Niedersächsischer Ministerpräsident - Der vorsichtige Herr Weil

Niedersachsens SPD-Ministerpräsident Stephan Weil hat gute Chancen, im Oktober zum dritten Mal gewählt zu werden. Gefahr droht vor allem aus Berlin.

Im Oktober wird in Niedersachsen ein neuer Landtag gewählt. Stephans Weils SPD hat gute Chancen / Anne Hufnagl
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Stephan Weil ist bester Laune. Im blauen Pullover, darüber das Jackett, steht er an diesem windigen Juli-Abend auf der Brücke der MS Atlantis, die er erfolgreich in die Schleuse des Emder Stadthafens gesteuert hat. Doch dann meldet sich über Funk der Schleusenwärter: Problem mit der Schleuse, Techniker unterwegs. Weil eilt zurück auf Deck, ruft seinen Staatskanzlei-Mitarbeitern und den Journalisten, die ihn auf der Sommerreise begleiten, lachend zu: „Ich war’s nicht!“ Wenig später ist der Schaden behoben, das Schiff läuft in den Hafen ein. 

Anfang Oktober wählen die Niedersachsen einen neuen Landtag, und alles sieht danach aus, als könnte der Sozialdemokrat weiterregieren – dann wieder mit einer rot-grünen Mehrheit. Stephan Weil, Ministerpräsident seit 2013 und zuvor sieben Jahre Bürgermeister von Hannover, hat eine Erfolgsstrategie. Dazu gehört, dass zwischen einem Problem und ihm immer noch jemand steht.

Die Loriot-Figur Herr Weil

Wer Weil begegnet, der vermutet in ihm einen Oberstudienrat, einen gehobenen Verwaltungsangestellten, vielleicht einen Richter. Am Jackett fehlen nur noch die Ärmelschoner, um das Bild perfekt zu machen. Er ist nett, höflich, unaufdringlich, interessiert, auch etwas unbeholfen, er könnte eine Figur aus dem Loriot-Kosmos sein und Müller-Lüdenscheidt heißen. Er ist das Gegenteil von Markus Söder, der seit der Jugend Superhelden wie Iron Man und Spiderman nacheifert. Herr Weil liest in seiner Freizeit Bücher, in diesem Sommer geht er mit alten Studienfreunden wie jedes Jahr wandern in den Alpen.

Auch das gehört zu seiner Erfolgs­strategie – und fällt ins Auge angesichts seiner sozialdemokratischen Vorgänger an der Landesspitze: Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel, deren überbordendes Selbstbewusstsein für ihre Karriere und ihr Land Fluch und Segen zugleich war. Weil schaut sich bis heute Fußballspiele von Hannover 96 lieber auf der Tribüne als in der VIP-Lounge an. 

1958 geboren in Hamburg in einem bürgerlichen Elternhaus, aufgewachsen in Hannover, studiert Weil nach dem Zivildienst Jura in Göttingen, arbeitet in einer Anwaltskanzlei, wechselt dann aber als Staatsanwalt und Richter in den Öffentlichen Dienst. An seinem ersten Tag am Landgericht Verden hört er, so erinnert Weil sich 35 Jahre später, von seinem Vorgesetzten den Ratschlag: „Wenn dir jemand Akten auf den Tisch legt, frag als Erstes: Warum ich?“

Seiner Stellung bewusst

Beim Wechsel in den Staatsdienst spielt – neben der Heirat und der Geburt des Sohnes – eine Rolle, dass er mehr Zeit in die Partei investieren will: Seit Studienzeiten mit dem (inzwischen verstorbenen) SPD-Politiker Thomas Oppermann befreundet, tritt er 1980 in die SPD ein, während sich auf Bundesebene Franz Josef Strauß und SPD-Kanzler Helmut Schmidt beharken. Weil, damals „undogmatischer Linker“, kommt zum Schluss: „Ich muss Partei ergreifen.“ Er wird Juso- und dann SPD-Vorsitzender des in Niedersachsen wichtigsten Stadtverbands Hannover, 1997 Stadtkämmerer im Rathaus Hannover, damals noch ein Ort, der ohne erkennbare Mühe von Sozialdemokrat zu Sozialdemokrat vererbt wird. In dieser Zeit erarbeitet sich Weil den Ruf eines soliden Haushälters und hadert mit seiner Partei, weil er den rot-grünen Sparkurs auf kommunaler Ebene umsetzen muss. Politiker wird er erst mit 48 Jahren: 2006 macht ihn sein Vorgänger zum OB-Kandidaten – Weil siegt in der ersten Runde.

