Politik neu gedacht - Schluss mit Hinterzimmer

Viele Bürger scheinen der etablierten Parteien überdrüssig zu sein. Kleinstparteien und unabhängige Kandidaten profitieren – und die Freien Wähler könnte der Rückenwind sogar in den Bundestag tragen.

Es muss nicht immer Volkspartei sein / dpa
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Yves Bellinghausen ist freier Journalist, lebt und arbeitet in Berlin und schreibt für den Cicero.

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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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50 000 Stimmen. Nur 50 000 Stimmen.“ Das würde, so hat sie es ausgerechnet, Lu Yen Roloff reichen, um als unabhängige Kandidatin in den Bundestag einzuziehen. Die 43-Jährige, gerade am Bahnhof Potsdam angekommen, läuft mit Koffer und Rollerhelm an der Hand und einer Ukulele auf dem Rücken durch die Frühlingssonne über die Havelbrücke zum Museum Barberini – zum Treffen mit ihrem Wahlkampfteam.

Im gleichzeitig studentischen wie wohlhabend-bürgerlichen Potsdam tritt sie gegen zwei politische Schwergewichte an: Olaf Scholz und Annalena Baerbock. Bekämen die beiden Kandidaten um die 25 Prozent, könnten ein paar Stimmen mehr schon reichen, um an ihnen vorbeizuziehen. Aber noch ist Roloff weit davon entfernt: Unter Corona-Bedingungen sammelt die Neupotsdamerin derzeit die nötigen 200 Unterschriften für ihre Kandidatur. Sie wäre die erste Kandidatin seit 1949, die es als Parteilose und ohne Platz auf der Liste einer Partei in den Bundestag schafft. Möglich? Vielleicht standen die Chancen nie besser.

Ein motiviertes Team

Wo Scholz und Baerbock ihren gut finanzierten Parteiapparat in Bewegung setzen, hat Roloff idealistische Unterstützer. An diesem sonnigen Tag Ende März sitzen auf den hellen Stufen des Museums Barberini ein Student, ein Stadtplaner, der gerade 15 Jahre auf Kreuzfahrtschiffen um die Welt gesegelt ist und nun etwas bewegen will, und eine ehemalige Deutschlehrerin. Zusammengebracht hat sie der Kampf gegen den Klimawandel – und die Überzeugung, dass Baerbock und Scholz als Kanzler oder Minister nur wenig Zeit für ihren Wahlkreis haben werden. 25 Leute hat Roloff in ihrem Team, bisher helfen alle ehrenamtlich. 

Roloff will das wohlhabende Potsdam zur Modellregion einer „klimasozialen“ Wende machen: Sie hat mehrere Jahre bei Greenpeace gearbeitet, danach war sie Sprecherin von „Extinction Rebellion“ in Deutschland. Sie hat dann ihren ökologischen Fußabdruck ausgerechnet, seitdem verzichtet sie praktisch komplett auf Flugreisen. Aber anstatt sich jetzt weiter selbst biologisch-ökologisch zu perfektionieren, hat Roloff entschieden: „Ich will diese Energie lieber in die politische Arbeit als in die Selbstoptimierung investieren.“ Eine türkische Pizza beim Dönerladen ist für sie an diesem sonnigen Tag deshalb kein Problem.

David mit Chancen gegen Goliath

Um Dinge zu verändern, das hat sie verstanden, muss sie in den Bundestag. „Das 1,5 Grad-Limit können wir weder mit Technologiegläubigkeit noch mit einem Festhalten am Status Quo halten“, sagt sie. „Die Klimakrise ist jetzt.“ Der Beweis liegt vor der Tür: Ein paar Kilometer außerhalb von Potsdam ist voriges Jahr ein sieben Hektar großer See ausgetrocknet. Im Bundestag will sie „Dinge sagen, die gesagt werden müssen“ – ohne Rücksicht auf Parteitagsbeschlüsse: Roloff wäre die Stimme der Fridays-for-Future-Bewegung im Parlament.

