Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz - Die CDU auf verlorenem Posten

In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird am kommenden Sonntag gewählt. In den ehemals schwarzen Hochburgen kämpft die CDU einen aussichtslosen Kampf gegen Grüne und SPD.

Christian Baldauf gilt bei der nächsten Landtagswahl in Rheinland-Pfalz als Außenseiter / Oliver Rüther
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Christian Baldauf kann einem beinahe leidtun an diesem Abend im Februar in einer Hotellobby mit Blick auf den Rhein in Mainz: Wie der Mann mit dem hell­blauen Schlips dasitzt, eingeklemmt von seinen politischen Gegnern, die sich in großer rot-gelb-grüner Einigkeit lächelnd den Ball zuspielen. „Na, mal wieder einer gegen drei“, hat er gesagt, als sich die politischen Konkurrenten beim Corona-Schnelltest kurz zuvor gegenüberstanden.

Der Mittelstandsverband von Rheinland-Pfalz hat die Spitzenkandidaten zu einer online übertragenen Podiumsdiskussion eingeladen: Links neben Baldauf sitzen Daniela Schmitt von der FDP und Anne Spiegel von den Grünen, rechts von ihm der SPD-Innenminister Roger Lewentz. Malu Dreyer, die sozialdemokratische Ministerpräsidentin, kann es sich leisten, nicht zu kommen. 

Außenseiter CDU

Das Trio, das Baldauf umgibt, bildet seit 2016 jene „Ampel“, die geräusch­los die vier Millionen Rheinland-Pfälzer regiert. Über fast zwei Stunden hört man an diesem Abend aus aller Munde, dass der Mittelstand das Rückgrat der Wirtschaft sei, dass Ökologie mit Ökonomie vereinbart werden und Bürokratie abgebaut werden müsse. Baldauf fällt es schwer, Akzente zu setzen. Wenn er es versucht, wirkt er wie ein Ersatzspieler am Spielfeldrand, der stänkert: Prangert er die zäh fließenden Corona-Hilfen an, verweist rechts von ihm Lewentz darauf, dass dafür doch wohl in erster Linie Baldaufs Parteifreund, Wirtschaftsminister Peter Altmaier, verantwortlich sei. Versucht er mit der völligen Abschaffung des Soli zu punkten, meldet sich die FDP-Kandidatin Schmitt zu Wort: Das wolle sie auch. 
Der 53-jährige Baldauf befindet sich vier Wochen vor der Wahl in einem Uphill-Battle, wie es auf Englisch heißt: einem Kampf den Berg hinauf. Und oben auf dem Berg steht Malu Dreyer mit einem Siegerlächeln. In Umfragen liegt die CDU zwar noch knapp vor der SPD, aber keiner zweifelt daran, dass Grüne und FDP die Koalition auch mit einer leicht geschrumpften SPD fortsetzen werden. Alles andere wäre angesichts der großen Beliebtheit der Ministerpräsidentin politisches Harakiri. Selbst unter CDU-Wählern würden bei einer Direktwahl 40 Prozent für Malu Dreyer stimmen. 

Ähnlich verzweifelt ist die Lage für die CDU in Baden-Württemberg, wo wie in Rheinland-Pfalz am 14. März ein neues Parlament gewählt wird: Aus der Position des Juniorpartners in einer Koalition mit den Grünen bemüht sich die Spitzenkandidatin und Kultusministerin Susanne Eisenmann seit Wochen, Kante gegenüber den Grünen zu zeigen. Aber ihr Versuch, in der Corona-Krise schon Mitte Januar die Schulen wieder zu öffnen, kam bei den Menschen im Ländle nicht gut an. Dass Eisenmann gegen Amtsinhaber Winfried Kretschmann allenfalls Außenseiterchancen hat, räumt man selbst innerhalb der CDU hinter vorgehaltener Hand ein. 

