Fünf Tote in Königs Wusterhausen - Geschlossene Gesellschaft

Im brandenburgischen Königs Wusterhausen soll ein 40-Jähriger erst seine Frau und seine drei Kinder und dann sich selbst erschossen haben. In seinem Abschiedsbrief nannte er die Angst vor einer Strafe wegen eines gefälschten Impfpasses als Grund. Der Mann bewegte sich in der Coronaleugner-Szene. Chronologie einer Radikalisierung.

Trauerbekundungen für die Familie R.:Schauplatz einer Tragödie mit Corona-Hintergrund /dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Es war noch nicht ganz fertig, das gelbe Einfamilienhaus in der Birkenallee im brandenburgischen Senzig, vor dem jetzt ein großer Teddybär inmitten von Blumen und Kerzen thront. Kabel für die Außenbeleuchtung hängen aus den Wänden. Die Besitzer, Devid und Linda R., hatten es noch nicht geschafft, Lampen anzubringen. Vielleicht war ihnen aber auch das Geld ausgegangen.

Dieses Haus wurde Schauplatz einer Familientragödie. Am Wochenende hat die Polizei hier die Leichen der Eheleute und ihrer drei Töchter Leni (10), Janni (8) und Rubi (4) gefunden – alle erschossen. Erweiterter Suizid heißt so eine Tat in der Kriminologie. Die Staatsanwaltschaft Cottbus geht davon aus, dass Devid R. erst die Kinder, dann seine Frau und am Ende sich selbst erschossen hat. Ein Schock für die Rettungskräfte, die die Leichen bargen.

Ein Schock für die Nachbarn. Ein Schock für die ganze Stadt Königs Wusterhausen. Die R.s lebten zwar erst seit drei Jahren im Ortsteil Senzig, sie hatten aber gleich Anschluss gefunden. Fröhlich, unternehmungslustig, gesellig. So werden sie von Nachbarn beschrieben. Linda R., eine Betriebswirtin, arbeitete in der Verwaltung der Technischen Hochschule (TH) Wildau. Devid R. soll mehrere Jobs gehabt haben, als Berufsschullehrer, Brunnenbauer und Mitinhaber einer Event-Agentur. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Oder war das nur Fassade?

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Ein gefälschter Impfpass und seine Folgen 

Diese Frage steht im Raum, seit Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon der Presse am Dienstag Details aus dem Abschiedsbrief nannte, den Devid R. hinterließ, mehrseitig und handschriftlich. Seither muss man davon ausgehen, dass die private Tragödie so etwas wie einen politischen Hintergrund hat. Im Abschiedsbrief ist von einem „gefälschten Impfpass“ die Rede, den R. seiner Frau besorgt habe – und davon, dass der Schwindel in der TH Wildau aufgeflogen sei. Devid H. soll gefürchtet haben, dass er deswegen ins Gefängnis kommen und das Jugendamt der Familie die Kinder wegnehmen könnte.

Es ist eine Sorge, die unbegründet ist. Auf das unberechtigte Ausstellen von „Gesundheitszeugnissen“ steht zwar eine Geldstrafe oder Gefängnis bis zu einem Jahr. Von einer „Kindsentnahme“ ist aber nicht die Rede. Trotzdem, so scheint es, ist der Familienvater in Panik geraten. Warum, darauf deutet ein zweites Detail aus dem Abschiedsbrief hin, das der Oberstaatsanwalt am Dienstag der Presse nannte.

Wollte die TH Linda R. kündigen? 

Die Fälschung eines Impfzertifikates hat nicht nur straf-, sondern auch arbeitsrechtliche Konsequenzen. Die TH Wildau hatte angekündigt, sie wolle der Impfpassfälschung „mit aller Strenge“ nachgehen. Linda R. war wegen der Sache zu einem Gespräch in die Hochschule bestellt worden. Sie sollte schriftlich dazu Stellung nehmen. Musste sie damit rechnen, ihren Job zu verlieren? Tobias Werner sagt, eine fristlose Kündigung wäre in diesem Fall gerechtfertigt. Der Berliner Arbeitsrechtler vertritt Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Streit um das Thema Impfen. Er sagt, einen Impfpass zu fälschen, sei eine nicht unerhebliche Pflichtverletzung. Wer mit gefälschtem Pass zur Arbeit komme, unterlaufe die Sicherheitsvorkehrungen.

