Kirche in Deutschland - Exodus mit Sahne

Die Menschen verlassen in Scharen die Kirchen, der Austritt wird zur bürgerlichen Normalität. Ein säkularer Tsunami fegt die Kirchen als gesellschaftliche Kraft hinweg. Die Christen werden zur Minderheit. Besonders die katholische Kirche ist von Krisen geschüttelt. Schon warnt Bundespräsident Steinmeier vor Selbstmitleid. Im Auge des Orkans finden sich Verzweiflung, Gleichgültigkeit – und Gottvertrauen.

Der Berliner Pfarrer Carl-Heinz Mertz hat im letzten Jahr so viele Austrittsgespräche geführt wie noch nie / Julia Steinigeweg
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Ausgerechnet im Café Lebensart, es gab Kuchen und ein Kännchen Kaffee, erklärte ihm die Rechtsanwältin, dass sie nun aus der Kirche austreten würde. Die Kinder hatte er mit aufwachsen sehen, über die Jahre. Erstkommunion, Messdienerzeit, Firmung. Nun der Abschied, freundlich und bestimmt – aber mit Sahne. Manchmal wird der Pfarrer auch zum Essen eingeladen. Dann serviert ihm ein älteres Ehepaar die Kündigung zum Nachtisch. Kirchenaustritt ist „Lebensart“ geworden, fast alltäglich.

Seit 17 Jahren ist Carl-Heinz Mertz Pfarrer in der katholischen Gemeinde Herz Jesu in Berlin-Zehlendorf, seit 43 Jahren ist er Priester. Doch noch nie hat er so viele Austrittsgespräche geführt wie im vergangenen Jahr. Früher gingen die Karteileichen, heute verabschieden sich diejenigen, die er persönlich kennt und schätzt. Der Abschied von der Kirche ist bürgerliche Normalität geworden. Mehr noch: Es ereignet sich fast beiläufig und nebenbei ein epochaler Kulturbruch. 

Christen sind eine Minderheit

„Das ist nicht angenehm“, sagt Pfarrer Mertz, „aber ich habe gelernt, es nicht als feindlichen Akt zu sehen.“ Die Wertschätzung für jeden Einzelnen bleibe. „Und ich will auch nicht in die Zeiten zurück, als Kirchenmitgliedschaft eine Art sozialer Zwang war.“
Das kirchliche Geschehen und der christliche Glaube gehörten jahrhundertelang zum normalen Leben der ganzen Gesellschaft. Nun verschwinden sie langsam und immer schneller, aus der Normalität ins Exotische, aus der großen Dominanz in die Nischen. Tischgebet und Religionsunterricht, Sonntagsgottesdienst und Taufen. Die jahrhundertealte christliche Praxis und Prägung Deutschlands werden aktiv und mit Überzeugung von immer weniger Menschen öffentlich und institutionell vertreten. Das Ende des christlichen Abendlands wird zum Dessert serviert.

Im vergangenen Jahr hat in Deutschland die Zahl der Kirchenaustritte erneut einen Höchststand erreicht. 359 338 Menschen haben der katholischen Kirche den Rücken gekehrt, 280 000 waren es bei der evangelischen Kirche. Bei Carl-Heinz Mertz im Berliner Südwesten haben 288 Mitglieder gekündigt. Es ist ein schleichender Exodus, eine Welle, die schon Jahrzehnte andauert, aber nun zu einem Tsunami angewachsen ist. Im Jahr 2021 betrug die Mitgliederzahl der römisch-katholischen Kirche rund 21,6 Millionen (26 Prozent), weitere 19,7 Millionen (23,7 Prozent) gehörten der evangelischen Kirche an. Damit ist die Summe erstmals unter die 50-Prozent-Marke der Bevölkerung gerutscht. Die Christen, zumindest die Mitglieds-Christen, sind in Deutschland in der Minderheit. 

Carl-Heinz Mertz, Pfarrer der Herz-Jesu-Gemeinde in
Berlin-Zehlendorf

42 Millionen Christen, das ist doch eine große Zahl, könnte man meinen. Noch immer sind die Kirchen die mit Abstand größte gesellschaftlich organisierte Gruppe. Sagen absolute Zahlen überhaupt etwas aus? Tatsächlich zeigt sich der eigentliche Kulturbruch bei einer feineren Betrachtung, in der alltäglichen und lebenspraktischen Bindung an die Institution. Die meisten Menschen kennen ihre Kirche gar nicht mehr persönlich, sondern nur aus der Tagesschau und vielleicht aus der Erinnerung, obwohl sie monatlich noch einiges an Mitgliedsbeitrag – genannt Kirchensteuer – zahlen. 

