Michelle Müntefering - Die aus der Hochburg

Bei der Bundestagswahl 2017 holte Michelle Müntefering das beste Ergebnis aller SPD-Direktkandidaten in NRW. Doch so überzeugend die Nominierung im Wahlkreis war, haben die Probleme der Stadt Herne nicht viel mit den Themen zu tun, die Müntefering in Berlin bearbeitet. Die Parteibasis murrt.

Michelle Müntefering, Staatsministerin für internationale Kultur- und Bildungspolitik, im Bundestag / dpa
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Autoreninfo

Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. 2020 erschien sein Buch „Beten Sie für uns!: Der Untergang der SPD“.

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Sie entschuldigt sich in Namibia für den Völkermord an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen, engagiert sich für verfolgte Wissenschaftler und Künstler, gratuliert Griechenland zum 200. Jahrestag der Revolution und spricht bei der Eröffnung einer Ausstellung von Fotografien in Deutschland lebender Türken in Essen. 

Das Aufgabenspektrum, das Michelle Müntefering als Staatsministerin für internationale Kultur- und Bildungspolitik abdeckt, ist groß. Der Themenbereich hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Müntefering macht ihre Arbeit mit Begeisterung. Ihre heutige Position wurde in den Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD 2018 für sie in der jetzigen Form neu geschaffen.

Seit 2013 im Bundestag

„Besonders liegt mir die Science-Diplomacy am Herzen“, sagt die Staatsministerin Mitte August beim Wahlkampfauftakt der SPD in Bochum, zu dem Olaf Scholz ins Ruhrgebiet gekommen ist. „Wir müssen Deutschland als Wissenschaftsstandort stark machen, und das geht nur durch internationale Vernetzung.“


Michelle Müntefering hat die klassische Vita einer SPD-Politikerin aus dem Ruhrgebiet: 1999, da war sie 19, kandidierte Müntefering erstmals für den Rat ihrer Heimatstadt Herne. Mit 22 Jahren wurde sie dort zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Fünf Jahre später zog sie als damals jüngstes Mitglied in den Landesvorstand der damals noch mächtigen SPD in NRW ein, ab 2004 saß sie im Herner Rat. 2013 holte sie das Direktmandat für den Bundestag

Die Genossen haben Münteferings Talent früh erkannt, sie gefördert und ihr den Raum gegeben, um sich politisch zu entfalten. Sicher nicht abträglich für ihre Karriere war, dass sie 2009 Franz Müntefering heiratete, der kurz zuvor den SPD-Vorsitz abgegeben hatte. Die politische Karriere der damals als freie Journalistin tätigen Müntefering nahm von diesem Jahr an jedenfalls an Fahrt auf.

Und sie lieferte: 2017 holte Müntefering im Wahlkreis Herne-Bochum mit 41,9 Prozent das beste Erststimmenergebnis der SPD in NRW und das drittbeste bundesweit. 

Abwärtstrend auch in Herne

In Herne ist die SPD noch stark, hier stellt sie noch unangefochten den Oberbürgermeister, gilt als Partei der Kümmerer. Ihre Mitglieder sind in den Vereinen aktiv und Ansprechpartner, wenn es Probleme gibt. Obwohl die Stadt nach wie vor eine rote Hochburg ist, zeigt die Kurve aber auch hier stabil nach unten: Michelle Münteferings Vorgänger Gerd Bollmann erreichte bei der Bundestagswahl 2002 noch 61,5 Prozent. 2005, nach der Einführung von Hartz IV durch den SPD-Kanzler Gerhard Schröder, reichte es noch für 51,9 Prozent.

Zur Bundestagswahl im September haben die Herner Genossen Michelle Müntefering erneut aufgestellt – mit 89 Prozent der Stimmen. Ihre ersten Erfahrungen im gerade begonnenen Wahlkampf waren positiv. „Die Menschen sind freundlich, wenn sie unsere Stände sehen. Gegenüber der SPD herrscht eine gute Stimmung“, lautet ihr Befund.

Herne und die Welt

Für ihren Wahlkreis in Herne und das Ruhrgebiet habe sie viel erreicht, sagt Müntefering. Sie sei an der Schaffung des sozialen Arbeitsmarkts und der Entlastung der Städte bei den Kosten für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Empfänger und Flüchtlinge beteiligt gewesen. Aber auch ihre Arbeit im Außenministerium sei für Herne wichtig: „Die internationalen Beziehungen sind auch für uns von Bedeutung. Das Ruhrgebiet ist eine Region, die von Zuwanderung geprägt ist. Auch andere Teile der Bundesrepublik können davon lernen, wie wir mit dieser Herausforderung umgegangen sind.“ 

In Herne sehen ihre Genossen das zum Teil anders. So überzeugend ihre Nominierung im Wahlkreis auch war, grenzenlos ist die Zustimmung ihrer Genossen nicht: Bei der Wahl zum Herner SPD-Vorstand kam sie nur auf den dritten Platz und setzte sich knapp gegen eine Kommunalpolitikerin durch. 

Emanzipiert von der Problemstadt

Die Probleme in der Stadt, sie haben eben doch nicht viel mit den Themen zu tun, die Müntefering in Berlin bearbeitet: Im Juli lag die Arbeitslosigkeit mit 11,5 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Herne gehörte zu den Corona-Hotspots im Ruhrgebiet. Die Stadt hat keine Hochschule, die wirtschaftlichen Aussichten sind ebenso trist wie die Innenstadt. Von ihren Abgeordneten erwarten die Menschen, dass sie Fördermittel und Projekte für die Stadt an Land ziehen. 

Als Staatssekretärin im Verkehrs- oder Wirtschaftsministerium könnte Müntefering diese Erwartungshaltung wohl besser erfüllen. Aus der Bildungsforschung ist bekannt, dass Kinder sich von ihren Unterschichtseltern entfremden, wenn sie studiert und akademische Titel erworben haben. Bei Müntefering und Herne ist das ähnlich.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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