Seit Ende März steht die Jungpolitikerin finanziell auf so sicheren Beinen, dass sie bald einen Wahlkampfmanager anstellen kann: Eine Basisdemokratie-­Initiative hat ihr 50 000 Euro für ihren Wahlkampf gegeben. Es kann jetzt richtig losgehen.
Die ersten beiden Landtagswahlen des Jahres in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben gezeigt, dass die Zahl der Wähler, die der „etablierten“ Parteien müde sind, wächst. Unabhängige Kandidaten haben es zwar nicht geschafft, aber kleinere Parteien, die traditionell im Balken „Sonstige“ verschwinden, haben Achtungserfolge erzielt – und den Etablierten wichtige Stimmen weggenommen.

Gegenüber 2016 verloren allein die Grünen in Baden-Württemberg 100 000 Stimmen an die Kleinparteien. Dort holten die zwei aus dem Corona-­Skeptiker-Spektrum hervorgegangenen Parteien „dieBasis“ und „WiR2020“ zusammen fast 2 Prozent. Die Klimaliste, die die Grünen von der ökologischen Flanke aus angreift und vor nicht einmal einem Jahr gegründet wurde, kam in beiden Ländern auf fast 1 Prozent. 

Den größten Erfolg verbuchten allerdings die Freien Wähler: Die in der Lokalpolitik verwurzelte Partei holte in Baden-Württemberg 3 Prozent, in Rheinland-Pfalz zog sie mit 5,4 Prozent in den Landtag ein – nach Bayern und Brandenburg ist es das dritte Landesparlament, in dem die Freien Wähler sitzen. 

Freie Wähler im dritten Anlauf

„Das ist eine fast logische Entwicklung“, sagt Hubert Aiwanger, der die Partei voraussichtlich als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf führen wird. „Die Erfahrung zeigt, dass wir drei Versuche brauchen, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen.“ Auch für den Bundestag ist es 2021 der dritte Versuch, und noch nie haben die Freien Wähler, die es seit Jahrzehnten gibt, die sich aber lange auf die Kommunalpolitik beschränkt haben, es so ernst gemeint. Im September wollen sie erstmals in allen Wahlkreisen Kandidaten aufstellen. Und die politische Großwetterlage verschafft ihnen Rückenwind. „Wir passen wie die Faust aufs Auge in der jetzigen politischen Situation, in der viele Wähler mit der Union nicht mehr glücklich sind, weil sie zu sehr in Richtung der Grünen blinkt“, sagt Aiwanger.

Der Bundeswahlleiter macht es neuen Parteien leicht, an der Bundestagswahl teilzunehmen: Parteien müssen sich lediglich spätestens 97 Tage vor der Wahl beim Bundeswahlleiter melden und ihm glaubhaft machen, dass sie eine Partei sind, damit er sie zur Wahl zulässt. Seit Jahren schon nutzen immer mehr junge Parteien die niedrige Einstiegsschwelle und lassen sich zur Bundestagswahl aufstellen. 2009 kandidierten 28 Parteien um den Einzug in den Deutschen Bundestag, 2013 waren es 34 und 2017 schon 42 Parteien. 

Bunter Wahlzettel

Alle vier Jahre wird der Wahlzettel ein bisschen länger und farbenfroher: 2017 nahmen nicht nur die Grünen, sondern auch die Violetten und die Grauen teil. Kleingärtner aus Sachsen-Anhalt, die um ihre Parzellen fürchteten, traten als Magdeburger Gartenpartei an, und Berliner Musikliebhaber gingen als Hiphop-Partei an den Start. Der Wahlzettel ist voll von Paradiesvögeln, und wahrscheinlich werden auch dieses Jahr wieder mehr Parteien zur Bundestagswahl antreten als noch vor vier Jahren.
Aus dem Lager der Corona-Skeptiker heraus will sich mindestens eine Partei zur Wahl stellen. Der mittlerweile 80-jährige Jürgen Todenhöfer ist 2020 aus der CDU ausgetreten und will in diesem Jahr mit seiner eigenen Partei (Team Todenhöfer) antreten. Den Grünen könnte die Klimaliste gefährlich werden, weil sie die in die Mitte gerückte Ökopartei mit radikaleren Forderungen vor sich hertreibt. Und dann ist da noch die dezidiert proeuropäische Partei Volt, die nach den Kommunalwahlen in NRW im vergangenen Jahr von den Lokalmedien schon als heimlicher Wahlsieger bezeichnet wurde. 