Wollte die TH Linda R. den Stuhl vor die Tür stellen? Eine Anfrage von Cicero bleibt unbeantwortet. In einer Pressemitteilung heißt es, die TH habe „mit großer Bestürzung und Fassungslosigkeit“ vom Tod ihrer „langjährigen und geschätzten Kollegin“ erfahren. Aufgrund der laufenden Ermittlungen und aus Respekt vor der Privatsphäre der Opfer werde man sich zu der Angelegenheit aber nicht weiter äußern.

Das Drama fing mit einer E-Mail an 

Merkwürdig nur: Linda R. hatte eigentlich gar keinen Grund dafür, sich einen gefälschten Impfpass zu besorgen. Seit dem 25. November gilt in der Hochschule die 3G-Regel. Die meisten Mitarbeiter sind coronabedingt im Homeoffice und kommen nur tageweise ins Büro. Ungeimpfte müssen sich dafür testen lassen. Um herauszufinden, wer testpflichtig ist, hatte TH-Präsidentin Ulrike Tippe Mitte November eine E-Mail an alle ihre 350 Mitarbeiter geschickt. Sie sollten Auskunft über ihren Impfstatus geben. Heute weiß man: Mit dieser E-Mail fing das Drama der Familie R. an.

Aber hat der Arbeitgeber überhaupt einen Rechtsanspruch auf Auskunft? Tobias Werner sagt, solange keine allgemeine Impfpflicht bestehe, gehe der Impfstatus den Arbeitgeber eigentlich nichts an. Die Entscheidung müsse jedes Unternehmen aber für sich treffen. „Das ist eine Abwägungsfrage.“ Arbeitgeber hätten schließlich eine Fürsorgepflicht für ihre Mitarbeiter. Krankenhäuser oder Kitas stünden unter größerem Druck als eine Hochschule. Aber wenn die ihre Entscheidung gut begründen könne, spreche nichts dagegen.

„Es hat düstere Tendenzen gegeben“

Warum sich Linda R. lieber einen gefälschten Impfpass besorgte, statt sich der Prozedur eines Corona-Tests zu unterziehen, darüber kann jetzt nur noch spekuliert werden. Sie und ihr Mann galten als Impfgegner. Nachbarn in Senzig sagen, Devid R. habe sich in das Thema regelrecht „verbissen“. Gespräche hätten sich zuletzt fast nur noch um „Corona“ gedreht. Einer, der ihn gut gekannt hat, formuliert es so: „Es hat düstere Tendenzen gegeben.“

Was er damit meint, zeigt ein Blick in den Telegram-Kanal der „Freiheitsboten Königs Wusterhausen“. Dort hat sich Devid R. am 25. November angemeldet. Moderiert wird das Forum nur sporadisch. Deshalb hatten ihn die Administratoren wohl übersehen. Er konnte dort zwar keine eigenen Beiträge posten, aber mitlesen. Corona-Leugner, Impfgegner und Reichsbürger machen ihrem Ärger dort Luft, ohne dass ihnen jemand widerspricht oder sie darauf aufmerksam macht, falls sie sich mit ihren Aussagen strafbar machen. Es ist ein Paralleluniversum für Leute, denen man mit Fakten gar nicht mehr kommen muss. Sie glauben nur noch das, was sie glauben wollen. Devid R. war offenbar einer von ihnen. Der Fall zeigt, wie sich ein bürgerlicher Familienvater radikalisiert hat.

Im Paralleluniversum der Impfgegner 

Ein Mann mit Vader-Abraham-Bart behauptet, Impfungen seien völlig wirkungslos. „Es ist eine einzige Lüge. Man hat die Geimpften getäuscht.“ Bernd raunt, die Regierung habe gar nicht das Recht, Entscheidungen für die Bürger zu treffen. „Die BRD unterliegt einer überstaatlichen Steuerung. So wurde das Besatzungsstatut zwar formal beendet, besteht jedoch de facto fort.“ Und Enrico behauptet, die Geschichte von Devid R. und dem gefälschten Impfpass sei ein Fake. Der Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) habe sie sich ausgedacht, „um Menschen mit gefälschten Impfpässen Angst zu machen“.

Ein Mann aus Königs Wusterhausen hat die Gruppe Anfang des Jahres gegründet. Seinen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Er sagt, es sei schon der zweite Anlauf gewesen. Die erste Gruppe habe Telegram Ende 2020 abgeschaltet. Weil sogar der Messenger-Dienst die Verschwörungstheorien der Nutzer bedenklich fand? Nein, sagt Al-Abadi. Unbekannte hätten den Kanal mit Porno-Inhalten geflutet: Gegner der Impfgegner, daran hat er keinen Zweifel. Nur deshalb habe ihn Telegram gesperrt.

