Kritik am Bundesverfassungsgericht - Karlsruhe verspielt seinen Ruf

Das Bundesverfassungsgericht ist in seinem Selbstverständnis, in seinen derzeitigen Handlungsroutinen und in seiner technischen und personellen Ausstattung nicht zukunftsfähig, schreibt Jens Peter Paul.

„Das Bundesverfassungsgericht entwickelt sich zur Black Box mit integrierter Wundertüte“ / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Hochsommer in Karlsruhe – und der Zweite Senat des höchsten deutschen Gerichts ist sauer, empört, beleidigt. Ihm Befangenheit zu unterstellen, weil sich eine Delegation des Bundesverfassungsgerichts am 30. Juni 2021 mit der Bundeskanzlerin und einer Reihe von Ministern in Berlin zum zwanglosen Gedankenaustausch getroffen hatte, war in seinen Augen ein Unding, ja eine Unverschämtheit. Am liebsten hätten die acht Frauen und Männer in den roten Roben das Ablehnungsgesuch der AfD nicht einmal ignoriert, aber da das nicht möglich war, schmetterten sie es in maximaler juristischer Lautstärke ab, ohne damit eine Entscheidung zu treffen, denn einer solchen war die Beschwerde in ihren Augen nicht würdig: „Offensichtlich unzulässig“, „ungeeignet“, „unbegründet“ sei die Eingabe, fänden solche Begegnungen doch „regelmäßig“ statt „im Sinne eines Dialogs der Staatsorgane“ als „Ausdruck eines Interorganrespekts“.

Man dürfe, so der Tenor der Belehrung per Beschluß vom 20. Juli 2021, dem Gericht schon zutrauen, sich nicht durch ein Abendessen und den einen oder anderen Vortrag einer Bundesministerin um den Finger wickeln zu lassen. „Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richterinnen und Richter“ seien auch mitten in einem Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung nicht angebracht. Ein solches Mißtrauen widerspräche „dem grundgesetzlich und einfachrechtlich vorausgesetzten Bild des Verfassungsrichters“. Alles andere sei „eine Mutmaßung ohne sachlichen Hintergrund".

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„ultra vires“

Ganz so harmlos ist die Sache leider nicht, glaubt man seither erschienenen Medienberichten, den jüngsten von diesem Wochenende. Danach hatten Gerichtspräsident Stephan Harbarth und seine Stellvertreterin Doris König selbst eine Änderung der Themenliste angeregt, die beim Dinner mit Merkel und Ministern zu behandeln sei: „Rechtsetzung in Europa“ und „Entscheidung unter Unsicherheiten“ – dazu, so die Welt am Sonntag, wollte die Delegation aus Karlsruhe gerne etwas hören und so sei es auch geschehen.

Beide Themen sind aber, anders als vom Gericht behauptet, nicht etwa abstrakt und zeitlos, sondern im Gegenteil hochaktuell und überaus brisant, worauf das Kanzleramt – so die Zeitung – in einem internen Vermerk, möglicherweise mit einem gewissen Unwohlsein, auch hingewiesen habe, etwa im Hinblick auf den Großkonflikt Karlsruhes mit der Europäischen Zentralbank wegen des Staatsanleihekaufprogramms (Public Sector Purchase Programme – PSPP). Laut BVerfG hätten Bundesregierung und Bundestag gegen dieses Programm wegen eindeutiger Kompetenzüberschreitung („ultra vires“) einschreiten müssen, haben es aber nicht getan, was die Beschwerdeführer in ihren Rechten verletzt habe.

Erkenntnisvakuum der Bundesregierung

Die PSPP-Sache schwelt seit Mai 2020 und steht in ihrer Tragweite dem jüngsten Urteil des Polnischen Verfassungsgerichtshofes keineswegs nach, geht es in Warschau doch ebenfalls um die Abgrenzung zwischen nationaler Souveränität und EU-Recht. Der Streit ist der Bundesregierung in ihrer Lieblingsrolle als EU-Musterknabe erkennbar peinlich. Dass sie einen harmonischen Gedankenaustausch gerne nutzen würde, ihn zu entschärfen, liegt zumindest nicht fern jeder Lebenserfahrung. Ebenso ist die Frage, ob Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) mit ihrem Vortrag über Regierungshandeln in der Pandemie um Verständnis warb bei den Verfassungsrichtern für das „Erkenntnisvakuum“, mit dem die Bundesregierung konfrontiert gewesen sei, als sie die „Bundesnotbremse“ betätigte, mitten im laufenden Verfahren mindestens legitim, wenn nicht zwingend.

Der Vorgang wäre leichter als Ungeschicklichkeit abzutun, reihte er sich nicht ein in eine Abfolge von Merkwürdigkeiten, mit denen das Bundesverfassungsgericht seit einiger Zeit immer häufiger auffällt. Bereits die Bestellung des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Harbarth zum Verfassungsrichter, dem schnell die Beförderung zum Präsidenten folgte, zeugte von einem verblüffenden Mangel an Fingerspitzengefühl, zumal die fachliche Qualifikation des Mannes in Fachkreisen umstritten und gerade im Vergleich zu seinen Vorgängern nicht über jeden Zweifel erhaben ist.

