Verfassungsrechtler über den „Mega-Lockdown“ - „Sie können einen besser organisierten Staat nicht mit Klagen erzwingen“

Der „Mega-Lockdown“ stößt bei vielen Bürgern auf Unverständnis. Verfassungsrechtler haben Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen, und auch die Kritik der Opposition wird lauter. Hebelt die Exekutive in der Pandemie die Demokratie aus?

Tote Hose in Berlin: Welchen Sinn macht eine nächtliche Ausgangssperre? / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Christian Pestalozza ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität (FU) Berlin. Er ist auch bekannt als Buchautor und Grundgesetz-Kommentator.  

Herr Pestalozza, die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin haben den Lockdown verschärft, um das Virus weiter einzudämmen. Viele Ihrer Kollegen haben erhebliche Zweifel an der  Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen wie an der nächtlichen Ausgangssperre, wie sie Baden-Württemberg verhängt hat. Was sagen Sie dazu?

Die Zweifel muss man begründen. Die können sich nur darauf stützen, dass man sagt, das sei unverhältnismäßig. Es würde nicht genügend bewirken. Es kommt darauf an: Was bedeutet eine Ausgangssperre zu irgendeiner Tageszeit? Es bedeutet, dass wir weniger Kontakte haben. Die Sperre wird viele nicht betreffen, weil sie um diese Uhrzeit sowieso nicht unterwegs sind.

Aber gerade das wirft doch die Frage auf, welchen Sinn so eine Maßnahme dann macht. Das Virus überträgt sich nicht nur nachts.   

Tagsüber fällt eine Ausgangssperre aber schwerer, weil sehr viel mehr Leute aus triftigen Gründen unterwegs sind, weil sie auf dem Weg zur Arbeit sind. Ich weiß nicht, was man gegen eine nächtliche Sperre einwenden kann. Denn mit einem trifftigen Grund dürfen Sie sich ja auch zur Sperrstunde bewegen. Im Ausland ist das weit verbreitet. Eine völlig vernünftige Maßnahme. Ich sehe nicht, was man dagegen verfassungsrechtlich einwenden könnte.

Den gesetzliche Rahmen für solche Eingriffe in die Grundrechte bildet das Infektionsschutzgesetz, das im November verschärft wurde. Gibt es der Exekutive einen Freibrief für alle möglichen Einschränkungen?

Nein, man hat ja im November nachgebessert, in welchen Bereichen erforderliche Maßnahmen ergriffen werden können. Die ganze Palette von Maßnahmen, die man in Corona-Zeiten ergriffen hatte, war da noch nicht aufgeführt. Also, die Grundlage für diese Eingriffe sind konkretisiert worden durch Regelbeispiele. Dagegen kann man nichts sagen. Es sind eher die Landesparlamente, die sich jetzt aufspielen und sagen, es liege zu viel Macht in der Hand der Exekutive.

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Der Opposition bereitet es zunehmend Bauchschmerzen, dass die Exekutive Entscheidungen  am Parlament vorbei trifft – wie zum Beispiel die Frage der Priorisierung beim Impfen.

Die Landesparlamente sind selbst Schuld. Niemand hindert sie daran, selbst ein Gesetz in diesem Bereich zu erlassen. Artikel 80, Absatz 4 im Grundgesetz sieht ausdrücklich vor, dass, wenn Länder ermächtigt sind, Verordnungen zu erlassen, der Landesgesetzgeber sich an die Stelle der Landesexekutive setzen und ein Gesetz erlassen kann.

Aber können es sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten leisten, die Kritik einfach zu ignorieren?

Das ist die inhaltliche Frage. Welche Regelungen dürfen sie ergreifen, um die Pandemie einzudämmen? Und wie weit dürfen solche Regelungen gehen? Es hat gar keinen Sinn, so viel mit Grundrechten zu argumentieren. Um Grundrechte nutzen zu können, müssen wir leben.

Der Schutz der Gesundheit heiligt jeden Eingriff in die Grundrechte?

Der, der unter der Erde liegt, weil er an Corona gestorben ist, kann keine Grundrechte mehr ausüben.  Wenn uns an unseren Grundrechten wirklich so viel liegt, sollten wir versuchen, dem Staat zu erlauben, dass er uns am Leben hält. Dazu gehören vernünftige Pandemie-Maßnahmen.