Fächert sich das Parteienspektrum noch weiter auf? Drohen uns Weimarer Verhältnisse mit einem Dutzend Parteien im Parlament?
Unter deutschen Politikwissenschaftlern gilt diese Sorge als unbegründet. „Es werden sich immer wieder neue Parteien gründen, weil das relativ einfach ist“, sagt der Parteienforscher Oskar Niedermayer. Dass sich aber weitere Parteien etablieren werden, hält er wie die meisten seiner Kollegen für unwahrscheinlich. Die wachsende Zahl der Kleinparteien zeige jedoch, dass mehr und mehr Menschen unzufrieden mit den etablierten Parteien sind, so der Politikwissenschaftler Michael Angenendt.

„Parteienverdrossenheit!“

Am Düsseldorfer Institut für Parteienforschung beschäftigt sich Angenendt mit Parteienverdrossenheit. „Parteienverdrossenheit!“, betont er, nicht Politikverdrossenheit. Politikverdrossene hätten sich von der Politik abgewendet, vielleicht haben sie sich auch nie für Politik interessiert. „Die Parteienverdrossenen jedoch“, sagt Angenendt, „sind alles andere als desinteressiert.“ Es sind Menschen, die sich mit den starren Organisationsformen der etablierten Parteien nicht mehr identifizieren können.

„Das Senioritätsprinzip, das in Parteien oft dem Dienstältesten den Vorrang gewährt, passt nicht mehr in die Zeit“, so Angenendt. Junge Leute würden es oft nicht mehr einsehen, erst in jahrelanger Ochsentour Plakate zu kleben, bevor sie eine realistische Chance auf ein Amt haben. Im Jahrhundert der Start-ups wollen politisch engagierte Menschen flache Hierarchien sehen und keine Parteitagsbeschlüsse. Die Potsdamer Einzelkämpferin Lu Yen Roloff kann mehrere Bekannte aufzählen, die sich in Parteien auf dem Weg nach oben aufgerieben hätten – darauf kann sie verzichten.

Parteien und Bewegungen

Viele neu gegründete Parteien wollen sich nicht nur inhaltlich von den etablierten Parteien abgrenzen, sondern auch strukturell. So will die proeuropäische Partei Volt nicht nur Partei, sondern Bewegung sein. Lu Yen Roloff startet gleichzeitig mit ihrem Wahlkampf eine Plattform, die progressive Bürgerinitiativen in Potsdam vereint – und die sich unabhängig von ihrem Einzug in den Bundestag weiterentwickeln soll. Todenhöfer sagt, er habe seine eigene Partei gegründet, weil die CDU, in der er 50 Jahre lang Mitglied war, „erstarrt“ sei. Und die Basis-Partei, die sich aus dem Lager der Corona-Skeptiker rekrutiert, setzt auf eine Mischung aus Schwarmintelligenz und Basisdemokratie. Ein Ansatz, wohlgemerkt, der vor Jahren mit der Piratenpartei spektakulär gescheitert ist.

Trotzdem zieht etwa die Basis-Partei Mitglieder etablierter Parteien an. Einer von ihnen ist David Claudio Siber. Bevor er im vergangenen Herbst der Basis-Partei beigetreten ist, war der heute 33-Jährige drei Jahre lang Mitglied bei den Grünen. Er ist nicht der Einzige: Nach Angaben der Partei sind heute etwa 4 Prozent ihrer 11 000 Mitglieder gleichzeitig Mitglieder anderer Parteien. 