Grün in Baden-Württemberg, Rot in Rheinland-Pfalz

Nirgendwo sonst sind die Grünen so stark wie in Baden-Württemberg. Ihr „Grüner Weg durch schwarzes Land“, so der Titel eines Buches zum zehnjährigen Bestehen des Landesverbands aus dem Jahr 1989, hat sie auf den Höhepunkt der Macht geführt. Vor vier Jahrzehnten zog der heute 72-jährige Winfried Kretschmann als einer von sechs Abgeordneten der neuen Ökoopposition in den Landtag ein. Seit 2011 regiert er das industriestarke Bundesland mit den elf Millionen Einwohnern als Ministerpräsident und hat beste Chancen auf eine dritte Amtszeit: 2016 holten die Grünen 30 Prozent, in Umfragen liegen sie jetzt sogar bei 34. Offen ist eigentlich nur die Frage des Koalitionspartners. Momentan stehen auch hier die Zeichen auf Ampel.

In Rheinland-Pfalz endete die seit dem Zweiten Weltkrieg andauernde Dominanz der CDU schon 1991, als die Partei sich in internen Machtkämpfen zerschliss. Die SPD, damals angeführt von Rudolf Scharping, brauchte die Krone nur noch aufzuheben. Auf Scharping folgte Kurt Beck, der aber so clever war, den Stab an Malu Dreyer zu übergeben, als er spürte, dass die Rheinland-Pfälzer ihn satthatten. 

„Kretsche“ überzeugt weiterhin

In Baden-Württemberg ging die jahrzehntelange Legislatur der CDU 2011 zu Ende: Die Bürger des Ländles rebellierten gegen den gerade angetretenen Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der versuchte, das Großprojekt Stuttgart 21 mit der Brechstange durchzusetzen; eine grün-rote Koalition übernahm das Ruder. Großen Anteil daran, dass die Grünen bis heute an der Macht sind, hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In Umfragen sprachen sich zuletzt 70 Prozent für eine Fortsetzung seiner Regentschaft aus.

Kretschmanns Beliebtheit reicht weit in klassische CDU-Milieus hinein: Mit „Bewahren heißt verändern“ wirbt er in dem auf ihn zugeschnittenen Wahlkampf. Damit überzeugt „Kretsche“ auch alte konservative Haudegen wie Wolfgang Grupp, Chef des Textilherstellers Trigema, der sich jüngst wieder für eine Wiederwahl des Grünen stark machte. Auf der „Kretschmann-Linie“ gründet der Erfolg der Ökopartei im nach wie vor ländlich und konservativ geprägten Südwesten. 

Rheinland-Pfalz: Auf dem Land wählt man CDU, in der Stadt SPD

Das benachbarte Rheinland-Pfalz ist höchstens vom Typus der Menschen vergleichbar mit dem Ländle: Auf der Rang­liste der Wirtschaftskraft liegt es trotz seiner weltweit erfolgreichen Pharmaindustrie, die nun mit dem Impfstoffhersteller Biontech Schlagzeilen macht, nur wenig vor den neuen Bundesländern. Das ist einer der Gründe, warum die Grünen hier nicht derart erfolgreich sind: Grün muss man sich leisten können.

Während die CDU in Rheinland-Pfalz von den Überresten ihrer Substanz lebt, die vor allem auf dem Land noch stark ist – 34 von 37 Landräten sind Christdemokraten –, dominiert die SPD die Städte. „Nah bei den Leuten“ sind die Sozialdemokraten hier, und das ist nicht bloß ein Spruch. 
In der Gartenstadt von Ludwigshafen, einem Problembezirk, in dem die deutsche Unterschicht mit Migranten um die Wohnungen konkurriert, kann man sich anschauen, wie die SPD sich um eine Klientel kümmert, von der ihre Vertreter in anderen Bundesländern seit langem nur noch in Sonntagsreden sprechen. 

Volkspartei SPD

Der 2016 angetretene Generalsekretär Daniel Stich hat kurz nach der zurückliegenden Wahl in einer ehemaligen Schlecker-Filiale, gleich neben dem Trinkerkiosk, ein Quartierbüro einrichten lassen, in dem SPD klein- und Kümmern großgeschrieben wird: Es gibt montags Frühstück und donnerstags einen Kaffeenachmittag, die Mitarbeiter helfen den Menschen beim Ausfüllen von Anträgen auf ALG II oder den Kindern bei den Hausaufgaben. 

