Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung - „Die Beamten trauen sich nicht, ihre Uniformen anzuziehen“

Seit 2015 wird Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung bedroht mit Mord. Am Sonntag stellt sich der SPD-Politiker zur Wiederwahl. Im Interview mit „Cicero“ spricht er über die wachsende Gewaltbereitschaft von rechts und warum er auch linke Gewalt in seiner Stadt als Terror bezeichnet

Linke Krawalle in Leipzig / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Jung, was halten Sie von der Entscheidung Ihres ehemaligen Parteichefs Sigmar Gabriel, einen Aufsichtsratsposten bei der Deutschen Bank anzunehmen?
Das sind persönliche Entscheidungen. Aber unmoralisch ist das nicht.

Sie selbst waren ja auch schon auf dem Absprung in die Bankenwelt. Statt erneut Oberbürgermeister von Leipzig, wollten sie eigentlich Präsident des Ostdeutschen Sparkassenverbandes werden.
Auch das war persönlich motiviert.

Was war denn Ihre Motivation?
Haben Sie schon einmal Morddrohungen erlebt? Das war 2015 eine hoch emotionale Situation für mich. Mit den vielen geflüchteten Menschen, die zu uns kamen, veränderte sich das gesellschaftliche Klima rasant. Es begann mit Respektlosigkeiten, ging weiter mit Bedrohungen bis hin zu ganz konkreten Morddrohungen gegen mich und meine Familie. Man malte Galgen an Container. Ich bekam vorübergehend Polizeischutz, Sicherheitsvorkehrungen im Haus. Ich hatte Angst um meine Kinder und um meine Frau. So etwas hatte ich in zehn Jahren Amtszeit in dieser Stadt nicht erlebt.

SPD-Oberbürgermeister in Leipzig: Burkhard Jung /
Bastian Brauns

Sie dachten ans Aufhören?
Ja. Dieser offene Ausbruch an Hass war vollkommen neu.  Plötzlich brach entfesselt los, was latent vielleicht gar nicht bemerkt worden war, begünstigt durch die sozialen Netzwerke. In dieser Situation wurde ich von Kollegen gefragt, ob ich das Präsidentenamt des Sparkassenverbandes übernehme. Dann überlegst du natürlich. Für sieben Jahre nochmal ein anderes Amt übernehmen, das auch mit kommunaler Verantwortung zu tun hat? Im  doppelten Sinn raus sein aus dem Schussfeld?

Und dann wollten Sie doch lieber wieder Oberbürgermeister sein?
Na, ich bin im Ergebnis ganz froh gewesen um ehrlich zu sein. Danach wusste ich, was wofür gut war. Ich wusste, wo ich stehe und was ich zu tun habe. Ich begann dann das Thema Bedrohung von Kommunalpolitikern in die Öffentlichkeit zu tragen und zu enttabuisieren.

Sie sind inzwischen auch Präsident des Deutschen Städtetages, der Vertretung aller Kommunen in Deutschland. Das Thema Gewalt gegen Amts- und Mandatsträger nimmt immer weiter zu, obwohl die Flüchtlingskrise von 2015 inzwischen deutlich in ihrer Vehemenz zurückgegangen ist. Woran mag das liegen?
Tatsächlich hat die Quantität nachgelassen. Aber nicht die Brutalität von einzelnen Angriffen und Entgleisungen. Spätestens seit dem Mord von Walter Lübcke wissen wir, dass das Thema nicht weg ist.

Bekommen Sie bis heute Morddrohungen?
Zumindest anonymisiert, ja.

Der Bundespräsident hält Brandreden gegen diese Gewalt. Was muss man außerdem konkret tun? Am Ende ist auch der Schutz von politischen Verantwortlichen eine Frage von Kapazitäten.
Der erste Schritt ist tatsächlich, dass wir es öffentlich machen und darüber reden. Das war lange nicht der Fall. Viele Kollegen sagten am Anfang noch: Das gehört dazu. Das muss man aushalten. Das ist üblich im öffentlichen Amt. Aber nein, das ist es eben nicht! Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Konsens. Wir müssen konsequent anzeigen. Jeden einzelnen Fall. Die Staatsanwaltschaften nehmen das Thema inzwischen viel ernster. Ich habe mehr als 30 Anzeigen gemacht, 7 Verurteilungen sind rechtskräftig.

