Landkreis Greiz mit Inzidenz von 600 - „Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben“

Der Landkreis Greiz hat momentan die höchste Inzidenz in ganz Deutschland. Ob das nur an den hohen Testungen liegt und welche Strategie gefahren wird, erklärt Landrätin Martina Schweinsburg im Interview.

Nicht nur die Bundesregierung, auch der Landkreis Greiz setzt vermehrt auf Corona-Testungen / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Martina Schweinsburg ist seit 1990 Landrätin mit Mandat der CDU. Von 1990 bis 1994 im damaligen Landkreis Zeulenroda, seit 1994 - mit der Kreis- und Gebietsreform in Thüringen - im Landkreis Greiz. Sie ist damit die dienstälteste aktive Landrätin bundesweit. Zudem ist sie seit 2012 Präsidentin des Thüringischen Landkreistages.

Frau Schweinsburg, fangen wir doch erstmal mit der schlechten Nachricht an. Die Inzidenz im Landkreis Greiz liegt bei 610 pro 100.000 Einwohnern. Wie kommt diese hohe Inzidenz zustande? 

Das ist im Prinzip relativ einfach zu beantworten. Der Landkreis Greiz hat 97.000 Einwohner. Wenn wir zum Beispiel mit einem Schlag, wie jetzt in Behinderteneinrichtungen, 150 zusätzliche positive Coronafälle bekommen, haben wir natürlich auf einen Schlag auch einen Zuwachs von 150 bei den Inzidenzen. Und so schnell wachsen diese hinten nicht raus. Wir haben zusätzlich noch ganz gezielt bei symptomfreien Kontaktpersonen getestet, die bis zum 24. Februar vom RKI nur in Ausnahmefällen getestet worden sind, und bei diesen Kontaktpersonen sind wir in Größenordnungen fündig geworden. Kamen wir ursprünglich auf eine durchschnittliche Inzidenz von 200, waren wir dann schon bei 500. Und wenn man dann gezielt in solche Personengruppen reingeht, erhöht sich auch die Inzidenz. 

Wäre es denn möglich, so wie in Ihrem Landkreis auch bundesweit zu testen? 

Wir haben definitiv keinen Mangel an Testkapazitäten. So wie wir die Testkapazitäten brauchen, bekommen wir sie auch zur Verfügung gestellt. Aber es liegt immer im Ermessen eines jeden regionalen Gesundheitsamtes, das dann umzusetzen und auch zu tun. 

Sie sind Landrätin eines Kreises mit knapp 100.000 Einwohnern. Hört in der Politik irgendjemand darauf, was Sie vorschlagen?

Das ist so ein Ding. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele Leute gleichzeitig so denken wie ich, und dann zeitversetzt entsprechende Vorschläge machen und Maßnahmen ergreifen. Wir haben zum Beispiel mit dem intensiven Testen Anfang Februar begonnen. Das RKI hat am 24. Februar seine Teststrategie aktualisiert. Diese Umstellung wird aber bestimmt nicht an unseren Entscheidungen im Landkreis liegen, sondern daran, dass es vielleicht vernünftig war und anderswo auch so umgesetzt wird. 

Stellen wir uns einmal vor, das ganze Land hätte in den letzten zwei Monaten so getestet wie Sie in Ihrem Landkreis. Hätten wir uns den jetzigen Lockdown dann ersparen können?

Ich formuliere es mal andersrum. Wenn wir flächendeckend so getestet hätten, wären wir vielleicht auch überall wesentlich höher in den Inzidenzen. Obwohl das auch von Region zu Region unterschiedlich ausgeprägt ist. Und wir sehen ja auch, dass die ganze „Lockdownerei“ die hohen Inzidenzen nicht verhindert hat. 

Sind Sie denn mit der Verlängerung des Lockdowns bis Mitte April einverstanden?

Wir haben bei uns im Landkreis gemerkt, dass unwahrscheinlich viele Personen völlig symptomlos positiv getestet worden sind. Man kann durchaus mit einem Schnitt von 70 bis 80 Prozent rechnen. Das sind diejenigen, die wir auch durch das gezielte Testen herausfischen, aber genau da, wo das nicht gemacht wird, sind diese Personen symptomlos und fungieren als Streuer des Virus. Und Sie können nicht das ganze Volk ewig und drei Tage einsperren. Das verliert an Akzeptanz. Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben, und wir müssen lernen, mit ihm umzugehen. Wir können nicht vor lauter Angst vor dem Tod ständig Selbstmord begehen, und das ganze Leben lahmlegen. 

 

Martina Schweinsburg / Christian Freund,
Landratsamt Greiz

Welche Signale bekommen Sie von der Bevölkerung in Ihrem Landkreis? Haben die Bürger noch Verständnis für die Maßnahmen? 