Geleitet wird es von dem 36-jährigen Christopher Hilgert, einem sehr kräftigen ehemaligen Fitnesstrainer, der hier um die Ecke vorher einen Jugend­treff geleitet hat. Er hatte mit der SPD abgeschlossen, als die Agenda 2010 kam, aber 2019 ist er doch eingetreten, weil er davon überzeugt ist, dass die Sozialdemokraten hier anders ticken. Natürlich ist das Büro nur ein „Leuchtturmprojekt“, aber es ist eben auch ein Signal einer Partei, die sich ungeachtet der Umfragen als Volkspartei sieht: Wir haben euch nicht vergessen. Die SPD leidet auch in Rheinland-Pfalz an Mitgliederschwund und Überalterung, aber immerhin sind 2020 über 1000 Mitglieder neu eingetreten.

Hoffen auf höhere Wahlbeteiligung und weniger AfD

Es hat bei den Sozialdemokraten klick gemacht, als sie sich die Ergebnisse von 2016 im Viertel angeschaut haben: Die AfD holte fast 40 Prozent, die SPD nur 25. Dabei war das hier bis vor drei Jahrzehnten eine sozialdemokratische Trutzburg. Aber Schröders Agenda-­Politik hat in diesem Milieu Wunden gerissen: Die BASF-Arbeiter, die hier wohnen, arbeiten heute für Zeitarbeitsfirmen. 

„Für mich wäre es ein großer Erfolg, wenn die AfD diesmal deutlich weniger bekäme und die Wahlbeteiligung höher wäre“, sagt SPD-Mann Klaus Beißel, der das Scharnier zwischen der SPD in Mainz und dem Quartierbüro ist. „Wenn dabei auch wir besser abschneiden, bin ich erst recht zufrieden.“

2016 verlor die SPD in Rheinland-­Pfalz 37 000 Wähler an die AfD, mehr hat nur die CDU verloren. Aber hier in der Gartenstadt haben die Sozialdemokraten die Zahl ihrer Neumitglieder seitdem verdoppelt, und zum Ortsvorsteher haben die Bewohner zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten wieder einen SPD-Mann gewählt. Das „Zurück zu den Wurzeln“, das die Sozialdemokraten hier demonstrieren, könnte ein Fingerzeig darauf sein, was die Partei auch bundesweit retten könnte.
Die Menschen, die die SPD hier anzieht und die nun Prospekte für sie im Viertel verteilen, sind nicht jung und schön, sie fahren nicht mit dem Fahrrad zur Laptop-Arbeit ins Loft-Büro, und zu Anfang warfen sie Hilgert und Beißel auch ein wütendes „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ an den Kopf. Aber mit dem Quartierbüro hat die SPD ihnen das Gefühl zurückgegeben, dass „die Politiker“ sich überhaupt für sie interessieren. Auch Malu Dreyer hat sich hier in den letzten Jahren immer wieder den Diskussionen gestellt.

Malu Dreyer auf Erfolgskurs / Oliver Rüther

Landesmutter Malu Dreyer

Auf die 60-Jährige, die seit 2013 Ministerpräsidentin ist, hat die SPD den Wahlkampf so zugeschnitten, dass es fast wehtut: „Malu Dreyer wählen heißt SPD wählen“ heißt es auf den Plakaten. Zwischen den Zeilen liest man: Auch wenn ihr die SPD satthabt, Dreyer mögt ihr doch. Man kann diese Strategie nachvollziehen bei einer Partei, die bundesweit bei 15 Prozent steht und in Baden-Württemberg am 14. März in den Abgrund der Einstelligkeit rutschen könnte. 

Ihr Niedergang hat dort mit der Anziehungskraft der Grünen zu tun, aber auch mit der großstädtischen Arroganz der Sozialdemokraten. Unvergessen sind die Sätze des Finanzministers und SPD-Vorsitzenden Nils Schmid von 2012: „Bildung und Betreuung sind wichtiger als die Frage, ob es einen Bauern mehr oder weniger gibt“, sagte er damals, oder auch: „Dann wächst im Schwarzwald halt mal ein Tal zu.“ Solche Sätze würden weder dem Grünen Kretschmann rausrutschen noch der Sozialdemokratin Dreyer. In Rheinland-Pfalz liegt die SPD bei 31 Prozent, Tendenz steigend.