Zu Weils Erfolgsrezept gehört auch sein auf den ersten Blick leicht zu übersehender Machtwille: Über ihn gibt es keine Anekdoten wie über Schröder, der schon als Student am Zaun des Bonner Bundeskanzleramts gerüttelt und geschrien haben soll: „Ich will hier rein!“ Aber Weil greift zu, wenn er eine Chance sieht. 2011 bewirbt er sich um das Amt des SPD-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl. Später erzählt er gerne, dass er sich sträubte, ja, dass er bekniet worden sei, doch zu kandidieren. Aber natürlich will er: Dafür führt er sogar einen Mitgliederentscheid herbei – gegen den damaligen SPD-Chef Olaf Lies, gewinnt knapp und nimmt dem Unterlegenen gleich noch den Landesvorsitz ab. 

Und doch kennt er seine Grenzen. „Er hat seine Möglichkeiten immer realistisch eingeschätzt“, sagt Michael Berger, drei Jahrzehnte landespolitischer Korrespondent der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung – und mit Weil seit den 1990ern bekannt. 2019, als die Bundes-SPD führungslos dem Abgrund entgegensteuert, liebäugelt Weil mit einer Kandidatur für den Parteivorsitz, aber „springt nicht“. Ein Grund dafür ist sein Fremdeln mit der „Berliner Blase“: Twitter ist nicht seine Welt, er kommuniziert mit den Bürgern lieber auf Facebook. 

Gutes Timing

Gegner unterschätzen seine Durchsetzungsfähigkeit, gerade in Krisenmomenten. So auch Ferdinand Piëch, ein beinharter Verhandler und über Jahrzehnte eine der einflussreichsten Figuren der deutschen Wirtschaft: 2015 lähmt ein Konflikt zwischen dem Aufsichtsratsvorsitzenden Piëch und VW-Chef Martin Winterkorn den Konzern, an dem Niedersachsen 20 Prozent der Anteile hält und der das wirtschaftliche Rückgrat des Landes ist. Bei einem Treffen am Flughafen Braunschweig macht Weil mit den Gewerkschaften im Rücken Piëch klar, dass dessen Zeit abgelaufen ist. Der Unterlegene versucht sich 2017 zu rächen, indem er Weil eine Verwicklung in den VW-Abgasskandal andichtet. Der Verdacht lässt sich jedoch nie erhärten. 

Erhärten lässt sich auch der Verdacht nicht, Weil sei Teil der „Schröder-­Moskau-Connection“ der SPD: Weil schwomm immer im sozialdemokratischen Russland-Mainstream. Nach der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny schrieb er: „Sanktionen sind Sackgassen.“ Aber seit dem 24. Februar gehört er etwa in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu den Bremsern in seiner Partei – distanziert sich aber zugleich vom „Bellizismus“ eines Anton Hofreiter. 

Auch 2017 packt Weil im richtigen Moment zu: Wenige Monate vor der Landtagswahl platzt die rot-grüne Koalition, weil eine Grünen-Abgeordnete zur CDU überläuft. Weil führt Neuwahlen herbei, der Skandal bleibt an Grünen und CDU haften, die schwächelnde SPD wird klar stärkste Kraft. Seitdem regiert eine rot-schwarze Regierung das Land. 

Anpacker oder Verwalter?

