Lindner bricht Schuldenbremse - Die Not-Lage und die Not-Lüge der Bundesregierung

Christian Lindner will nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt nun „reinen Tisch“ machen. Doch die nachträgliche Feststellung einer „Notlage“ ist eine Notlüge, die Vertrauen zerstört.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) / dpa
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Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Die Not ist tatsächlich groß. Es fragt sich nur wessen „außergewöhnliche Notlage“ es ist, die die Bundesregierung laut Ankündigung des Bundesfinanzministeriums vom Bundestag nun feststellen lassen will, und vor allem wodurch sie verursacht wurde. Das Aussetzen der Schuldenbremse, das dadurch – ausnahmsweise – legalisiert werden soll, erlaubt das Grundgesetz nur „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“.

Welche „außergewöhnlichen Notlage für das Jahr 2023“ sollte das wohl sein, die die Bundesregierung nun am Ende dieses Jahres sieht, aber zuvor nicht sehen konnte? Man darf da auf die Formulierungsfantasie der Bundesregierung gespannt sein. Der ewige Unkenrufer in den eigenen Reihen der FDP, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, hat natürlich recht: „Ein solcher Schritt ist aus meiner Sicht schwer vermittelbar“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Das schaffe „erhebliche Vertrauensprobleme“.

Die Notlage und Lindners „Ehre“

Denn jedem Beobachter ist selbstverständlich klar, dass es in den vergangenen Tagen keine Natur- oder sonstige Katastrophe gab, sondern ein drastisches Ereignis, das sehr wohl der Kontrolle des Staates (konkreter: der Bundesregierung) unterlag, nämlich eine erwartbare Verurteilung des eigenen verfassungsbrüchig zustande gekommenen Nachtragshaushalts, mit dem zusätzliche Schulden sowohl thematisch als auch zeitlich umgebucht wurden. Das ist die Notlage. Es ist eine selbst verschuldete Notlage der Bundesregierung. Genau für eine solche aber hat der Grundgesetzgeber keine Möglichkeit zur Aussetzung der Schuldenbremse vorgesehen. Mit gutem und allgemeinverständlichem Grund.

Lindner sagte, er wolle noch vor den Verhandlungen über den Haushalt 2024 „reinen Tisch“ machen. Das sei für ihn „eine Frage der Ehre“. Wenigstens diese hehren Worte hätte er sich sparen sollen. Die „Ehre“ würde schließlich „Ehr“lichkeit erfordern. Und die starb in der Haushaltspolitik schon spätestens mit der Erfindung des Begriffs „Sondervermögen“ für jene in Nebenhaushalte geschummelten zusätzlichen Staatsschulden. Der Begriff ist wie so viele andere Neologismen der jüngeren Politikgeschichte eine reine Lüge.

 

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Wenn die Lüge einmal etabliert ist, ist es sehr schwer, aus ihrem Teufelskreis herauszukommen. Die Bundesregierung, jedenfalls ihr sozialdemokratischer und grüner Teil, scheint das Karlsruher Urteil dementsprechend nun so zu interpretieren, dass aus der verurteilten Lüge einfach eine neue Lüge entwickelt werden muss, die den Tatbestand der Umgehung der Schuldenbremse dichter verschleiert, also formal verfassungskonform ermöglicht. So muss man wohl die jüngsten Aussagen von Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt verstehen, wenn er ankündigt, die Bundesregierung werde jetzt „alles daran setzen, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zügig und sorgfältig umzusetzen“, und dann hinzufügt, man werde sich gemeinsam mit Bundestag und Bundesrat dafür einsetzen, dass auch Investitionen in die Zukunft weiter möglich seien.

Im Sinne der Steuerzahler der Zukunft, also heutiger Kinder und künftiger Generationen, könnte man einwenden, dass der Verzicht auf Schulden eigentlich die lukrativste Zukunftsinvestition ist. Aber die spielen bekanntlich selten eine große Rolle, wenn Politiker von ihren Taten für die Zukunft schwärmen

Eine Lüge ergibt die nächste Lüge

Jeder Beobachter dieser Lage, in der sich die Regierenden und der Finanzminister insbesondere befinden, kann sich wohl den Druck und die Zwänge vorstellen, unter denen diese jetzt agieren. Man kann da durchaus Verständnis aufbringen. Politiker, die mit der Perspektive immer neuer Staatsschulden buchstäblich groß geworden sind und für die Geldausgeben selbstverständlich immer befriedigender ist als Sparen, können eben nicht so einfach aus ihrer Haut, nur weil ein paar Verfassungsrichter die Worte des Grundgesetzes ernst nehmen.

Soziologen sprechen von „Pfadabhängigkeit“. Fatale Fehlentscheidungen der Vergangenheit zwingen die Akteure, wenn sie sich nicht ins gefährliche Unterholz eines unbekannten Terrains trauen wollen, zu Folge-Fehlentscheidungen. Also wird die Bundesregierung nun mithilfe der Abgeordneten der Ampel-Koalition eine erneute (Not-)Lüge zur Scheinlegitimation einer vorangegangenen Lüge aussprechen. 

Maßvolle Kritik aus der Union

Dies alles „ein gewagtes juristisches Manöver“ zu nennen, wie der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, es tut, ist noch zurückhaltend formuliert. Aber schließlich hat auch die Union ein Interesse daran, dass der Ausweg aus dem Haushaltskladderadatsch nicht total von bisher ausgetretenen Pfaden abweicht. Mit der Sondervermögen-Lüge hantieren schließlich auch Haushaltspolitiker der Union, vor allem in den Ländern. 

Also lässt Frei es nur offen, gegen jenes Manöver erneut in Karlsruhe zu klagen. Das bedeutet wohl eher nicht, wenn er weiter sagt: „Es bringt ja nichts, über vergossene Milch zu sprechen, sondern es ist sehr viel entscheidender, jetzt zügig, aber verlässlich zu einem Nachtragsetat zu kommen.“ Die Bundesregierung dürfte also mit ihrer Not-Lüge wohl durchkommen. 

Zu Lindners „Ehren“rettung muss man sagen, dass wenigstens er im Gegensatz zu den meisten seiner sozialdemokratischen und fast allen seiner grünen Koalitionspartner den eigentlichen und einzigen Zweck des Verfassungsgerichtsurteils immerhin mittelfristig, also fürs kommende Haushaltsjahr, möglichst befolgen will: nämlich drastische Einsparungen an den völlig halsbrecherischen Ausgabenplänen der transformationsversessenen Grünen und sozialstaatsexpandierenden Sozialdemokraten vorzunehmen. Im sicher bevorstehenden Koalitionsstreit darüber hat Lindner nun jedenfalls deutlich bessere Karten.  

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