Wer Dreyer in ihrem „digitalen Wohnzimmer“ in der Mainzer SPD-Zentrale trifft, aus dem sie mehrmals die Woche zusammen mit einem Landtagskandidaten online Wahlkampf macht, will nicht glauben, dass sie schon 60 Jahre alt ist, dass sie seit 1995 an Multipler Skle­rose leidet, und dass sie seit einem Jahr im Corona-Krisenmodus das Land regiert. Da sitzt eine charmante, interessierte und ausgeruhte Frau im blauen Hosenanzug auf dem Sofa, die keinen Zweifel daran hat, dass sie auch nach dem 14. März regieren wird. „Wird schon“, strahlt sie aus. Das passt zu der Stimmung auf den Straßen des Landes. Enthusiastische Dreyer-Fans trifft man kaum, aber viele, die sagen: „Die macht nix verkehrt.“

Geerdete Sozialdemokraten 

Aber mehr als 15 Prozent über dem Bundestrend nur wegen Dreyer? Die guten Umfragewerte könnten auch am sonstigen Personal liegen: Heute sitzt auf dem Sofa neben Dreyer die Kandidatin Rebecca Wendel aus dem Wahlkreis Zweibrücken. Sie ist 29, Realschullehrerin, der Vater Maurer. Die Sozialdemokraten hier in Rheinland-Pfalz sind geerdeter als woanders: Die beiden unterhalten sich nicht über Gendersternchen und Identitätspolitik, sondern über die Gleichwertigkeit von Studium und Ausbildung, die Versorgung mit Ärzten auf dem Land, die Wiederaufnahme von Bahnverbindungen.

Auch innere Sicherheit kann Dreyer: Bei der Kriminalität rangiert Rheinland-­Pfalz seit Jahren unter den sichersten Bundesländern. Gleichzeitig bewirkt Dreyer mit einer ausgewogenen Sozialpolitik, dass die Linke Wahl für Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert.

Und die CDU?

Während Dreyer souverän von Mainz aus ihren Exekutivvorteil ausspielt, bleibt Baldauf nur die Ochsentour: An diesem Tag im Februar startet er mit einer Beschau des übergelaufenen Rheins bei Andernach, dann lauscht er den Klagen eines Ortsbürgermeisters über die fehlenden Millionen für die Sanierung des Freibads, in einer Behinderteneinrichtung macht er sich kundig über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Bewohner, dann rast er weiter ins Städtchen Höhr-Grenzhausen zu einem Besichtigungstermin der Keramikhochschule und einer improvisierten Bürgersprechstunde vor dem Feuerwehrhaus. 

Am Abend sitzt Baldauf dann in der Talkrunde mit der politischen Konkurrenz. Kein Wunder, dass er müde wirkt. Baldauf rennt durchs Land, und das schon seit dem Sommer. Aber es wird nicht reichen. An der populären Malu Dreyer hatte sich vor fünf Jahren schon Julia Klöckner die Zähne ausgebissen. Auch wenn die drei Jahrzehnte SPD-Regierung hier und da den Parteienfilz wachsen lassen: Dreyer wirkt nicht amtsmüde und macht praktisch keine Fehler. Wo soll man da angreifen?

Kretschmanns Nachfolger muss in große Fußstapfen treten

Konflikte räumt auch Kretschmann in Baden-Württemberg regelmäßig ab: Ein Beispiel sind die Diesel-Fahrverbote in Stuttgart. Nach heftigem Streit einigte sich die Koalition darauf, gegen eine drohende Ausweitung der Fahrverbote zu klagen. Das entsprach nicht der Linie der Grünen, war aber in Kretschmanns Sinn. 

Doch Kretschmanns Erfolgsgeschichte hat einen Haken: Sie wird irgendwann zu Ende sein. Der bald 73-Jährige wirkt zunehmend amtsmüde, wichtige Weggefährten treten den Rückzug an. Ein belebender Generationswechsel, wie er den Bundes-Grünen gelungen ist, klappt bisher nicht. Die Frage, wer Kretschmann nachfolgen soll, ist ungeklärt. Es gibt keinen aussichtsreichen Kronprinzen, der so lagerübergreifend mobilisieren könnte, wie es dem katholischen Heimwerker aus Oberschwaben gelingt.

