NRW-Wahl - Sozialdemokratischer Realitätsverlust

Als Sozialdemokrat war nach der Landtagswahl in NRW Fremdschämen angesagt. Und das lag gar nicht am historisch schlechten Abschneiden der SPD, sondern an einer gehörigen Portion Anmaßung ihres Spitzenpersonals. SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil und sein Generalsekretär Kevin Kühnert lieferten nachträglich die letzten moralischen Argumente für einen Wahlsieg der CDU.

Niederlage, welche Niederlage? Lars Klingbeil und Kevin Kühnert / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Kaum waren um 18.00 Uhr die ersten Prognosen zum Ausgang der Wahl über die Bildschirme geflimmert, verkündete der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, dass die Sozialdemokratie ihr wichtigstes Wahlziel erreicht habe: die Ablösung von schwarz-gelb. Und außerdem, zeigte er sich kämpferisch, sei auch eine rot-grüne Regierung noch denkbar.

Zu diesem Zeitpunkt fehlte dafür lediglich ein Mandat. Angesichts der Tatsache, dass CDU und SPD nicht – wie noch in den letzten Meinungsumfragen – zwei bis drei Prozent voneinander trennten, sondern ganze 7,5 Prozent, mutete das trotzdem reichlich hasardeurhaft an.

Den gesamten Abend über tingelten Klingbeil und Kühnert von Mikrofon zu Talkrunde und verkündeten immer dieselbe Botschaft: Es sei keinesfalls unmöglich, dass auch der Zweitplatzierte eine Regierung anführen könne. Selbst der Bewertung, dass das Ergebnis „eine klare Niederlage“ sei, widersprach Kühnert selbstbewusst. Dumm nur, dass der Abstand zwischen CDU und SPD im Laufe des Abends immer größer wurde und am Ende bei neun Prozent zum Stehen kam. Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) konnte sich die Äußerungen der SPD-Spitze daher nur so erklären, dass die Genossen wohl unter „Schock“ stünden.

Von Anstand und Würde will die SPD-Spitze jetzt offenbar nichts mehr wissen

Bemerkenswert waren die Statements vor allem deshalb, weil Deutschland eine solche Debatte nach der letzten Bundestagswahl ja schon einmal erlebt hatte. Damals war es Armin Laschet (CDU), der sich mit seiner Niederlage nicht abfinden wollte und für eine Koalition gegen den Wahlgewinner SPD warb. Obwohl SPD und CDU nur 1,6 Prozent der Stimmen trennten, hatte Lars Klingbeil seinerzeit noch eine ziemlich klare Haltung: „Ich kann nicht verstehen, wie man aus diesem Ergebnis, dem historisch schlechtesten Ergebnis der Union, ableitet, dass man Kanzler dieses Landes werden will.“ Er forderte von Laschet „Anstand und Würde“ ein.

Von Anstand und Würde allerdings will die SPD-Spitze jetzt offenbar selbst nichts mehr wissen. Das ist deshalb erstaunlich, weil die Festlegungen von Kühnert und Klingbeil alles andere als spontan erfolgten. Sowohl die Vertreter der Presse als auch die Parteien erhalten am Wahltag bereits um 16.00 Uhr erste Prognoseergebnisse von den Umfrageinstituten. Sie alle haben zwei Stunden Zeit, das wahrscheinliche Ergebnis zu verdauen und sich im engsten Führungszirkel ein Wording auszudenken. Aber offenbar haben bei den Sozialdemokraten zwei Stunden nicht ausgereicht, um sich zu überlegen, dass man sich mit einer allzu forschen Position nicht nur ähnlich lächerlich macht wie Gerhard Schröder (SPD) in der Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005, sondern auch noch unglaubwürdig.

Dabei litt die SPD schon nach der Bundestagswahl 2017 an heftiger Logorrhoe. Auch damals genügten zwei Stunden nicht, um die eigenen Emotionen in rationale Argumente zu verwandeln. Keine zwei Minuten nach Bekanntgabe der ersten Prognose und damit der Wahlniederlage der SPD schloss diese kategorisch eine Regierungsbeteiligung aus – und musste wenige Wochen später umfallen. Eigentlich genug Anschauungsmaterial also, um nicht ein zweites Mal denselben Fehler des unüberlegten Sprechens zu begehen. Eigentlich … Respice finem.

Eine schwarz-grüne Koalition könnte das gespaltene Land versöhnen

Eine Regierung könnte die SPD in NRW dabei ohnehin nur anführen, wenn es zu einer Ampel käme. Grüne und SPD sind weit entfernt von einer Mehrheit. Allerdings denkt FDP-Spitzenkandidat Joachim Stamp gar nicht daran, sich nicht wie ein Wahlverlierer zu verhalten. Er erteilte noch gestern Abend einer Regierungsbeteiligung eine Abfuhr: „Wir haben zwei klare Wahlgewinner, und ich gehe davon aus, dass die beiden auch miteinander koalieren werden.“ Er sieht die FDP nach massiven Stimmenverlusten in der Opposition.

Mit etwas mehr nüchterner Flughöhe kann man dabei selbst als Sozialdemokrat zu der Überzeugung gelangen, dass eine schwarz-grüne Koalition gar nicht so schlecht in die Landschaft passt. Ihr könnte tatsächlich gelingen, was von Koalitionen stets gefordert wird: das Bauen von Brücken.

Seit Jahren wird wortreich beklagt, dass Deutschland kulturell und politisch immer weiter auseinanderfällt, dass das bürgerliche Miteinander immer weniger gelingt. Außerhalb des Kreises der politisch Unberührbaren gibt es wohl keine zwei Parteien, die diese Situation besser repräsentieren – aber in entgegengesetzter Weise.

Während die Grünen vor allem in städtischen Regionen und dort im akademischen, linksliberalen Milieu punkten, gelingt es der Union noch am ehesten, konservative Schichten und vor allem den ländlichen Raum an sich zu binden. Die Versöhnung von links und rechts, von Stadt und Land, von Akademiker und Handwerker, von Liberalismus und Kommunitarismus dürfte vor allem in einer schwarz-grünen Koalition gelingen können.

Die Wahlniederlage der SPD ist daher im Grunde für das gesamte Land eine Chance. Das könnten selbst Sozialdemokraten anerkennen, dazu bräuchte es nur etwas konstruktive Resignation. Auch wenn die mitunter schmerzhaft ist.

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