Meinungsfreiheit - Stammesdenken statt Rationalität

Die deutsche Gesellschaft lebt in dem Selbstverständnis, eine freie Öffentlichkeit zu haben. In der Praxis werden die Grenzen des Sagbaren jedoch immer enger gezogen - durch eine Rhetorik des Ausnahmezustands, Aggression gegen abweichende Meinungen und die Unlogik der Identitätspolitik.

Die öffentliche Debatte steuert in Deutschland in Richtung Unfreiheit / Karsten Petrat
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Die Öffentlichkeit ist ein ungemütlicher Ort. Wäre sie eine Person, wäre man ungern in ihrer Nähe. Ständig versteht sie etwas falsch, bei dem kleinsten Anlass schreit sie laut auf. Und für Kritik ist sie gänzlich taub. Nun ist die Öffentlichkeit kein Ort und auch keine Person, sondern eine Verabredung, die Menschen miteinander treffen, um sich über die Probleme auszutauschen, die uns alle angehen. Dieser imaginäre Ort entsteht und vergeht also durch die Art, wie er benutzt wird. Wenn alle nur schreien und niemand mehr zuhört, entsteht eine andere Öffentlichkeit, als wenn aufmerksam zugehört und reflektiert gesprochen wird. 

Die Freiheit einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie offen dieser Ort ist. Je autoritärer ein Regime ist, desto rigider reglementiert es das öffentliche Sprechen. Denn was nicht öffentlich besprochen werden kann, das kann auch nicht zum Gegenstand von Kritik an den Mächtigen werden. Die deutsche Gesellschaft lebt in dem Selbstverständnis, eine freie Öffentlichkeit zu haben. Auf der Ebene der staatlichen Regulierung sind die Regeln weit gefasst. Was nicht der Verfassung widerspricht oder die Persönlichkeit beleidigt, ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Diese Regeln sind in den USA sogar noch liberaler, und doch mehren sich dort wie hier die Stimmen, die eine zunehmende Unfreiheit beklagen. Ist diese Klage berechtigt?

Als Antwortversuch ist es hilfreich, sich drei verschiedene Argumentationen anzuschauen, die aktuell die Öffentlichkeit dominieren: Es gibt erstens eine Tendenz, in jedem Problem den Ausnahmezustand zu sehen. Es gibt zweitens eine engherzige Definition der Meinungsfreiheit. Und drittens verbreitet sich die Unlogik der Identitätspolitik. 

1. Die Lust am Ausnahmezustand

Von Carl Schmitt gibt es die berühmte Unterscheidung zwischen der Phase der Debatte und dem Moment der Entscheidung. Die Debatte findet in der „Schwatzbude des Parlaments“ statt. Doch zur politischen Macht wird sie erst, wenn eine Exekutive aus der Fülle der Argumente und Meinungen die eine Entscheidung trifft. Die Abwertung der Debatte hat Carl Schmitt zu seinem Politikmodell des Dezisionismus gebracht. Nur die Entscheidung ist entscheidend. Wer die Macht darüber hat, der hat die Macht unabhängig von der schwatzenden Öffentlichkeit. Die absolute Macht hat nach dieser Logik der Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheiden kann. Damit ist gemeint, dass der Souverän einen Notfall ausruft, weil die Lage so brisant ist, dass die bisherigen Regeln nicht ausreichen, um sie zu bewältigen. Im Ausnahmezustand ist er berechtigt, darüber zu entscheiden, nach welchen Regeln er seine Entscheidungen treffen darf. 

Das Gegenmodell zu diesem Dezisionismus findet sich im Deliberalismus, den Jürgen Habermas als Modell einer geglückten Öffentlichkeit entworfen hat. Mit dem sperrigen Wort Deliberalismus ist gemeint, dass die Öffentlichkeit ein Ort sein soll, an dem man sich gegenseitig berät (deliberare) und diese Beratung bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt wird. Die Entscheidungen sind dann vor allem Kompromisse, und der Entscheider ist weniger ein mächtiger Souverän als der erste Moderator der Gesellschaft. Die Vor- und Nachteile eines solchen moderierenden Politikstils konnte man in den 16 Merkel-Jahren erleben. Doch nicht nur ihr zauderndes Moderieren bleibt in Erinnerung, sondern vor allem ihre Momente des Dezisionismus haben weitreichende Folgen wie etwa die vorgezogene Abschaltung aller Atomkraftwerke oder ihre Weigerung, Migration zu kontrollieren. 