Weggefährten Kretschmanns verabschieden sich aus Politik

Wichtige Mitstreiter haben Kretschmann bereits verlassen oder ihren Rückzug angekündigt. Dazu zählt Umweltminister Franz Untersteller, der seit Mitte der achtziger Jahre als Parlamentarischer Berater der Landtags-Grünen arbeitete und später selbst Abgeordneter wurde. Kaum ins Kabinett gewechselt, machte er 2011 klar, was sein politisches Ziel ist: Die globale Erwärmung sei eine größere Bedrohung für die heimische Tier- und Pflanzenwelt als neue Windkraftanlagen im Schwarzwald. 

Heute sind die hellen Masten und Rotorblätter auf den windreichen Höhenzügen des Schwarzwalds und der Schwäbischen Alb das sichtbarste Zeichen des Regierungswechsels vor einem Jahrzehnt. Doch ihre selbst gesteckten Ziele haben die Grünen beim Windkraftausbau in Baden-Württemberg nicht erreicht: Widerständige Bürgermeister und Naturschützer blockieren einige Standorte. Der Umweltminister musste herbe Niederlagen vor Gericht einstecken. Anfang 2020 erklärte der bald 64-Jährige, sich 2021 einen neuen Job suchen zu wollen: „Ich verspüre die Lust, noch einmal etwas anderes als Landespolitik zu machen.“

Mit Fritz Kuhn hatte sich zuvor ein anderer langjähriger Weggefährte Kretschmanns verabschiedet: Der Vordenker der Grünen in Baden-Württemberg verzichtete nach acht Jahren im Stuttgarter Rathaus auf eine erneute Kandidatur – auch weil er wohl ahnte, dass seine Wiederwahl scheitern würde. Die Stuttgarter Grünen fanden keinen prominenten Nachfolgekandidaten und schickten als Verlegenheitslösung eine Stadtteilpolitikerin mit Eurythmie-Diplom ins Rennen. Das Ergebnis: Stuttgart hat seit diesem Jahr wieder einen CDU-Bürgermeister.

Satte, selbstzufriedene Grüne 

Anders als nach dem Triumph von Fritz Kuhn acht Jahre zuvor blieb es diesmal innerhalb der Partei und in der Presse auffallend ruhig. Die bittere Niederlage, so wirkte es, sollte wenige Monate vor der Landtagswahl möglichst wenig Unruhe auslösen. Wer sich nicht daran hielt, war Rezzo Schlauch.

Der 73-Jährige zählt mit Kretschmann und Kuhn zu jenen Ur-Grünen, die im Südwesten von Anfang an auf Realpolitik statt Fundamentalopposition setzten. Der „grüne Weg durch schwarzes Land“ ist ihr Lebenswerk. In einem kurzen Interview mit der Stuttgarter Zeitung legte Schlauch nach der für die Grünen verheerenden OB-Wahl den Finger in die Wunde. „Die Grünen sind durch die Erfolgsspur der letzten Jahre und hinter dem erfolgreichen breiten Rücken von Ministerpräsident Kretschmann satt und selbstzufrieden geworden, anstatt aus den bequemen Parlamentssesseln auch mal ins Risiko zu gehen und sich einer der vornehmsten Herausforderungen zu stellen, die es in der Politik gibt.“ Er spielte damit offensichtlich auf Cem Özdemir an, der eine Kandidatur im Kampf um das Stuttgarter Rathaus abgelehnt hatte – vermutlich weil er auf einen Ministerposten in Berlin schielt.

Schlauchs Wortmeldung verfehlte ihre Wirkung nicht. „Für kaum ein Interview habe ich so viel Zuspruch erhalten“, sagt er im Gespräch mit Cicero. „Ich wohne in Stuttgart-Vaihingen, da sitzt das Bildungsbürgertum, sehr viele Grünen-Wähler. Ich wurde dutzendfach angesprochen: Meine Analyse sei treffend.“

Für die Grünen ist der Verlust des OB-Postens in Stuttgart kein Einzelfall. 2018 wählten die Freiburger Dieter Salomon, seit 2002 im Amt, ab. Über die Jahre hatte der Grüne den Ruf eines „Sonnenkönigs“ bekommen, auf ihn folgte der Parteilose Martin Horn. 