Christian Pestalozza / privat 

Die zu akzeptieren, fällt aber immer schwerer, wenn man sieht, dass der Gesetzgeber mit zweierlei Maß misst. Profi-Fußballer dürfen weiterhin vor Tausenden von Zuschauern spielen, aber wenn Familie mit ihren Kindern zum Schlittenfahren raus wollen, werden ganze Orte gesperrt.

Der Profisport ist privilegiert. Das kann man stark kritisieren. Aber das ist eine Form der Unterhaltung. Die wird weiter gepflegt im Interesse der Zuschauer. Insofern hat das auch einen Nutzen für die Gemeinschaft. Die wird abgelenkt von den Problemen. Brot und Spiele.

Finden Sie das richtig?

Nein, die Spieler haben unmittelbaren Körperkontakt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass nicht doch einer Corona hat. Obendrein betrifft diese Privilegierung eine Schicht, die so gut verdient hat, dass sie von ihrem Ersparten eine Zeitlang leben könnte. Ein Geschäftsinhaber, der seinen Laden wegen Corona schließen musste, kann das nicht nachvollziehen.

Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Läuft die Regierung Gefahr, das Vertrauen der Bürger zu verspielen?

Je länger eine Einschränkung dauert, die wir vorher nicht kannten, desto stärker fällt sie uns zur Last. Wenn Sie einen Tag Zahnschmerzen haben, finden Sie es nicht so schlimm. Wenn es sich aber eine Woche hinzieht, kommt Ihnen der Schmerz stärker vor, obwohl er gleich geblieben ist und sich sogar vielleicht abgemildert hat. Es ist die Dauer der Beschränkung, die uns auf die Nerven geht. Egal, wie sinnvoll die Maßnahmen sind.

Was bedeutet das für die Politik?

Sie muss ihre Maßnahmen und den wissenschaftlichen Hintergrund immer wieder erklären. Ich finde, sie macht das schon viel besser als am Anfang. 

Und was muss sie noch besser machen?

Der Rückgang von Infizierten- und Todeszahlen erlaubt es nicht, sofort wieder an eine Lockerung zu denken. Das ist der blanke Unsinn und nicht hinreichend kommuniziert worden. Wir haben nicht die Pandemie als solche bekämpft, wir haben nur die Kontakte reduziert und dadurch die Verbreitung gedrosselt. Sobald wir die Maßnahmen aber wieder lockern, steigen die Kontakte wieder. Das Virus bedankt sich, und es geht wieder los.   

Heißt das, Sie gehen davon aus, dass die jetzt verkündete Verlängerung des Lockdowns bis zum 14. Februar nicht reicht?

Ich bin kein Hellseher. Aber bis Mitte Februar sind es knapp vier Wochen. In der Zeit werden so wenig Menschen geimpft werden, dass wir keinen wesentlich besseren Schutz haben werde als vorher. Wenn Sie dann lockern, obwohl die meisten Personen ungeschützt sind, werden die Zahlen wieder steigen.   Die Politik muss aufhören zu beschwichtigen. Sie darf nicht versuchen, den Eindruck zu erwecken: Geduldet Euch ein bisschen, dann wird’s besser. Nein, es wird erst besser, wenn wir geimpft sind. Und wenn sich herausstellt, dass dieser Impfstoff auch gegen die Mutationen hilft. Sonst kann keiner etwas versprechen.

Aber auch da „ruckelt es“ gewaltig, wie der Gesundheitsminister sagen würde. Schafft es Vertrauen, wenn er den Bürgern weiszumachen versucht, er hätte nicht zu wenig Impfstoff bestellt, die Industrie käme aber nicht mit der Produktion hinterher? 

Für Außenstehende ist das schwer zu beurteilen. Es gibt aber Länder wie zum Beispiel Israel, die das viel besser hinkriegen. Wie kann es sein, dass die innerhalb von zwei Tagen Hunderttausende impfen konnten? Wie kann man das logistisch so schnell bewältigen? Wir sind so viel langsamer. Wie kann das sein? Sie können einen besser organisierten Staat aber nicht erzwingen. Auch nicht durch Klagen.