Genug geschwatzt

Je komplizierter die Welt wird, desto mehr breitet sich in der Öffentlichkeit eine Sehnsucht nach einfachen radikalen Lösungen aus. Die epidemische Notlage von nationaler Tragweite oder die Katastrophenlust von Fridays for Future machen der langatmigen Entscheidungsfindung einen kurzen Prozess. Genug geschwatzt, die Welt geht unter, jetzt zählen nur noch harte und schnelle Maßnahmen. Wer mit dem Ausnahmezustand der Klimakatastrophe argumentiert, braucht keine Beratung mehr. Die Öffentlichkeit soll kein Ort der gegenseitigen Argumente mehr sein, sondern sie wird zu einer Einbahnstraße, auf der die eine Seite ihre Anhänger in Marsch setzt und zugleich von allen anderen erwartet, dass sie sich dieser Richtung anschließen. 

Die Behauptung des Ausnahmezustands gehört inzwischen zum festen Repertoire der öffentlichen Rede. Kein Anlass wäre zu klein, als dass man nicht einen weiteren Ausnahmezustand ausrufen könnte. Und die Empörung kennt kein Argument mehr, das kleiner wäre als der Weltuntergang.

2. Die engherzige Definition der Meinungsfreiheit

Die Grenze der Meinungsfreiheit lässt sich in einer einfachen Situation anschaulich machen. Wer in einem voll besetzten Theater „Feuer!“ ruft und damit eine Massenpanik auslöst, obwohl es gar nicht brennt, der kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Der Feuer-­Ruf wird als eine Handlung bewertet, die Menschen hat zu Schaden kommen lassen. In einer klar umrissenen Situation wie einem Theater ist eine solche Bewertung einfach zu treffen. Doch was bedeutet das für die Öffentlichkeit? Ist es auch als gefährliche Handlung zu bewerten, wenn in einer Pandemie jemand die Meinung äußert, dass er das Impfen von Kindern für gefährlich hält oder es ablehnt, Ungeimpfte als Menschen zweiter Klasse zu behandeln? 

Die Seite, die den Ausnahmezustand der Corona-Lage vertritt, hält jede Infragestellung des Impfens für einen Angriff auf ihre Agenda. Die Meinungsfreiheit mag zwar noch formal gelten, doch wird ihre konkrete Ausübung, wenn sie das Impfen betrifft, dadurch eingeschränkt, dass jeder, der sich so äußert, als Querdenker diffamiert wird. Dasselbe Muster findet sich inzwischen in vielen Debatten wieder. Wer meint, dem Klimawandel solle man nicht nur mit Verboten, sondern auch mit technischen Innovationen begegnen, gilt als Klimaleugner. Wer zu Black Lives Matter eine auch nur minimal abweichende Meinung hat, verliert in den USA seinen Job. Wer Migration nicht fraglos begrüßt, gilt als gefährlicher Rechter. 

Wenn die Debatten im Modus des Ausnahmezustands geführt werden, wird jede Aussage darauf hin überprüft, welche Auswirkungen sie haben könnte. Wie der Feuer-Ruf im voll besetzten Theater muss sich nun jede Meinung rechtfertigen, ob sie nicht eine Gefahr bedeutet. Da die Bewertung der Gefahr von denen vorgenommen wird, die den Ausnahmezustand für sich in Anspruch nehmen, fällt das Urteil vorhersehbar einseitig aus: Jede Abweichung von ihrem Meinungskorridor gilt als Beeinträchtigung ihrer Anweisung, was jetzt zu tun ist. Darum gilt jede Abweichung als Gefahr, die mundtot gemacht werden muss. Die Methode, wie die Meinungsfreiheit formal anerkannt, doch im konkreten Fall ausgehebelt wird, führt zum dritten und entscheidenden Punkt. 

3. Die identitätspolitische Hierarchisierung der Sprecherposition

Die Methoden der Identitätspolitik verbreiten sich seit einigen Jahren in allen westlichen Demokratien. Ihre einfachste Definition lautet: Politik aus der ersten Person. Und ihr Motto ist: wir zuerst. Nicht zufällig erinnert das an den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, denn die neue Identitätspolitik ist die Wiedergängerin einer sehr alten Politik. Die neue wie die alte Identitätspolitik hat die Menschen in Gruppen eingeteilt, denen verschiedene Rechte zugeteilt wurden. Im Nationalismus galt das Wort eines Deutschen in Deutschland mehr als das eines Fremden. In der Wiederauflage der doppelten Standards soll das Wort einer Opfergruppe mehr Geltung haben als das der Mehrheitsgesellschaft. 