Die CDU lauert

Bei den Christdemokraten spielt man angesichts dieser Achillesferse der Grünen auf Zeit. Generalsekretär und Wahlkampfmanager Manuel Hagel gibt zwar die Losung aus, die CDU setze auf Sieg, und spricht von einer „Schicksalswahl“. Doch der 32-Jährige, den manche schon als die schwäbische Antwort auf Sebastian Kurz sehen, weiß auch, dass eine Eisenmann-Niederlage seiner eigenen Karriere nicht unbedingt schaden muss. 

Parteichef Thomas Strobl machte Hagel 2016 zum Generalsekretär, nach einer verheerenden Landtagswahl, bei der Hagels Wahlkreis einer der wenigen im Land war, der schwarz geblieben war. Hagel, Sparkassen-Filialdirektor und Kommunalpolitiker in seiner Heimatstadt Ehingen, war erstmals zur Landtagswahl angetreten und erzielte aus dem Stand das beste Ergebnis aller CDU-Kandidaten im Ländle.

Hagels Appell wurde überhört

Hagel versuchte als Generalsekretär zunächst auf den rechten Flügel seiner Partei zuzugehen. Es war die Zeit, in der Angela Merkels Migrationspolitik die CDU durchschüttelte – gerade in Baden-Württemberg. Nach der Bundestagswahl 2017, bei der die AfD hier 12 Prozent holte, schickte Hagel einen Weckruf ins Konrad-Adenauer-­Haus. „Wach auf, CDU!“, war sein offener Brief an die Kanzlerin betitelt. Er schrieb: „Es liegt an uns, möglichst breite Teile einer um ihre kulturelle Identität ringenden Gesellschaft erneut zusammenzuführen und damit zu verhindern, dass Radikale unsere Gesellschaft spalten.“ 

Hagels Weckruf verhallte. Im Wahlkampf ist nun wenig davon zu spüren, dass die CDU Wähler zurückgewinnen will, die sie an die AfD verloren hat. Man ziele stattdessen auf grün-schwarze Wechselwähler, wird im Stuttgarter CDU-Hauptquartier erklärt. Denn dort, in der Mitte, sei viel mehr zu holen als am rechten Rand. Das entspricht der Linie der Bundes-CDU.

Der Trumpf im Ärmel: Boris Palmer

Auch bei den Grünen registriert man den CDU-Hoffnungsträger. „Wir haben den Eindruck, dass Manuel Hagel gezielt aufgebaut werden soll – für eine Zeit nach Susanne Eisenmann“, sagt ein gut vernetzter Landespolitiker der Ökopartei.

Für die Zeit nach Kretschmann fällt der Blick bei den Grünen immer wieder auf einen, der mit seiner Partei oft über Kreuz liegt, der aber seit 2007 als Bürgermeister von Tübingen bundesweit Schlagzeilen macht. Taucht Boris Palmer im Sat1-Frühstücksfernsehen auf, um sich zur Migrations- oder Corona-Politik zu Wort zu melden, läuten in der Grünen-Zentrale in Berlin die Alarmglocken. Im Mai 2020 forderte der Landesvorstand der Grünen den Tübinger sogar zum Austritt auf. Anlass war Palmers zugespitzt formulierte Kritik an der Lockdown-Politik. Doch inzwischen sind die Kritiker kleinlaut geworden: Tübingen gilt beim Schutz älterer Risikogruppen als Musterbeispiel.

Realo-Veteran Rezzo Schlauch hält den Umgang mit Palmer für den größten Fehler der Grünen in Baden-Württemberg. „Er hat eine blühende Stadt aus Tübingen gemacht, ökonomisch und ökologisch. Wir sollten stolz auf ihn sein“, sagt er. Er wünscht sich, dass die Südwest-Grünen ihren Frieden mit Palmer machen – auch um ihr drängendstes Personalproblem zu lösen. „Boris Palmer wäre ein guter Kretschmann-Nachfolger“, sagt Schlauch. „Er hat das Zeug dazu.“
 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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