Von den Grünen zur Basis-Partei

Siber war einst bei den Grünen gelandet, weil ihm der Umweltschutz am Herzen lag. 2019 zieht Siber dann für die Grünen in den Flensburger Stadtrat ein. „Hier in Flensburg haben die Grünen tolle Arbeit geleistet“, sagt er. Nur mit den grünen Positionen im Bundestag kann er sich nicht so recht anfreunden: Etwa, dass die Grünen die Impfpflicht gegen Masern mittragen und sich nicht entschieden genug gegen Gentechnik einsetzen. 

Dann kommt Corona: Siber hat sechs Kinder und will „selbst wissen“, wie gefährlich das Virus sei. Also setzt er, der eigentlich gerade Politik- und Kulturwissenschaft studiert, sich drei Nächte lang vor seinen Computer und liest sich in die Virologie ein. Schließlich kommt er zu dem Schluss, das Robert-Koch-Institut habe sich geirrt. Siber schreibt seine eigenen Risikobewertungen und präsentiert sie seiner Partei. Doch die nehmen ihn nicht ernst. Monatelang versucht er, die Grünen von seinen eigenen Ergebnissen zu überzeugen – vergeblich. 

Am 29. August 2020 schließlich fährt er nach Berlin und tritt auf der Hauptbühne der Corona-Großdemo an der Siegessäule auf. An diesem Samstag werden Rechtsradikale in Berlin noch versuchen, den Reichstag zu stürmen, aber da wird Siber schon wieder im Zug zurück nach Flensburg sitzen. Auf der Bühne sagt er: „Die Gefährlichkeit von Corona bewegt sich im Bereich einer mittelschweren Grippe.“ Die Menge jubelt ihm zu. 

Konflikte mit der Parteizentrale

Die Grünen in Flensburg sehen das anders. Zwei Tage später schließen sie Siber aus der Fraktion aus. Auch die Partei wollte Siber ausschließen, aber er hat die Grünen dann selbst verlassen.
Man kann Sibers Ansichten abstrus finden, aber genau wie den Flensburger Grünen liegen Siber noch immer die Fahrradwege und Parks in seiner Stadt am Herzen. Hätte man nicht einfach weiter zusammenarbeiten können? 

„Menschen, die sich vor Ort engagieren wollen, sehen es immer seltener ein, sich politische Leitplanken von der Parteizentrale vorgeben zu lassen“, sagt der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Angenendt. Manche dieser Leute gehen dann wie Siber zu einer neu gegründeten Partei, die verspricht, alles anders zu machen. Viele andere, so Angenendt, würden sich in lokale Wählergemeinschaften flüchten, die unabhängig von den etablierten Parteien agieren und mittlerweile in über 80 Prozent der Kommunen vertreten sind.

Kommunale Stärke der Freien Wähler 

Die Freien Wähler sind mit bundesweit Tausenden Gemeinde- und Stadtratsmitgliedern sowie Bürgermeistern und Land­räten genau in diesem Milieu abseits der etablierten Parteien verwurzelt – und versuchen nun, ihre kommunale Stärke auf den Bund zu übertragen. Weltanschaulich stehen sie eher im konservativen Lager, auch wenn Aiwanger die Freien Wähler nicht in das Links-Rechts-Schema einordnen will: „Wenn es um Kindergärten oder Wasserversorgung geht, brauchst du keine ideologischen Debatten zu führen. Du musst Mehrheiten finden“, sagt er.

Ein Sprung der Freien Wähler über die Fünf-Prozent-Hürde würde den Koalitionspoker auf eine neue Basis stellen: Während mit der AfD niemand koalieren will, wäre mit CDU, FDP und Freien Wählern eine sogenannte bürgerliche Mehrheit denkbar. Aiwanger sagt deshalb: „Ein strategisch denkender Protestwähler muss sich überlegen, ob er wirklich die AfD wählen sollte. Er erreicht damit nämlich das Gegenteil. Er stärkt die Grünen, weil er bürgerliche Mehrheiten zerschießt.“ 

Chancen auch ohne Parteibuch

Anders als auf Landes- und Bundesebene gibt es bei Kommunalwahlen in der Regel keine Fünf-Prozent-Hürde. Das kommt Wählergemeinschaften zugute. Außerdem ist für viele Wähler bei Kommunalwahlen die Persönlichkeit des Bewerbers wichtiger als sein Parteibuch. Parteipolitik spielt hier eine geringere Rolle. Sogar Menschen, die in gar keiner Partei Mitglied sind, können sich bei Kommunalwahlen Chancen ausrechnen, Mandate zu erringen. 