Eine bittere Bilanz.
Ja, aber ich habe einen Brief vom Generalstaatsanwalt in Sachsen erhalten, in dem er sagt: Wir nehmen uns dieses Themas in aller Konsequenz an. Aber ja, wir müssen noch mehr tun. Ich fordere: Wer bedroht wird, verdient staatlichen Schutz. Das Gewaltmonopol des Staates muss sich auch auf die erstrecken, die sich der Demokratie mit ihrem Amt zur Verfügung stellen.

Was heißt das konkret?
Polizeischutz in mehr Fällen als bisher!

Ein Kollege von Ihnen aus NRW gab kürzlich an, sich selbst bewaffnen zu wollen.
Bei allem Verständnis: das kann doch nicht die Antwort sein. Wir sind gottlob nicht die USA. Ich halte daran fest: Der Staat muss seine Bürger schützen. Ich behaupte, der Bürgermeister einer Stadt ist im Zweifel bekannter als einzelne Minister eines Bundeslandes und insofern vielleicht manchmal auch gefährdeter. Wir müssen die bislang geltenden Sicherheitsstufen im Hinblick auf Kommunalpolitiker überdenken.

Haben Sie versucht zu verstehen, was Menschen dazu bringt, die solche Drohungen aussprechen oder sie gar in die Tat umzusetzen?
Wir haben es mit einem viel beschriebenen Phänomen zu tun. Die gesamtgesellschaftliche Situation wird sprachlich verrohter, je polarisierter die gesellschaftlichen Kräfte sind und je stärker die Stimmung nach rechts rückt. Die AfD hat einen wesentlichen Anteil an der Verrohung der Sprache. Wenn wir eines gelernt haben: Den Worten folgen immer Taten.

Was werfen Sie denn der AfD konkret vor?
Tabus bewusst zu verschieben ist das Ungehörige! Dahinter steckt eine Strategie, die man bei allen rechten Bewegungen weltweit beobachten kann. Tabus brechen, Angst schüren, Minderheiten disqualifizieren und gegeneinander ausspielen. Von den USA über Schweden bis Italien wird der Versuch unternommen, zum Beispiel Obdachlose gegen Asylsuchende auszuspielen. Solche Mechanismen werden gezielt eingesetzt.

Gibt es in der AfD Menschen, mit denen Sie sich trotzdem unterhalten können?
Das ist ja das Gefährliche. Natürlich gibt es in der AfD sehr konservative Menschen, denen man nicht per se Fremdenfeindlichkeit unterstellen kann. Aber ich sage immer: Achtung! Goethe sagte: „Sage mir, mit wem du umgehst. So sage ich dir, wer du bist.“ Solcher Umgang bleibt nicht ohne Folgen.

Von Ihnen stammt die Äußerung: „Nennen wir doch wirklich Nazis Nazis und nennen wir Terror Terror. Sagen wir Nein zu Rassismus und Polizistenhass. Beide politischen Positionen sind nicht zu respektieren.“ Wie gehen Sie damit um, dass Leipzig nicht erst seit den jüngsten Ausschreitungen von Silvester und Januar offenkundig auch ein Problem mit Linksextremismus hat?
Ich versuche immer diese Linie zu halten: Gewalt ist niemals, niemals ein Mittel der Auseinandersetzung, auch nicht in der politischen. Insofern gibt es keine linke oder rechte Gewalt. Es handelt sich immer um eine verbrecherische Gewalt. Das ist meine Grundhaltung. Wer Gewalt anwendet ist eindeutig kriminell unterwegs. Das ist inakzeptabel. Wir leben in einer Stadt, in der 1989 ein System gewaltfrei hinweggefegt worden ist. Es fiel kein Schuss. Es floss kein Blut. Menschen haben das mit der Kraft ihres Glaubens und ihrer Überzeugung und einer Kerze in der Hand geschafft.