Würden Sie sich das Verfassungsrechtler wünschen? 

Nein, im ersten Lockdown war die Rechtsprechung viel zu großzügig, weil sie offenbar die Gewalt der Pandemie falsch eingeschätzt hat. Erinnern Sie sich: Vor noch gar nicht allzu langer Zeit konnte in Berlin eine Großdemonstrationen mit 20.000 Teilnehmern stattfinden. Das war schrecklich, dass man das zugelassen hat, weil das Demonstrationsrecht so ein hohes Recht ist.

Im ersten Lockdown las man viel darüber, dass Betroffene von Schutzmaßnahmen wie Gastronomen mit Erfolg gegen Sperrstunden oder Querdenker gegen Demonstrationsverbote geklagt haben. Ist die Klagebereitschaft jetzt gesunken?

Nein, es wird schon noch geklagt. Die letzte Verfassungsentscheidung wegen Corona hat das Verfassungsgericht Brandenburg im Dezember getroffen Aber mehr und mehr bekommen die Klagenden kein Recht.

Warum?

Weil sich die Gerichte davon überzeugt haben, dass die Gefahr zu groß ist und dass wir Einbußen hinnehmen müssen. Und dass man, wenn es um die wirtschaftliche Existenz geht, versuchen muss zu helfen, ohne dass man an den Maßnahmen etwas ändert.

In Hamburg hat eine Krebspatientin auf eine frühere Impfung geklagt, Und gewonnen. Bietet das der Opposition nicht eine Steilvorlage, um eine  Mitsprache des Parlaments bei der Priorisierung zu fordern?

Ach, die Priorisierung muss richtig sein. Ob das Parlament das regelt oder die Regierung, ist doch völlig egal.

Aber wird ein Gesetz, das vom Bundestag ratifiziert wird, nicht eher von der breiten Masse akzeptiert als eine Entscheidung, die nach Gutsherrenart getroffen wird?

Das muss man realistisch sehen. Von wem kommen die meisten Gesetze? Von der Regierung. Sonst    jammert das Parlament immer, wenn es mal selbst was machen muss. Da heißt es dann: Bitte macht uns einen Entwurf, liebe Regierung, und wir beraten dann gegebenenfalls. Aber Ihr habt das Know-how. Und jetzt wird gejammert, weil auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung, die die Parlamentarier selbst verfasst haben, Maßnahmen ergriffen werden. Es liegt doch allein am Bundestag, das Infektionsschutzgesetz so zu ändern, dass er die Maßnahmen nicht nur konkretisiert sondern auch entscheidet, über welche Schritte er selbst entscheidet.

Und, was glauben, warum machen die Abgeordneten das nicht? Weil sie keine Verantwortung übernehmen wollen?

Vielleicht liegt es an der Unsicherheit in der Pandemie. Da ist jeder ratlos. Wir müssen uns auf die Wissenschaft verlassen, die aber auch selbst immer unterschiedliche Thesen hat.

Ist die Demokratie durch das starke Gewicht der Exekutive in eine Schieflage geraten?

Nein, Sie müssen sich mal ansehen, was alles durch Rechtsverordnungen geregelt ist. Das kann ein Gesetzgeber gar nicht alles im Auge haben. Ich habe überhaupt keine Sorge um die Demokratie, weil jetzt mehr auf dem Verordnungsweg geregelt wird als früher.

Aber die Zustimmung der Bürger zu den Sicherheitsmaßnahmen sinkt. Wer soll den Kurs der Regierung in der Pandemie noch korrigieren, wenn die Legislative und die Judikative in diesem Bereich weitgehend ausfallen?

Das ist eine suggestive Frage. Korrektiv heißt ja, dass es etwas zu korrigieren gäbe. Aber so pauschal kann man das nicht sagen. Manche Maßnahmen leuchten vielleicht nicht so ein, oder Sie können auch fragen, warum der Bewegungsradius  auf 15 Kilometer beschränkt wurde und nicht auf 20. Irgendeine Zahl muss man ja nennen. Man kann das kritisieren. Aber man muss dem Gesetzgeber einen Spielraum lassen.   

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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