Rostock, Freiburg, Heidelberg und sogar die Millionenstadt Köln werden mittlerweile von parteilosen Oberbürgermeistern regiert. Doch sie alle wurden in ihrem Wahlkampf von etablierten Parteien unterstützt: So ganz ohne die Heere von Plakatklebern, auf die Parteien zurückgreifen können, geht es meist doch nicht. Ob die parteilose Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, im vergangenen Jahr wiedergewählt worden wäre, wenn Grüne und CDU sie nicht unterstützt, sondern eigene Kandidaten ins Rennen geschickt hätten? Wohl kaum. 

Bürgermeister Schreier

Lange galt es als unmöglich, in einer deutschen Großstadt einen erfolgreichen Wahlkampf auf die Beine zu stellen, ohne von einer etablierten Partei wenigstens unterstützt zu werden – bis Marian Schreier kam, um das Gegenteil zu beweisen.
Schreier zählt zu den gefragtesten Nachwuchstalenten der SPD. Er hat Verwaltungswissenschaften in Konstanz und Oxford studiert und als Redenschreiber von Peer Steinbrück gearbeitet, bevor er 2015 in der baden-württembergischen Kleinstadt Tengen um das Oberbürgermeisteramt kandidierte. Obwohl Schreier SPD-Mitglied ist, entscheidet er sich, als unabhängiger Kandidat anzutreten. „Ich finde, man kann ein Bürgermeisteramt nur erfolgreich ausüben, wenn man sich unabhängig von Parteiinteressen macht“, sagt er. Schreier holt in Tengen 71 Prozent der Stimmen – mit gerade einmal 25 Jahren. Er ist derzeit der jüngste Bürgermeister Deutschlands. Aber Tengen ist ihm zu klein: 2020 nimmt er Stuttgart ins Visier.

Lange vor der Stuttgartwahl fährt Schreier, noch immer SPD-Mitglied, in die Landeshauptstadt, um sich beim dortigen SPD-Verband vorzustellen. Doch die haben sich schon auf den 50-jährigen Martin Körner als OB-Kandidaten festgelegt, einen altgedienten SPD-Funktionär, der auf eine tüchtige Parteikarriere verweisen kann: Bezirksvorsteher in Stuttgart-Ost, SPD-Fraktionsvorsitzender im Stuttgarter Gemeinderat und Fraktionsgeschäftsführer im Landtag. Beobachter sagen ihm schon seit Jahren Ambitionen auf das Oberbürgermeisteramt nach. 

Aber Schreier will es trotzdem versuchen: Er kündigt an, unabhängig von seiner SPD für das Stuttgarter Oberbürgermeisteramt zu kandidieren. Wenig später hält er ein Schreiben seiner Partei in den Händen: Er soll aus der SPD ausgeschlossen werden.
1990 hatte die SPD eine knappe Million Mitglieder, heute sind es noch rund halb so viele. CDU und FDP ist es nicht viel besser ergangen, die AfD steckt bei etwa 32 000 Mitgliedern fest. Nur die Grünen konnten während des vergangenen Jahrzehnts massiv Mitglieder hinzugewinnen.

Unbeliebtes Hinterzimmer

Entscheidungen im Hinterzimmer wirken auf Menschen, die sich engagieren wollen, abschreckend und kosten die Parteien Glaubwürdigkeit. Beim Eurobarometer 2017 stellte sich heraus, dass nur 36,8 Prozent der Deutschen den Parteien vertrauen. Verglichen mit anderen Institutionen wie der Polizei, Justiz oder der EU war das der niedrigste Wert. 

