten, in seinem Essay auf diese Debatte nicht einzugehen, obwohl er das gleiche Thema behandelte, sonst wäre er womöglich in die parteiinternen Querelen mit hineingezogen worden. Doch gerade als Sozialdemokrat dürfte er wissen, dass die Sache mit dem Respekt nicht so einfach ist, wie er es in seinem Essay skizziert. Zumindest ist seine Partei nicht gerade für gegenseitigen Respekt bekannt, sondern vor allem für internen Streit, gnadenlose Machtkämpfe.

Dafür muss man sich nicht einmal die aktuellen SPD-Debatten über die Identitätspolitik ansehen, es reicht auch ein kurzer Blick in die Vergangenheit. Man erinnere sich nur daran, wie einst Martin Schulz im Wahlkampf von den eigenen Leuten torpediert wurde oder wie man die Parteivorsitzende Andrea Nahles abgesägt hat. Ob Scholz nach der Bundestagswahl von den Genossen respektvoller behandelt werden wird?

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