Ein katholisches Tohuwabohu

In der katholischen Kirche ist die Zahl der Gottesdienstbesucher, die traditionell deutlich höher lag als bei den Protestanten, massiv eingebrochen. Corona war da ein Katalysator. Besuchten 2001 noch 15,9 Prozent der Kirchenmitglieder regelmäßig die Heilige Messe, waren es 2021 noch 4,3 Prozent. Im Vergleich dazu, so könnte man schlussfolgern, sind die Kirchenaustrittszahlen fast noch moderat. 

Viele dieser Christen pflegen so etwas wie eine Sehnsuchts-Kirchenmitgliedschaft. Sie erleben ihre Kirche kaum noch, aber sie sehnen sich persönlich vielleicht sogar nach einer Art von Glauben – und vor allem nach einer Kirche, die anders ist als das, was sie medial wahrnehmen. Und es gibt auch Kirchenmitgliedschaft aus Tradition, Trotz und Trägheit. Es herrscht ein großes Durcheinander, ein katholisches Tohuwabohu. 

Andreas Sturm ist auch ausgetreten, am 13. Mai diesen Jahres. Er benutzt das Wort Tohuwabohu, um seine Sorgen, Ängste und Hoffnungen zu umschreiben. Sturm ist Jahrgang 1974, stammt aus dem pfälzischen Frankenthal. Er war Messdiener, dann wurde er Priester, war Pfarrer, engagiert in der Jugendarbeit, dann stieg er in der Hierarchie auf. Zuletzt war er Generalvikar des Bistums Speyer, der zweite Mann hinter dem Bischof. In dieser Kirche habe er seinen Glauben kennengelernt, der ihm auch heute Halt gebe. Aber für ihn ist Schluss.

Auch die „Hirten“ treten aus

„Ich muss raus aus dieser Kirche“, schreibt er in seinem soeben erschienenen Buch mit dem gleichnamigen Titel, weil die Kirche Missbrauchstäter zu lange gewähren ließ, weil die Kirche Frauen nicht zu Priesterinnen weihen will, weil die Kirche an der verpflichtenden Ehelosigkeit für Priester festhalte. Und vor allem glaube er nicht mehr daran, dass es bald zu gravierenden Veränderungen in der Kirche komme.

Andreas Sturm ist der bislang höchst­rangige Kleriker, der seine Kirche verlässt. Er ist dafür durchaus auch kritisiert worden, weil er seiner Verantwortung nicht gerecht würde und gerade die Reformwilligen in der Kirche enttäusche. Und doch sind Sturms Austritt und sein Wechsel zur altkatholischen Kirche, die zwar „alt“ heißt, sich aber „modern“ versteht, ein Hinweis darauf, wie tief nicht nur die äußere Krise der Kirche ist, sondern auch die innere. Sicher gibt es „im System“ manche, die auch austreten würden, wenn sie den Mut dazu hätten, so wird es zumindest auf den Fluren der Bistumsverwaltungen geraunt. Ein katholisches Tohuwabohu eben. Heute verwenden wir Tohuwabohu synonym mit Chaos, Martin Luther hat den hebräischen Ausdruck der Bibel noch mit „wüst und leer“ übersetzt. Andreas Sturm mag die Übertragung „Irrsal und Wirrsal“. In so einer Lage sieht er die Kirche. 

Beide große Kirchen trifft mehr oder weniger gleichermaßen der gesellschaftliche Megatrend der Säkularisierung, der des Glaubensschwunds und der Gleichgültigkeit gegenüber kirchlicher Praxis. Bei der katholischen Kirche aber kommt derzeit eine massive, tiefe innere Zerrüttung hinzu – innere Verletzungen und Blutungen, die ein einst stabiles und mächtiges Gefüge aushöhlen. Das merkt man daran, dass nicht nur die „Schäfchen“ gehen, sondern auch „Hirten“.

Der „Synodale Weg“

Die Zukunft der katholischen Kirche beginnt in einer Messehalle in Frankfurt. Zumindest waren viele „Synodale“ noch guter Dinge und voller Zuversicht, als sie zur zweiten Versammlung des „Synodalen Weges“ anreisten. Der Reformprozess der katholischen Kirche hatte sich seit seiner ersten Sitzung immer weiter professionalisiert. Nun gab es eine aufwendig gestaltete Bühne mit einer kinoleinwandgroßen Rückwand. Darauf prangte das neu gestaltete bunte Synodenkreuz, das sich zu einem fortschrittlichen Pfeil formt und regenbogenähnlich mit der Farbpalette spielt. Man konnte schon den Eindruck gewinnen, bei etwas Großem dabei zu sein. 