Über einer Inzidenz von 200 sind die Maßnahmen im Umgang mit dem Virus gleich. Ob ich eine Inzidenz von 200 oder 1.000 habe, die Maßnahmen mit einer angeordneten Allgemeinverfügung sind gleich. Und das sage ich den Bürgern auch. 
Doch viele haben auch kein Verständnis mehr dafür, dass ständig neue Einschränkungen veranlasst werden, es wäre doch wesentlich vernünftiger, über gezieltes Testen, sogenanntes Freitesten, bestimmte Bevölkerungsbewegungen und Einkaufsbewegungen zu kanalisieren. Es geht dabei auch darum, endlich mal wieder den kleinen Läden und Restaurants eine Chance zu geben. Die nach einem gemeinsamen Gutachten der TU Berlin, der Charité und dem RKI gar nicht die Streuer sind. Die Menschen treten sich vielmehr in den Supermärkten auf die Füße und nicht in einem kleinen Lebensmittel- oder Buchladen. 

Wir haben aber auch eine unheimlich hohe Resonanz auf die seit eineinhalb Wochen fahrenden Testbusse. Wir haben bereits 4.800 Schnelltests nur in Bussen durchgeführt. In den Testbussen werden nur symptomlose Personen getestet, und von den 4.800 Tests waren 206 positiv. Und genau aus dem Grund gehen wir ganz gezielt an bestimmte Testgruppen heran. 

Wie schätzen Sie die Schul- und Kitaöffnung in Hinblick auf die Verbreitung des Virus ein? Sollten diese wieder geschlossen oder lediglich vermehrt getestet werden? 

Formal sind unsere Schulen und Kindergärten zu. Wobei die Möglichkeit einer Notbetreuung besteht und diese sogar bis zu 60 bis 70 Prozent ausgelastet ist. Und dann kann man schon fast nicht mehr von einer Notbetreuung reden. 
An diesen Kindern hängen Eltern. Mich erreichen immer mehr besorgte Elternbriefe, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, da sie ihrem Arbeitgeber unberechenbar zur Verfügung stehen. Hier müssen intelligente Hygienekonzepte her. 

Welche Strategie muss bundesweit gefahren werden? Wäre mit der Zunahme der Testkapazität auch gleichzeitig eine wichtige Wegmarke bei der Bekämpfung des Virus gesetzt?

Ich befürworte ein stringentes Testkonzept. Und zwar nicht auf freiwilliger Basis, sondern auf verpflichtender Basis. Unser Impfkonzept im Landkreis sieht vor, dass man die Eltern und Erzieher bald impft. Die Kinder sind meistens symptomlos. So könnte man eine Gruppe von Kindern einrichten, die positiv auf das Virus getestet worden sind. Die Gruppe wird dann von einem geimpften Erzieher betreut. So könnte man dem Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Zeiten der Pandemie entgegenwirken.  

Neben dem Testen sollte aber auch das Impfen als weiteres Mittel im Umgang mit dem Virus ausgebaut werden. Wie sieht das bei Ihnen im Landkreis Greiz aus?

Wir haben jetzt eine weitere Zusage bekommen und sind als Corona-Hotspot in der Impfpriorisierung 3 drin, sprich, es können Erwachsene ab 60 geimpft werden, und dann sind weitere Ausnahmen gewährt. Das betrifft dann praktisch auch Personen unter 60. Wir haben zudem 7.000 zusätzliche Impfdosen aus dem EU-Sonderkontingent für Corona-Hotspots bekommen. Damit wollen wir Kontaktpersonen impfen, die bei der Impfpriorisierung nicht erfasst werden. Das ist uns ganz wichtig. Das sind bei uns zum Beispiel die Eltern der Kindergartenkinder und Grundschüler. So können sich die Eltern impfen lassen, da sie jetzt durch die Prioritätenlisten durchfallen, wenn sie nicht bestimmten Berufsgruppen angehören. 

Gibt es noch weitere Maßnahmen in Ihrem Landkreis?

Ja, wir wollen ganz gezielt auch Busfahrer und ÖPNV-Mitarbeiter impfen, die nicht ihren Wohnsitz im Landkreis Greiz haben, aber jeden Tag einpendeln und hier Schüler mit dem Schulbus in die Schulen fahren. Lehrer, die nicht im Landkreis Greiz wohnen, würde dieses Vorhaben auch betreffen. Denn wenn Sie sich die Karte anschauen, grenzt der Landkreis Greiz an Sachsen, Sachsen-Anhalt, im Süden an Oberfranken und weiter an Tschechien. Wir haben unwahrscheinlich viele einpendelnde Lehrer aus benachbarten Landkreisen oder Bundesländern. Die werden dort nicht geimpft, weil sie bei uns arbeiten und bei uns nicht geimpft, weil sie nicht bei uns wohnen. Hier müssen wir genau zusehen, dass dieser Personenkreis an Busfahrern und Lehrern mitgeimpft wird. So würden diese Personengruppen nicht mehr als Verbreiter auftreten. Und damit sind wir auf einem guten Weg. 


Die Fragen stellte Sina Schiffer

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