Oft kostet das Hinterzimmergeschacher auch Wählerstimmen: Bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl fährt der SPD-Kandidat Martin Körner mit 9,8 Prozent ein desolates Ergebnis ein. Auch Marian Schreier gewinnt die Wahl nicht, aber er holt mit 15 Prozent ein deutlich besseres Ergebnis. Und das, obwohl Schreiers Wahlkampfteam nur aus acht Personen bestand, niemand älter als 31 Jahre. Fragt man ihn, wie er das geschafft hat, schmunzelt Schreier kurz stolz und sagt: „Ohne die manchmal schwerfälligen Prozesse in einer Partei haben wir unsere Kampagne agil und lernfähig gemacht, wie ein Start-up.“ 

Als Schreier und sein Team etwa merken, dass sie beim Plakatieren die Übersicht verlieren, organisieren sie eine Software, die den Plakatierern die Orientierung erleichtert. Zur Corona-Krise ist schon Anfang Mai 2020 ein Positionspapier fertig. „In einem klassischen Parteiapparat hätten die Positionen erst durch unterschiedliche Gremien gemusst. Bis der Beschluss gefasst ist, ist die Welt oft schon wieder eine andere.“ 
Wahlkämpfe wie den von Marian Schreier könnte man künftig öfter erleben, glaubt Politikwissenschaftler Angenendt. Etwa in Potsdam: Roloff hat das Beispiel Schreier aufmerksam verfolgt.

Geld für Talente

Inzwischen haben sich sogar Institutionen gebildet, die parteiferne Politik-New­comer unterstützen. Während sich das Projekt Brand New Bundestag auf das Vernetzen und Sichtbarmachen der Neupolitiker beschränkt, stattet das Berliner Start-up Join Politics junge Talente mit genügend Geld aus, um sich unabhängig von einem Parteiapparat politisch engagieren zu können. Lu Yen Roloff gehört zu den ersten Stipendiaten. 

Caroline Weimann, Geschäftsführerin von Join Politics, stört sich daran, dass die Parteistrukturen noch immer im 20. Jahrhundert verhaftet sind: unflexibel, verkrustet, agil wie ein Öltanker. „Wir dagegen wollen schnell und wendig sein wie ein Beiboot.“ Weimanns Idee ist simpel: Menschen, die eine politische Vision haben, können sich bei Join Politics um eine Art Stipendium bewerben. Ein Komitee wählt die vielversprechendsten Bewerber aus, die dann mit bis zu 50 000 Euro unterstützt werden. Im Erfolgsfall können sie sich um eine Anschlussfinanzierung von bis zu 150 000 Euro bewerben. Das Startkapital des Projekts kommt aus Unternehmerkreisen. „Wir wollen Parteien auf keinen Fall infrage stellen“, sagt Weimann, „aber wir wollen ihnen Impulse geben, sich zu modernisieren.“

„Impulse geben“, auf diesen Nenner lässt sich vielleicht das bringen, was so unterschiedliche Menschen wie die Kandidaten der Freien Wähler oder Lu Yen Roloff in den Bundestag treibt: Roloff will pragmatisch Mehrheiten dafür bilden, um das Klima zu retten. Die Freien Wähler sehen sich im politischen Betrieb als „Stimme des gesunden Menschenverstands“, wie Aiwanger sagt.
Die deutschen Parteien haben offenbar dringenden Modernisierungsbedarf, sie müssen digitaler, jünger und offener werden. Sonst gehen ihnen Leute wie Marian Schreier oder Lu Yen Roloff verloren. Auch wenn die beiden sich vorerst mit der Parteienlandschaft arrangieren müssen: Selbst Roloff wird, falls sie es wirklich gegen Scholz und Baerbock in den Bundestag schafft, nur dann etwas erreichen, wenn sie mit Abgeordneten aus anderen Parteien zusammenarbeitet. 
Und Schreier, der in Stuttgart gegen seine SPD angetreten ist, will eines auf keinen Fall: die SPD verlassen.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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