Es fällt mitunter schwer, über politisch motivierte Gewalt zu sprechen, ohne sich dabei den Vorwurf einzuhandeln, man verharmlose damit die Gewalt der jeweils anderen Seite. Führt das zu einem Verschweigen von Problemen?
Wir haben vielleicht zu wenig darüber gesprochen, dass das Thema Gewalt im anarchistischen Spektrum viel zu wenig beachtet wird, auch medial. Wir hatten Angriffe auf Verkehrsinfrastruktur. Schon das habe ich als einen terroristischen Akt empfunden. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das so benennen soll. Aber der Angriff auf Baukräne hat eindeutig in Kauf genommen, dass diese auf Wohnbebauung stürzen. Wir mussten nachts evakuieren. Ein tätlicher Angriff auf eine Immobilien-Prokuristin in ihrer Privatwohnung ist bis heute nicht geklärt, scheint aber auch in diesem Spektrum verortet werden zu können. Man will Angst und Schrecken verbreiten.

Sie befinden sich in den letzten Zügen des Oberbürgermeisterwahlkampfes. Ihr politischer Gegner, die CDU, schreibt Ihnen zumindest eine Mitverantwortung zu bei den vergangenen Eskalationen von links. Sie hätten über Jahre einfach weggeschaut, weil sie sich mit einem bunten Leipzig profilieren wollten.
Das ist einfach unsäglich. Meine Haltung zu Gewaltfragen war immer klar. Ich nenne die Dinge beim Namen. Die Menschen ertragen das auch nicht mehr, wenn wir Politiker so verklausuliert diplomatisch daher kommen. Zur unbequemen Wahrheit gehört: Sicherheitsempfinden hat etwas zu tun mit der Sichtbarkeit von Polizei. Da sind die Mängel. Über Jahre wurde hier personell abgebaut. Verzweifelt habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass hier heute 100.000 Menschen mehr wohnen als noch vor zehn Jahren. Wir haben zugleich aber weniger Polizisten. Wie kann das gut gehen?

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat im Wahlkampf 1.000 neue Polizisten versprochen.
In der Tat kamen diese Probleme mit seinem Vorgänger Stanislaw Tillich. Der Stellenbabbau war beschlossen, mit meinen Forderungen konnte ich in keiner Weise durchdringen. Gott sei Dank gibt es da jetzt ein Umdenken. Aber bis das eingelöst werden kann, wird es dauern. Fakt ist, wir haben aktuell weniger Polizisten als früher. Das muss auf den Tisch und das muss man aussprechen können. So zusammengespart ist der Laden. Die Situation für die Beamten in Connewitz ist so schwierig, dass sie ohne Uniform zum Dienst kommen und ohne vom Dienst gehen.

Es fehlt sogar an Uniformen?
Nein, die Beamten trauen sich nicht, sie anzuziehen. Daran sieht man die Verunsicherung der Beamten. Das hat etwas mit Personalstärke und Standing zu tun. Mir das in die Schuhe zu schieben, ist völlig unredlich.

Sie könnten ihre kommunalen Aufgaben in dem Stadtteil machen.
Ja klar, wir können die Zivilgesellschaft aktivieren, die Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Vereine und Kultureinrichtungen. Wir können für Sauberkeit sorgen. Ja, wir hätten die Straßenreinigung vielleicht besser organisieren können. Alles in Ordnung. Ich möchte alternative Lebensformen in unserer Stadt, die sich frei entwickeln können. Aber all das hat nicht zur Folge, dass wir Gewalt in irgendeiner Weise akzeptieren.