Die Pointe der neuen Identitätspolitik liegt nun darin, dass sie die Opfergruppen in einem paradoxen Verfahren konstruiert. Auf der einen Seite sollen alle Identitäten nur Erfindungen sein. Das biologische Geschlecht gilt ebenso wie die Nation oder Religion als willkürliche Konstruktion, die jederzeit zu ändern ist. Auf der anderen Seite gelten die Opferansprüche aber absolut, und nicht jeder kann sich zu einer Opfergruppe zählen. Wenn es beispielsweise um die Bevorzugung durch Quoten geht, kann sich nicht jeder Bewerber zur Frau machen, sondern es braucht einen biologischen Nachweis. 

Eine solche Methode birgt unendliches Konfliktpotenzial. Denn wenn mit der Zugehörigkeit zu einer Opfergruppe besondere Privilegien verbunden sind, übt sie eine Sogwirkung auf alle anderen aus. Jeder möchte nun Teil einer Opfergruppe sein, deren Wünsche besondere Beachtung finden. Die wenig überraschende Folge ist, dass sich nicht nur immer neue Opfergruppierungen bilden, sondern dass auch der Aufstieg des Rechtspopulismus dieser Logik folgt. Der weiße Arbeiter stellt sich in den USA inzwischen als Opfer dar, um gehört zu werden. Der Populismus hat verstanden, dass die Öffentlichkeit am leichtesten durch Opfergeschichten zu empören ist. Und Empörung ist eine starke Energie, die Massen in Bewegung setzt. Die Empörten fühlen sich bereits in dem Ausnahmezustand, in den sie ihre Umwelt versetzen wollen. 

Das Dreieck der Empörung

Die Radikalität des Ausnahmezustands, die Aggression gegenüber abweichenden Meinungen und die Anspruchshaltung des „Wir zuerst“ bilden ein Dreieck, dessen Seiten sich gegenseitig bestätigen: Weil es fünf vor zwölf ist, gilt eine Debatte zwischen verschiedenen Meinungen als schädlich. Weil die andere Meinung der eigenen „objektiven“ Wahrheit widerspricht, muss ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Und weil die eigene Opfergruppe besonders ist, ist sie zu aggressiven Aussagen berechtigt, während alle anderen zur größten Rücksichtnahme verpflichtet werden. 

Ist das Dreieck eingespielt, so baut es mit jeder neuen Empörungswelle an seiner Macht. Der Umbau findet also nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene statt, auf der die Forderungen des Ausnahmezustands und die Vorrechte der Opfergruppen durchgesetzt werden, sondern er findet auch auf der Ebene der Regeln statt, wie öffentlich miteinander gesprochen wird. Dieser Umbau ist für die Entwicklung der Gesellschaft so gravierend, dass man inzwischen von einer großen Regression sprechen kann, in der sich die westlichen Demokratien befinden. 

Die Entwertung des Arguments

Das Hauptmerkmal dieser Regression ist die Abwertung der Sachargumente durch die neue Ordnung der Identitätspolitik. Nicht mehr das Argument soll gehört werden, sondern die Position des Sprechers entscheidet darüber, ob die Aussagen wahr sind und ob sie gehört werden. Die Formel hierfür lautet: Den Opfern muss immer geglaubt werden, alle anderen sollen schweigen und zuhören. In dieser neuen Ordnung gelten die Sachargumente wenig, weil die neue Macht bei der privilegierten Opferposition liegt. Zugleich führt die Verschiebung zu dem aggressiven Ton vieler Debatten. Denn wenn die Überzeugungskraft nicht mehr beim zwanglosen Zwang des besseren Arguments liegt, sondern mit der Sprecherposition begründet ist, wird der Kampf um diese Positionen zum Hauptkonflikt. So erklärt sich, dass es immer seltener um die Durchsetzung positiver Ziele und immer öfter um das Niedermachen des Gegners geht. Konflikte werden in den sozialen Netzwerken wie etwa Twitter mit wenigen Argumenten, aber mit ausufernden Beschimpfungen und ätzender Häme ausgetragen. 

