Neujahrsansprache von Angela Merkel - In göttlicher Mission

Ist die Bundeskanzlerin jetzt endgültig in der Phase ihrer Selbststilisierung angekommen? In ihrer Neujahrsansprache verortet sich Angela Merkel ohne falsche Bescheidenheit als Retterin des Weltfriedens in einem Raumschiff im All schwebend. Die wichtigste Frage aber klammert sie aus

Wenn man auf der Erde nicht weiter weiß – einfach mal einen Blick aus dem Weltraum wagen / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Das Faszinierende an Angela Merkels Neujahrsansprachen besteht in der Kunst ihrer Redenschreiber, viele wichtige Punkte nicht nur auf relativ kleinem Raum zu erwähnen, sondern sie noch dazu in einen vermeintlichen Sinnzusammenhang zu stellen. Eine Kostprobe aus der aktuellen Ausgabe: „Da ist die Schicksalsfrage des Klimawandels, die der Steuerung und Ordnung der Migration, da ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. In unserem eigenen Interesse wollen wir alle diese Fragen lösen, und das können wir am besten, wenn wir die Interessen anderer mitbedenken. Das ist die Lehre aus den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts.“

Klimawandel, Migration und Terrorbekämpfung hängen also praktisch unmittelbar mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zusammen, welche den Weg zur Lösung weisen. Und zwar, indem die „Interessen anderer“ mitbedacht werden. Auf diese Weise ließen sich wahrscheinlich auch Kinderarmut, Infrastrukturprobleme oder das Artensterben mit den beiden katastrophalen Konflikten des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen. Durch geschichtliche Überhöhung wird die Tätigkeit der Kanzlerin und der von ihr geführten Bundesregierung als quasi alternativlos dargestellt, als eine Art fortgesetztes Abarbeiten historischer Schuld. In Berlin würde man sagen: „Haben Sie es nicht auch eine Nummer kleiner?“ Aber Merkel ist jetzt offenbar endgültig in der Phase ihrer Selbststilisierung für die Geschichtsbücher angekommen, und da wird eben mit großer Kelle geschöpft: Sämtliches Wirken und Wollen der Kanzlerin erscheint im Lichte globaler Verantwortung Deutschlands vor dem Panorama der Jahre zwischen 1914 und 1945.

Mit Blick aus dem Weltraum

Auch Merkels vernehmliche Selbstkritik wirkt nicht wie die Schilderung normaler politischer Unzulänglichkeiten, sondern wie eine historische Demutsgeste: „Es ist mein Verständnis als Bundeskanzlerin, dass unsere Demokratie von der mehrheitlich getragenen Übereinkunft lebt, dass ihre Staatsdiener alles in ihrer Macht stehende für den inneren Frieden und den Zusammenhalt unseres Landes tun. Dass sie sich immer wieder prüfen, was sie auch ganz persönlich dazu beitragen können. Das habe ich getan. Und zwar auch unabhängig davon, wie unbefriedigend das vergangene Jahr war, weil ganz grundsätzlich 13 Jahre Amtszeit als Bundeskanzlerin dafür allemal Grund genug sind.“ So habe sie Ende Oktober „einen Neubeginn eingeleitet und gesagt, dass ich nach Ende dieser Legislaturperiode keine politischen Ämter mehr ausüben werde.“

Das klingt beim ersten Lesen sehr vernünftig, bis man sich beim zweiten Lesen allerdings fragt: Wenn die Kanzlerin offenbar zu dem Ergebnis gelangt ist, dem inneren Frieden und Zusammenhalt der Bundesrepublik nicht mehr dienlich zu sein, warum bleibt sie dann im Amt und verzichtet lediglich auf den Vorsitz ihrer Partei? Immerhin geht die Legislaturperiode erst in gut zweieinhalb Jahren zuende. So wird aus einer vermeintlichen Bescheidenheitsbekundung am Ende ein sehr majestätisches Gebaren. Diese Überhöhung findet ihren Ausdruck in der von ihr bemühten Weltraummetapher: „Geradezu sinnbildlich“, so Merkel, seien „die Bilder, die uns unser Astronaut Alexander Gerst in den letzten Monaten von der internationalen Raumstation ISS geschickt hat“ es seien „Bilder, die uns immer wieder eine neue Sicht auf unseren Planeten geben.“ Das also ist die Perspektive der deutschen Regierungschefin in ihrem 13. Amtsjahr. Es klingt beinahe nach einer göttlichen Mission.

Ohne Toleranz keine Digitalisierung

Da mutet es fast schon etwas bedrohlich an, wenn die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache erwähnt, dass Deutschland „ab morgen für zwei Jahre Mitglied im UN-Sicherheitsrat sein“ und „sich dort für globale Lösungen einsetzen“ werde. Bei dem von ihr formulierten Anspruch sollte man tatsächlich darauf hoffen, dass „die Interessen anderer“ mitbedacht werden. Eine Tugend übrigens, die die Bundesregierung in den vergangenen Jahren nicht unbedingt beherzigt hat – insbesondere, was die von Merkel ausdrücklich hervorgehobene Migrationsfrage angeht. Aber womöglich fehlt dem einen oder anderen ausländischen Staatschef einfach nur der Blick aus dem Weltraum und aus der deutschen Vergangenheit. Es sei ihnen großzügig verziehen.

Kommen wir mit den Worten der Kanzlerin noch kurz auf einige andere irdische Herausforderungen zu sprechen: „Um Arbeitsplätze, Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen zu sichern, geht die Bundesregierung konsequent die nächsten Schritte beim Strukturwandel von traditionellen zu neuen Technologien und setzt ihre Strategie für den digitalen Fortschritt um. Mit unserer Arbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse wollen wir erreichen, dass jede und jeder einen guten Zugang zu Bildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung hat – auf dem Land genauso wie in der Stadt.“ Das wünschen sich bestimmt viele Bürger, doch aufgepasst! Denn so einfach ist das eben nicht: „Dabei ringen wir um die besten Lösungen in der Sache. Immer häufiger aber auch um den Stil unseres Miteinanders, um unsere Werte: Offenheit, Toleranz und Respekt.“ Mit anderen Worten: Wer sich diesem Wertedreiklang verweigert, der kommt am Ende auch bei der Digitalisierung nicht voran.

Majestätische Herablassung

Warum das so ist, bleibt in Merkels Neujahrsansprache zwar weitgehend im Dunklen, aber es gilt immerhin folgende Lerneinheit: „Da, wo wir an unsere Werte glauben und unsere Ideen mit Tatkraft umsetzen, da kann Neues und Gutes entstehen.“ Nun sind Offenheit (auch hier wäre eine Präzisierung des Begriffs durchaus wünschenswert), Toleranz und Respekt mit Sicherheit erstrebenswerte Tugenden. Im direkten Zusammenhang mit prosaischen politischen Zielen wie der Versorgung mit Wohnraum und Gesundheitswesen wirkt das alles aber recht aufdringlich und belehrend. Nach dem Motto: Wer sich dem moralischen Konsens verweigert, der wird schon sehen, was er davon hat. So hinterlässt Angela Merkels aktuelle Neujahrsansprache einen unangenehmen. Beigeschmack. Ihre ostentative Bescheidenheit atmet zu oft den Geist majestätischer Herablassung.

Sehen Sie hier die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin.

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