Paradigmenwechsel Klima-Entscheidung

Weitere Fragen warf die Art und Weise auf, wie sich das BVerfG über das Veto eines frei gewählten Landtags hinwegsetzte und mittels einer weithin als abenteuerlich empfundenen Auslegung, ja Auswalzung von Artikel 5 Grundgesetz die jüngste Gebührenerhöhung endgültig als Grundrecht der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verfügte, wobei es auf das Votum irrlichternder Abgeordnete einkommensschwacher Bundesländer nicht wirklich ankomme. Eine mündliche Verhandlung, die Aufschluss hätte geben können über die Qualität der Argumente pro und contra, erschien dem Gericht dabei genauso entbehrlich wie eine Offenlegung der Stellungnahmen und Gutachten, die es zur Entscheidungsfindung heranzog.

Insgesamt erweckte der Beschluss - zu einem Urteil langte es ja nicht - in seiner Weltfremdheit den Eindruck, als hätten die acht Richter die Programme von ARD und ZDF zuletzt kurz nach der Jahrtausendwende mit einem Minimum an Aufmerksamkeit und kritischer Distanz studiert.

Erst recht ausgesprochen merkwürdig die Klima-Entscheidung vom 24. März 2021, mit der das Bundesverfassungsgericht auf allgemeinen Wunsch einer Handvoll von Einzelpersonen und Lobbyisten nicht weniger als einen radikalen Paradigmenwechsel auf Jahrzehnte hinaus in der deutschen Umwelt-, Wirtschafts- und damit auch Sozial- und Finanzpolitik verfügte und damit bei den eigentlich beklagten Organen, Bundestag und Bundesregierung, offene Türen einrannte und Erleichterung, ja geradezu Begeisterung auslöste.

Auch hier musste ein Beschluss genügen; die Entscheidungsfindung fand wiederum ungeachtet ihrer enormen Tragweite hinter verschlossenen Türen ohne mündliche Verhandlung statt. Verfassungsrichterin Gabriele Britz hatte als federführende Berichterstatterin des Senats massgeblichen Einfluss.

Abweichende Stimmen nicht erwünscht

Einer der Kläger, Volker Quaschning, Förderer von Greenpeace, ging mit ihr auf das Frankfurter Wöhler-Gymnasium und machte sein Abitur ein Jahr nach ihr. Ihr Ehemann Bastian Bergerhoff, ebenfalls Wöhler-Schüler in derselben Zeit, ist eine führende Figur bei den Frankfurter Grünen und seit Jahrzehnten sehr um das Weltklima besorgt. Bergerhoffs in der Fachwelt heftig umstrittene These, verkündet auf seiner persönlichen Webseite im Dezember 2020, nach der Deutschland Ende 2020 noch ein "verbleibendes CO2-Budget von rund 6,7 Milliarden Tonnen" zustehe, findet sich 1 zu 1 im BVerfG-Beschluss ein Vierteljahr später wieder.

Das kann Zufall sein oder seinen Grund in einer sowohl von den Frankfurter Grünen als auch von Greenpeace als auch von den Karlsruher Richtern als unumstößlich erkannten Faktenlage haben. Wirklich überzeugend sieht das trotzdem nicht aus, zumal entsprechende Fragen, siehe oben, quasi als Majestätsbeleidigung abgeschmettert oder schlicht ignoriert werden.

Black Box mit integrierter Wundertüte

Karlsruhe ist offensichtlich das Privileg der Unanfechtbarkeit seiner Beschlüsse und Urteile zu Kopf gestiegen. Eigene Sichtweisen werden als nicht verhandelbar betrachtet und dann auch entsprechend behandelt, nämlich als sakrosankt. Argumente und Abwägungen werden bestenfalls post festum verlautbart, also nach Beschlussfassung, wenn es zu spät ist, und dies auch gern nur in kursorischer Form. Abweichende, kritische Stimmen, wie sie unabdingbar gewesen wären in der Klima-Sache, sind nicht erwünscht und nicht gefragt.

Das Bundesverfassungsgericht entwickelt sich zur Black Box mit integrierter Wundertüte und findet Gefallen daran. Als Klima-Ersatzgesetzgeber hat es seine Rolle überspannt und sich selbst ohne jede öffentliche Verhandlung ultra vires begeben, jenseits der Befugnisse, also jene Grenzen missachtet, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes für eben dieses Gericht 1949 immanent gezogen haben.

Alltag des BVerfG: Ablehnung von Eingaben

Ein Bild in den Alltag dieser Institution, der in 19 von 20 Fällen in nicht selten von grosser Not kündenden Eingaben von Bürgern besteht, in aller Regel Verfassungsbeschwerden, vermag das hier bisher gezeichnete Bild nicht aufzuhellen. Im Gegenteil.