In einer aufgeklärten Öffentlichkeit würde die Position, die sich argumentativ nicht zu helfen weiß und darum zum hässlichen Mittel der Diffamierung greift, sich selbst infrage stellen. In der regressiven Öffentlichkeit der Identitätspolitik ist hingegen die Zerstörung der gegnerischen Reputation das bevorzugte Mittel, um Erfolg zu haben. Indem der andere zur Unperson erklärt wird, erübrigt sich der Austausch von Argumenten. Zugleich sendet die Herabsetzung des Gegners ein Signal an die eigene Gruppe: Wir sind die Guten, und die anderen sind die Bösen. 

Cancel-Culture

Hat sich die giftige Methode durchgesetzt, dass die abweichende Meinung keiner Widerlegung mehr wert ist, da man ihre Urheber canceln kann, so schrumpft die Realität auf den engen Radius der eigenen Identität. Und die Widersprüche verschwinden, denn die andere Seite muss nicht mehr gehört werden, da sie böse ist. Konkret zeigt sich diese Verdummung darin, dass inzwischen alle Sachargumente darauf hin überprüft werden, ob die Sprecherposition überhaupt legitimiert ist. Das beste Argument wird durch den Hinweis unwirksam, sein Urheber sei „umstritten“ oder es komme von einem „alten weißen Mann“. So wird Rationalität durch ein neues Stammesdenken verdrängt. Und so erklärt sich der enge Horizont, in dem identitätspolitische Debatten verlaufen. Ist der begrenzte Vorrat an Argumenten aufgebraucht, wird zur wirkungsvollsten Waffe gegriffen: Die andere Meinung wird als moralisch böse diffamiert und der Mensch, der eine böse Meinung hat, muss gecancelt werden.

Identitätspolitik bewirtschaftet die Empörungsbereitschaft und wird dabei von der Aufmerksamkeitssucht der Medien unterstützt. Beide brauchen die Empörung, weil sie damit jedes Ereignis in die Hitze des Ausnahmezustands versetzen können. Indem sie aus jeder Benachteiligung eine moralische Panik machen, erzeugen sie nicht nur eine permanente Erregung, sondern zeichnen ein Bild der Gesellschaft, in der böse Menschen herrschen.

Rückkehr zur Aufklärung

Die moralische Panik schürt die Katastrophenangst vor der Mehrheitsgesellschaft, die alleine schuld sein soll an allem Unheil in der Welt. Zugleich erreicht sie damit ihr Ziel, dass das Opfer keine Mitverantwortung für sein eigenes Schicksal übernehmen muss. Um diese Ohnmacht besonders wirkungsvoll in Szene zu setzen, wird der Gedanke geleugnet, dass menschliche Situationen nur im Ausnahmezustand von Krieg, Folter und Gewalt durch eine absolute Ohnmacht gekennzeichnet sind. Jeder Hinweis auf die Vielfalt sozialer Ursachen wird nicht mehr als Qualität einer rationalen Öffentlichkeit anerkannt, sondern die erhitzten Gemüter empfinden die Differenzierung als Kränkung, da sie um die Schlagkraft ihrer Empörung bangen.

Je häufiger die Öffentlichkeit sich von der moralischen Panik aufpeitschen lässt, desto mächtiger wird die Methode der Identitätspolitik. Und jeder, der es wagt, ihre eindimensionale Weltsicht zu kritisieren, indem er noch andere Ursachen benennt, wird als böser Mensch gebrandmarkt. 

Was kann man in dem giftigen Dreieck also noch tun, um zumindest einige Teile einer freien Öffentlichkeit zu bewahren? Als Gegengift müssten die alten Tugenden der Aufklärung wiederbelebt werden. Die Regeln wären einfach: Wer seine Meinung nicht mit Argumenten untermauert, sondern mit seiner Identität, hat keinen Anspruch auf Zustimmung. Und wer die andere Meinung nicht mit Argumenten widerlegen kann, sondern den anderen zerstören will, der nimmt sich damit selbst aus dem Kreis der ernst zu nehmenden Stimmen. Würde man diese beiden einfachen Regeln beachten, dann würde die auftrumpfende Regression als so dumm erscheinen, wie sie es ist. Denn Empörung ist kein Argument, und Diffamierung ist kein Beweis. Geht die Regression jedoch weiter, entsteht eine Öffentlichkeit, die Themen nur noch in der Kriegslogik des Ausnahmezustands verhandeln kann. Eine solche Öffentlichkeit ist den Problemen einer modernen Gesellschaft nicht gewachsen. 

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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