Der Chatroom wurde geschlossen 

Man erreicht ihn auf seinem Handy. Man hatte ihn über Telegram kontaktiert, um mit ihm über Devid R. zu sprechen. Am Dienstag war das noch möglich. Die Gruppe „Freiheitsboten Königs Wusterhausen“ stand jedem offen. Heute können den Chatroom nur noch offiziell bestätigte Mitglieder betreten. Weil die Gruppe Angst davor hat, dass sich Journalisten ein Bild von der Welt machen, in der aus einem liebevollen Familienvater ein Mörder wurde, der seine eigene Frau und seinen eigenen Töchter umgebracht hat?

Der Mann findet keine Worte für das, was in der gelben Stadtvilla in Senzig passiert ist. Er hat selbst Kinder. Er sagt, was viele in dem Ort sagen: Dass der gefälschte Impfpass vielleicht nur der letzte Tropfen gewesen sei, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dass man nicht wisse, ob sich die Familie mit dem Haus finanziell übernommen habe und wie düster die Welt von Devid R. wirklich gewesen sei. Al-Abadi sagt: „Wie groß muss die Not gewesen sein, dass jemand das Liebste tötet, was er im Leben hat?“

Netzwerk von Corona-Leugnern 

Die Frage, ob seine Gruppe dazu beigetragen haben könnte, dass Devid R. keinen anderen Ausweg aus seiner Situation gesehen hat als den erweiterten Suizid, stellt er sich nicht. Dabei ist der Kanal sein Baby. Die „Freiheitsboten“ sind Teil eines Netzwerks von Corona-Leugnern, zu denen unter anderen auch „Ärzte für Aufklärung“ oder „Eltern stehen auf“ gehören. Alles Initativen, denen das Recherche-Netzwerk Correctiv nachgewiesen hat, dass sie mit Flyern eine beispiellose Desinformationskampagne betreiben. 2020 hat Correctiv bundesweit mehr als 400 aktive Regionalgruppen mit 23.300 Mitgliedern gezählt. Inzwischen, sagt Al-Abadi, dürften es noch viel mehr sein. „2G-Regeln reißen Familien auseinander. Man kann nicht mal mehr zusammen essen gehen, weil die einen geimpft sind und die anderen nicht.“

Es war der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, der die Bewegung im September 2020 ins Leben gerufen hatte, Gründer der Partei „Widerstand 2020“. Eine der schillerndsten Figuren der Coronaleugner-Szene. Die Approbationsbehörde hatte zuletzt eine Überprüfung seiner Zulassung als Arzt angestrengt. Es hieß, er boykottiere Maßnahmen zur Eindämmung von Corona und stelle „unrichtige Gesundheitszeugnisse“ aus. Dem umstrittenen HNO-Arzt ist der Boden in Deutschland zu heiß geworden. Er hat sich mit seiner Familie nach Tansania abgesetzt. 

Am Montag haben sich die „Freiheitsboten“ zuletzt zu einem „Spaziergang“ in Königs Wusterhausen getroffen. 600 Menschen seien gekommen, sagt der Gründer des Telegram-Channels stolz. So viele wie noch nie. Flyer verteilen sie schon lange nicht mehr. Sie setzen jetzt auf den direkten Kontakt. Beobachter der Szene werten das als Indiz dafür, dass sich die Bewegung radikalisiert hat. Der Mann formuliert es so: „Die Meinungen sind gefasst." 

Treffen mit Devid R. 

Es sei eine besondere Veranstaltung gewesen, sagt er. Vor genau einem Jahr seien sie zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Eine Gedenkminute für die Familie von Devid R.habe es auch gegeben. Der Gründer des Telegram-Kanals glaubt, R. ein Jahr, bevor er sich in der Telegram-Gruppe angemeldet hatte, persönlich an der Schleuse Neue Mühle getroffen zu haben. Seinen Namen wollte er damals nicht sagen. Der Königs Wusterhausener erinnert sich: „Er war extrem verunsichert wegen der Gesamtsituation. Er hat einen ängstlichen Eindruck gemacht.“

Ob er Flyer verteilen könne, habe ihn der Mann gefragt. Er sagt, die Begegnung sei ihm jetzt wieder eingefallen, als er hörte, wo die Tragödie mit einem gefälschten Impfpass begonnen hatte. Er habe den Unbekannten damals gefragt, wo er die Flyer denn verteilen wolle. Seine Antwort hat er noch im Ohr. „An der TU Wildau.“

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