Im Durchschnitt der vergangenen 20 Jahre hatte nur eine von 50 Verfassungsbeschwerden von Bürgern, die sich in ihren Grundrechten verletzt sehen und „nach Karlsruhe gehen“, Erfolg. Wenn man es als Beschwerdeführer richtig machen will, ist der Aufwand groß, das finanzielle Risiko erheblich und die Chance trotzdem gering. Und das ist Absicht. Denn der Weg zur stattgebenden Entscheidung ist lang, nicht Regel, sondern Ausnahme, und für den Rechtssuchenden, für den es nicht selten um die Existenz geht, mit einer Serie von mehr oder weniger versteckten Falltüren gepflastert.

Es geht schon los mit der Erschöpfung des Rechtswegs. Der Bürger muss nach dem Subsidiaritätsprinzip, etwa im Streit mit einer Behörde um einen Gebührenbescheid, erst den Instanzenweg komplett ausgeschöpft haben mit Berufungen, Beschwerden, Rügen, Revisionen und so weiter, bevor er überhaupt daran denken darf, das BVerfG anzurufen. Nicht selten ist er bis dahin, also nach vier, sechs oder zehn Jahren, pleite, depressiv oder tot.

Fortentwicklung des Rechts?

Hat er endlich ein letztinstanzliches, rechtskräftiges Urteil in der Hand, muss er eine Verfassungsbeschwerde innerhalb eines Monates zustande bringen – und zwar samt schlüssiger Begründung, die wenigstens die erste Vorprüfung besteht, mit allen Urteilstexten, Dokumenten und Beweisen. Das wird ihm ohne Fachanwalt schwerlich gelingen. 1000 Euro Gebühr sind da im Nu verbraucht; die Rechtsschutzversicherung erklärt sich meist für unzuständig.

Und selbst dieser Anwalt steht dann oft vor der Frage, fristwahrend vor Mitternacht einen Boten zum Gericht zu schicken oder sich den Wahnsinn anzutun, zu versuchen, 120 Seiten durchs Fax zu jagen. In Karlsruhe ist aber besetzt oder irgendwann das Papier alle. Sein Pech: Unvollständigkeit der Akte ist ohne Wenn und Aber ein Ablehnungsgrund wegen „Unzulässigkeit“. Das beA, das besondere Elektronische Anwaltspostfach, ist zwar langsam Standard im Rechtsverkehr mit den Zivilgerichten, aber beim BVerfG noch nicht angekommen.

„Bedarf keiner Begründung“

Die weitere Behandlung einer Verfassungsbeschwerde ist für Außenstehende weitgehend nicht nachvollziehbar und von einer gewissen Willkür gekennzeichnet. Angenommen zur Entscheidung wird von den Kammern – das sind aus jeweils drei Richtern bestehende Ausschüsse –, was interessant aussieht, grundsätzliche Bedeutung haben und der Fortentwicklung des Rechts dienen könnte. Und das gilt nach Meinung der Entscheidungsträger für die wenigsten der Schriftsätze.

Ablehnungen der Annahme der Verfassungsbeschwerde sind die Regel, „sie bedarf keiner Begründung“ (§93d BVerfGG). Die Entscheidungen ergehen regelmäßig ohne mündliche Verhandlung und sind „unanfechtbar“. Der Bürger erfährt also im Regelfall nicht einmal, wo der Fehler liegen soll, in den Formalien oder in den Inhalten, ob er heilbar gewesen wäre, ob es vielleicht längst ein höchstrichterliches Urteil gibt, auf das er sich in seinem Streit berufen könnte. Einen zweiten Anlauf wird er in derselben Sache wegen Fristablaufs nicht haben.

In dieser Verfassung nicht zukunftsfähig

Dieses Bundesverfassungsgericht ist in seinem Selbstverständnis, in seinen derzeitigen Handlungsroutinen und in seiner technischen und personellen Ausstattung nicht zukunftsfähig, sondern dringend reformbedürftig, will es sein Ansehen in der Bevölkerung bewahren und sich nicht noch weiter vom Souverän, der ihn beauftragt und bezahlt, entfernen. Es verstößt selbst regelmäßig gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör.

Das klandestine Auswahlverfahren der Richterschaft braucht dringend jene Transparenz und Öffentlichkeit mit öffentlichen Anhörungen der Kandidaten, von der für jeden ehrenamtlichen Bürgermeisterposten sonst rund um die Uhr die Rede ist. Es braucht einen dritten und eventuell auch vierten Senat sowie weiteres fachkundiges Personal, wenn es mit dem Beschwerde-Aufkommen nicht fertig wird und Klagen erst entscheidet, wenn die Sache längst – wie jetzt wieder beim Recht zur Bundestagswahl – gelaufen ist, aber sich vom Bürger und seinem Rechtsverständnis nicht noch weiter entfernen will.

Es wäre – anders als beim auch dank unzulänglicher Karlsruher Rechtsprechung überlaufenden Bundestag – gut angelegtes Geld. Ob dies auch ein Thema war am 30. Juni beim Dinner im Kanzleramt? Wir werden es wohl nie erfahren.

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