Maßnahmen in der Corona-Krise - Wer die Grundrechte retten will, muss die Freiheit schützen

Die politischen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sind drastisch. Ob angemessen oder nicht – die Befugnisse des Staates werden ausgeweitet. Gerade mit Blick auf die Zeit nach der Krise sind diese Entwicklungen mit Vorsicht zu genießen.

Die Hüter der neuen Einschränkungen / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Das erste Quartal des Jahres 2020 liegt hinter uns. Die politischen Trendwörter lauten: verbieten, verpflichten, ermächtigen. Die Corona-Krise macht's möglich. Der befehlende Staat ist zurück. Aus moralischer wurde praktizierte Unduldsamkeit. Jetzt ist wirklich Schluss mit lustig. Die neue Drastik stößt auf Verständnis, auch bei mir.

Eine Demokratie, die wehrhaft sein will, muss es nicht nur gegenüber ihren antidemokratischen, sondern auch gegenüber ihren viralen Feinden sein. Alle rechtsstaatlichen Mittel, die Leben retten, müssen ergriffen werden. Auf vielen Feldern haben die Regierungen zu spät gehandelt – erst gestern wurden Flüge aus dem Corona-Risikoland Iran verboten – da tut Entschlossenheit Not.

Freiheit bleibt unteilbar

Und dennoch: Die Einschränkung bürgerlicher Grundrechte muss auch dann beunruhigen, wenn sie ausnahmsweise und in guter Absicht erfolgt. Freiheit bleibt unteilbar. Nehmen wir zum Beispiel das von der schwarz-gelben Landesregierung in den Düsseldorfer Landtag eingebrachte „Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie.“

Dagegen kann eigentlich niemand etwas haben. Wer wünscht sich nicht Konsequenz, Solidarität und Gesundheit? Dennoch wäre das Gesetz, das in dieser Form vermutlich nicht zustande kommt, ein Angriff auf die Verfassung. Dass „die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit der Person eingeschränkt werden“ können, steht wörtlich im Entwurf. Die Landesregierung soll Menschen mit medizinischer oder pflegerischer Ausbildung zu „Dienst-, Sach- und Werkleistungen“ verpflichten können.

Das Muskelspiel des Staates

Auch wer mittlerweile anderen Berufen nachgeht, soll in einer „epidemischen Lage“ gezwungen werden können, im Krankenhaus zu arbeiten. Und offenbar soll er seine Schutzkleidung selbst mitbringen, ist doch von „Sachleistungen“ die Rede. Dem Schulministerium ist eine gesonderte „Verordnungsermächtigung“ gewidmet, enteignet werden darf auch, ruckzuck, „Rechtsbehelfe gegen Maßnahmen und Anordnungen nach diesem Gesetz haben keine aufschiebende Wirkung.“

Der Staat lässt seine Muskeln spielen. Oder nehmen wir das von Bundestag und Bundesrat Ende März verabschiedete „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Dadurch darf das Gesundheitsministerium nicht nur, wie nun in Bezug auf den Iran geschehen, Flüge verbieten oder ärztliche Untersuchungen von Reisenden anordnen.

Eingriff in das Eigentumsrecht und die Vertragsfreiheit

Spahns Ministerium darf auch „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung, Umstellung, Eröffnung oder Schließung von Produktionsstätten“ ergreifen – Firmen also befehlen, künftig Desinfektionsmittel statt Weinbrand oder Schutzmasken statt Handtaschen zu produzieren. Entscheidend ist nur, ob die jeweiligen „Wirk-, Ausgangs- und Hilfsstoffe“ für Produkte zur Abwehr der Epidemie oder zur Behandlung ihrer Folgen verwendet werden können.

Ein größerer Eingriff in das Eigentumsrecht und die Vertragsfreiheit ist kaum denkbar. Ebenfalls über den Bundesrat sollten nach dem Willen der SPD-geführten Landesregierungen von Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern die sozialen Medien von Anonymität gereinigt werden.

Die Meinungsfreiheit in Gefahr?

In der in die Ausschüsse verwiesenen Drucksache 70/20 forderten Stephan Weil und Manuela Schwesig Anfang Februar, „Anbieter sozialer Netzwerke und Anbieter von Spieleplattformen“ sollten verpflichtet werden, „die Nutzer bei der Registrierung zu identifizieren.“ Wer bei Twitter oder Facebook schreiben oder posten will, muss dann zuvor den Betreibern seinen Ausweis zeigen.

Die „Internetnutzenden“, heißt es, sollen sich nicht länger „sicher fühlen“. Trotz aller Abgründe und Auswüchse der Anonymität: Es wäre ein Schlag gegen die persönliche Meinungsfreiheit und ein Machtzuwachs der Netzkonzerne. Die Novelle aus norddeutschen Landen wird es glücklicherweise nicht geben. Das Bundeskabinett ging am gestrigen Mittwoch einen anderen Weg. In den Worten der CDU/CSU-Fraktion: „Heute hat das Kabinett das Gesetz zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes beschlossen.“

Merkels verräterischer Lapsus

Derselbe verräterische Lapsus unterlief längst der Kanzlerin. Auch sie sprach davon, die Regierung habe ein Gesetz verabschiedet – was laut Grundgesetz dem Parlament vorbehalten ist. Offenbar wird die Vertauschung von Legislative und Exekutive nicht mehr als Verstoß gegen die Verfassung empfunden, ist man nur lange genug im Besitz exekutiver Macht. Der Gesetzentwurf, auf den sich die Bundesregierung am 1. April einigte, trägt den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“.

Vor allem ist das Ziel der 61 Seiten, das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 um eine standardisierte Beschwerdemöglichkeit für jene zu erweitern, die sich in den Netzwerken oder auf den Plattformen für Spiele zu Unrecht gesperrt, blockiert, gelöscht sehen. Ein „Gegenvorstellungsverfahren“ soll etabliert und regelmäßig dokumentiert werden.

Die erweiterten Befugnisse des Staates 

Die Regierung geht davon aus, „dass in zehn Prozent der Entfernungen oder Sperrungen eine Gegenvorstellung erfolgen wird.“ Insofern betriebe das neue Gesetz eine Reparatur am alten Gesetz. Es soll den Meldewahn, den es in Gang setzte, regulieren. Wieder ist ein Nachbessern des als optimal gepriesenen Suboptimalen angesagt.

Aufhorchen lässt eine andere Formulierung auf den 61 Seiten, die noch dem Bundestag vorgelegt werden müssen: „Die Befugnisse des Bundesamts für Justiz sind um Aufsichtsbefugnisse zu erweitern.“ Wurden je Befugnisse des Staates, einmal erweitert, zurückgenommen? Hat die Regierung je einen Machtzuwachs revidiert? Schwanden je die Abteilungen und Referate, die man in einer besonderen Situation einführte, wenn die Situation überwunden war?

Von Fristen und Verhältnismäßigkeit

Hat die Exekutive je einen anderen Weg beschritten, um Probleme, die sie schuf, zu beheben, als den Problemen eine Form zu geben? Deshalb gilt bei allem Verständnis für außergewöhnliche Maßnahmen in außergewöhnlicher Zeit, ob gegen Corona oder gegen Hasskriminalität: Verhältnismäßigkeit und Revidierbarkeit machen demokratische Entscheidungen aus.

Je härter der Eingriff in die Grundrechte ist, desto schärfer muss er befristet sein. Auch wenn der Staat sich ermächtigt, darf das Parlament nicht entmachtet werden. Ohne Freiheit gibt es keine Wahrheit und ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit. Es steht viel auf dem Spiel in diesem Jahr.

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