Zu Weils Stärken gehört auch seine Fähigkeit, Menschen einzubinden: In den rot-schwarzen Jahren trifft er sich regelmäßig zu Gesprächen mit den Spitzen von FDP und Grünen. FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner betont sein gutes Verhältnis zum MP, „auch wenn wir uns sehr böse gezofft haben“. Weil hat CDU-Herausforderer Bernd Althusmann damit etwas voraus: Der umgarnt erst in den letzten Wochen die Grünen, um sie von der SPD zu lösen. Ein gewachsenes Vertrauensverhältnis ist das nicht. 
Positiv gedeutet passt Weil zu Niedersachsen, weil er genauso mittelmäßig ist wie das Land: Ob bei der Digitalisierung der Schulen, beim Brutto-Durchschnittseinkommen (4200 Euro), bei der Arbeitslosenquote (5,1 Prozent), beim Ausbau der Erneuerbaren, ja selbst im „Glücksindex“ der Deutschen Post – überall liegt das Land mit seinen acht Millionen Einwohnern etwa im Bundesdurchschnitt.

Jenen, die Dinge voranbringen wollen, ist das zu wenig. „Weil begleitet Prozesse nur, aber er hatte nie einen Gestaltungsanspruch“, sagt FDP-Chef Birk­ner. Er agiere noch immer, als wäre er OB in Hannover. „Die Digitalisierung wurde zwar von ihm adressiert, aber versickerte in der Verwaltung.“ Ähnliche Vorwürfe hört man von den Grünen zur ökologischen Transformation: Weil gehe nicht voran.

Und kann sich doch schmücken mit Erfolgen: Beim Besuch der Emder VW-Fabrik fährt er mit dem Werkschef eine Runde im dort produzierten E-Auto ID.4. Weil erinnert sich an die schlechte Stimmung in der Belegschaft 2018: VW war angeschlagen vom Dieselskandal, die Strategie zur E-Mobilität unklar, während Tesla alle überholte. Heute kann er Journalisten durch eine hochmoderne Produktionshalle führen, in der seit Mai der ID.4 vom Band läuft. Zwei Tage später legt er mit Olaf Scholz in Salzgitter den Grundstein für ein VW-Batteriewerk. Aber wie viel davon ist sein Verdienst?

Übergabe an den Nachfolger?

Typisch für Weil, so Birkner, sei auch der nun eilige Bau der LNG-Terminals an der Küste Niedersachsens: Dafür sei Umweltminister Olaf Lies zuständig. „Wenn es gut geht, wird sich Weil damit schmücken. Wenn nicht, ist immer noch der Fachminister dazwischen.“

Weil ficht das nicht an. Er sei eben „bekennender Realo“. Das gelte auch für sein Verhältnis zu den Grünen: Er sei schon seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre „überzeugt davon, dass eine starke soziale SPD mit sehr ökologischen Grünen zusammenarbeiten“ kann. Und doch: „Die Grünen haben manchmal die Neigung, praktische Aspekte zu unterschätzen.“
Gerade fährt der Bus mit dem Ministerpräsidenten übers flache Land unweit von Emden. Die Chefin des Energieversorgers Enercity hat einen Vortrag über die Probleme gehalten, die auf das Land zukommen. Weil, einen Apfel in der Hand, blickt aus dem Fenster: „Da wohnt die Mittelschicht, die typischerweise ihr Haus abbezahlt hat und bei der das Geld reicht. Wir können denen bei den explodierenden Energiekosten nicht sagen: Damit müsst ihr jetzt klarkommen!“ Er will, dass der Staat, ähnlich wie in der Corona-­Krise, die Haushalte entlastet. Eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse steht für ihn außer Frage.

Derzeit spürt Weil keinen Rückenwind aus Berlin – ein echter Ampelstreit über den richtigen Umgang mit der Energiekrise könnte ihm jedoch gefährlich werden: Wenn die Bürger die ersten Rechnungen ihrer Versorger öffnen, bevor die Regierung erklärt hat, wie sie das kompensieren wird.
In Hannover machen derweil Gerüchte die Runde, dass Weil, der im Dezember 64 Jahre alt wird, zur Mitte der Legislatur an einen Nachfolger übergeben könnte. Am besten stehen die Chancen für Umweltminister Lies. Belastbares lässt sich dazu aber nicht erfahren. Hier gilt, was Weil-Kenner Berger so auf den Punkt bringt: „Er ist sehr kommunikativ, aber verschlossen wie eine Auster.“

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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