Immer wieder wird Gentrifizierung als Argument genannt. Lassen Sie das gelten?
Ich kann verstehen, dass Menschen in Connewitz Sorge haben, verdrängt zu werden durch steigende Mieten. Aber die Leute, die Baukräne anzünden, denen geht es nicht darum. Die nutzen diese Angst und Furcht und setzen sich wie Fett auf die Suppe. Mit Hilfe der Gentrifizierungsdebatte versuchen sie für ihre Aktionen Zustimmung zu erhalten. Sie wittern Morgenluft. Wir können der Angst begegnen, indem wir über die Kappungsgrenzen sprechen, über Regeln für Sanierungen, eigenes Engagement der städtischen Wohnungsbaugesellschaften, Sozialwohnungen, Baulandentwicklung,...

Ist Connewitz eine Hochburg des Linksextremismus?
Der Stadtteil ist eine Hochburg der linksautonomen Szene, aber keine Hochburg der verbrecherischen Szene. Wenn ich dem Verfassungsschutz glauben darf, handelt es sich um kleine Zellen, die sich über die ganze Stadt verteilen, und vielleicht hoffen, in Connewitz besonders gut unterkriechen zu können. Das müssen wir differenzieren.

Um wie viele Personen handelt es sich?
Der Verfassungsschutz geht von etwa 250 gewaltbereiten Personen aus. Übrigens genau so viele wie im rechten gewaltbereiten Spektrum in der Stadt. In Sachsen sieht die Lage natürlich ganz anders aus. Da haben wir ein massives Problem mit rechtsextremistisch motivierter Gewaltbereitschaft. Mein Eindruck ist, in Dresden ist man derzeit ganz froh darum, davon ablenken zu können, indem man auf unsere Stadt zeigt. Der Rechtsterrorismus ist aber da. Der geht auch nicht einfach weg, indem man darüber schweigt.

Es gibt Mitglieder Ihrer Partei, die haben den Eindruck, Ihre Partei schweige zum Thema Migration. Sie haben in den vergangenen Monaten in der Leipziger SPD deshalb zum Teil sogar Gründungsmitglieder verloren. Wie sollen Sozialdemokraten mit den Themen Migration und Integration umgehen?
Ich kann Ihnen das nur für mich beantworten. Wir müssen ganz klar auf Seiten des Humanum stehen. Menschen in Not brauchen Hilfe. Das Asylrecht ist unverbrüchlich und muss nach Grundgesetz bei uns eingehalten werden. Das heißt: Hilfe dem, der Hilfe braucht. Wir müssen aber ehrlich reden. Wir dürfen nicht kaschieren. Wenn wir Probleme mit jungen Männern aus Nordafrika haben, dann sollten wir darüber sprechen und als Gesellschaft darauf Antworten finden. Und als Staat müssen wir handeln.

Wie denn?
Über Sozialarbeit, schnelle Integration, Sprachkurse, über klare Angebote überhaupt in Arbeit zu kommen und auch darüber, dass wir jene konsequent abschieben, die sich nicht an Gesetze halten. Wir haben vergessen, klar zu sprechen. Das habe ich verstanden. Die Menschen ertragen das nicht mehr. Wir haben in der Tat Probleme mit jungen Männern aus Marokko, Tunesien oder Algerien in Leipzig. Das muss ich sagen dürfen.

Thilo Sarrazin behauptet, dass er dies auch für sich in Anspruch nehmen, dafür aber ausgeschlossen würde.
Es geht eben um beide von mir skizzierten Seiten. Bei Thilo Sarrazin vermisse ich die erste komplett. Er ist komplett abgedriftet in eine reine Kritik. Er hat einfach den ersten Satz vergessen. Die Kanzlerin hat selbstverständlich richtig gehandelt, als die Menschen im Bahnhof in Budapest völlig verzweifelt und ohne Hoffnung warten mussten. Dass sie da sagt: Kommt, wir schaffen das, ist der richtige Satz.

Hat Angela Merkel vielleicht aber den zweiten Satz vergessen?
Das Problem ist, dass man das Wie dann nur irgendwie besprochen hat. Das hat sich erst gewandelt mit den Erlebnissen auf der Domplatte in Köln.

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