Die Migrantifa - „Unsere Körper sind per se politisch“

In der linksradikalen Szene hat sich eine neue Gruppierung etabliert: die Migrantifa. Ihre bisherigen Statements und Forderungen klingen teilweise wirr. Muss man das wirklich ernst nehmen?

Die Migrantifa – eine neue Bewegung oder doch bloß Stellvertreter linker Aktivisten? / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Auch die linksradikale Szene unterliegt einigen Mechanismen der Marktwirtschaft. Dabei geht es eher nicht um um Kapitalverwertung zur Erzielung von Renditen. Vielmehr spielt sich das Ringen um eine führende Marktposition in diesem Spektrum im Bereich der Aufmerksamkeitsökonomie ab. Und wo gestern noch gesprühte Losungen der obskuren Organisation „Jugendwiderstand“ oder lokaler Antifa-Gruppen zu sehen waren, prangt derzeit oftmals ein neues Label: Migrantifa.

Mit diesem Kunstwort soll der Anspruch formuliert werden, Migrantengruppen und „weißdeutsche“ (O-Ton) radikale Linke im Kampf gegen Rassismus, Neonazis, Diskriminierungen aller Art, den Kapitalismus im Allgemeinen und den Staat als Ganzen zu bündeln. Wichtiger Anknüpfungspunkt ist die ursprünglich US-amerikanische Bewegung „Black Lives Matter“, die sich nach der brutalen Tötung des Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai in Minneapolis global ausbreitete. In Deutschland bezieht man sich unter anderem auf rassistisch motivierte Morde in der jüngeren Vergangenheit, wie in Halle und Hanau.

Eher ein Netzwerk als eine Organisation

Migrantifa ist bislang durch einige lokale Protestaktionen in Berlin und einigen anderen Großstädten in Erscheinung getreten, die auch aufgrund der Corona-Restriktionen relativ unspektakulär verliefen. Umso massiver ist die mediale Präsenz, vor allem in sozialen Medien wie Twitter und facebook und in den einschlägigen Publikationen der Szene. Um eine klassische Organisation mit Basisgruppen, Gremien und Leitungsebenen handelt es sich nicht, eher um eine Art Dachmarke für recht heterogene, lokale Gruppen, die von einem teilweise klandestin operierenden Führungskern mehr oder weniger koordiniert werden.

Etwas Licht in das Dunkel brachte am 23. Juni ein Interview der taz mit zwei Vertretern der Gruppe. Zu deren Forderungen gehört laut einer Sprecherin – szenetypisch ohne Klarnamen – die Auflösung der Polizei, denn „Rassismus und Unterdrückung sind Teil der polizeilichen Struktur und werden dies auch bleiben“. Alle Mittel, „die in Wasserwerfer, Polizeischikane, Polizeischulen, Ausstattung und Bürokratie fließen, sollten stattdessen in relevante Bereiche wie Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau umverteilt werden“.

Wieder nur linke Stellvertreterpolitik?

Zur Aufmerksamkeitsökonomie gehört natürlich auch die Abgrenzung von der Konkurrenz und die Formulierung von Alleinstellungsmerkmalen. Klassische linke Strukturen wie auch die Antifa in Deutschland seinen „mehrheitlich weiß dominiert“ wird beklagt. Viele „Migrantisierte“ fühlten sich „unwohl in linken Kontexten“ wo es oftmals um Lifestyle- und Szene-Codes gehe und auch „verdreckte und versoffene Kiezkneipen zum guten Ton gehören“, wo sich Migranten sich wohlfühlen. Der Unterschied zwischen Migrantifa und „weißdeutschen linken Strukturen ist, dass wir per se durch unsere Körper politisch sind“.

Das klingt – vorsichtig formuliert – etwas wirr, öffnet aber Spielräume für wirklich bedenkliche Sichtweisen. In den zahlreichen Beiträgen und vor allem Kommentaren von Migrantifa-Anhängern im Netz geht es oftmals darum, jegliches staatliches Handeln – etwa gegen Wirtschaftskriminalität oder spontane Gewaltausbrüche wie in Stuttgart – als per se rassistisch zu klassifizieren, wenn es auch Migranten betrifft. Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass es in Deutschland auch gravierende Probleme mit rassistischen Anschauungen und Strukturen bis hin zu rechtsterroristischen Aktionen gibt, könnte dies eher kontraproduktiv wirken.

„Weißdeutsche“ Aktivisten als Stellvertreter

Unklar bleibt zudem, ob es sich bei Migrantifa tatsächlich um die angestrebte Selbstorganisation von Migranten handelt, oder ob letztendlich nicht auch dort wieder „weißdeutsche“ Aktivisten als Stellvertreter agieren. Zumal in der linksradikalen Szene auch andere Identitäts- und vor allem Gender-Fragen einen dominierenden Stellenwert einnehmen – was in den meisten Migrantengruppen erfahrungsgemäß wenig Resonanz findet.

Es bleibt also abzuwarten, ob Migrantifa tatsächlich so etwas wie eine Marktführerschaft in diesem Spektrum erreichen und behaupten kann. Daher sollte man die ganze Sache relativ gelassen beobachten und nicht höher hängen, als nötig. Und sich umso entschiedener mit realen Problemen der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit dunklerer Hautfarbe und nichtdeutscher Herkunft beschäftigen.      

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