Ähnlich dem britischen Parlament waren die Stuhlreihen gegenüber gruppiert, doch die Sitzordnung veranschaulichte keineswegs Regierung und Opposition. Unter den „Synodalen“ sollte es keine Hierarchie geben, so saß der Kardinal neben der Krankenpflegerin und der Bischof neben der Uni-Professorin. 2019 hatte Münchens Erzbischof Kardinal Reinhard Marx als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz diesen Gesprächsprozess zusammen mit Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), erfunden. Es sollte die Reaktion auf die Debatte um Ursachen der Missbrauchskrise darstellen. 

Besucher verlassen den Gottesdienst in der Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Zehlendorf

In unzähligen Sitzungen und Zoom-Konferenzen, in eifrigen Whatsapp-Gruppen und vor allem auf vielen Seiten Papier wurden Reformforderungen abgeglichen und Revolutionäres wohl verpackt. Das Ganze ist in manchmal anstrengendem Kirchenjargon formuliert und für Außenstehende schwer zu dechiffrieren. Im Kern geht es um die ewigen Reformthemen: weniger Macht für Bischöfe, mehr Einfluss für „Laien“, eine andere Sexualmoral, keine Diskriminierung von Homosexuellen sowie die erwähnten Priesterinnen und den Wegfall des Zölibats. 

Institutionalisierung der Synode

Eigentlich sollte im nächsten Jahr Schluss sein, nun wird an einer Dauerveranstaltung geschraubt. Ein sogenannter „Synodaler Rat“ soll die katholische Kirche in Deutschland künftig (mit-)leiten. Ursprünglich war sogar an Wahlen gedacht, das scheint nun doch zunächst zu kompliziert. Der früher als Reformer geltende emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper lehnt das ebenso ab wie der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück. 

Der Bochumer Theologe Matthias Sellmann hingegen, der Mitglied der Synodalversammlung ist, verteidigt das Projekt vehement. „Wenn die Beschlüsse des ,Synodalen Weges‘ keine Mehrheiten finden, muss man Zweifel an der Reformfähigkeit und Reformwilligkeit der katholischen Kirche in Deutschland haben“, erklärt er. Eigentlich ist Sellmann Pastoraltheologe, er sucht nach zeitgemäßen Wegen der Glaubensvermittlung. Doch ohne eine stabile und glaubwürdige Struktur könne auch eine Verkündigung des Evangeliums nicht funktionieren. „Die Kirche überzeugt durch glaubhafte Biografien, soziales Engagement und die Verehrung Gottes, aber dazu muss sie neu ihren Platz als ein geachteter Teil der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft finden.“ Die katholische Kirche sei nicht demokratisch aufgebaut wie ein Staat, aber das könne nicht bedeuten, dass man demokratische Werte und Standards unterbieten dürfe.

Die Anliegen für Fürbitten sind reichlich: Brennende Kerzen
in der Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Zehlendorf

Das Auffälligste bei den Debatten in der synodalen Messehalle ist, dass unter den anwesenden Bischöfen erstmals so etwas wie ein öffentlich ausgetragener Konflikt sichtbar wird. Eigentlich sind Zusammenhalt und Einmütigkeit der 27 katholischen Oberhirten oberstes Gebot, obwohl man sich natürlich noch nie immer einig war. Ein besonderer Moment also fernab der Kameras und der großen Öffentlichkeit war es, als der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck in der Frankfurter Messehalle dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer widersprach. Das Ganze war etwas verklausuliert und hoch emotionalisiert, nachdem Betroffene des Missbrauchs gesprochen und Reformen angemahnt hatten.

Zwist innerhalb der Kirche 

Voderholzer verteidigte damals im Herbst vor einem Jahr pointiert das sogenannte „Lehramt der Bischöfe“, also ihre Leitungsfunktion und Vormacht in der Kirche. Overbeck konterte wiederum zugespitzt: „Man kann durchaus von einem Lehramt der Betroffenen sprechen und das ist das einzige wirklich unfehlbare. Und dafür bin ich sehr dankbar.“ Theologisch sind beide Positionen zumindest unvollständig. Aber das spielte keine Rolle mehr. 

Die Empörung über Voderholzer war groß. Die Münchner Synodale und Grünen-Politikerin Gudrun Lux kommentierte Voderholzers Äußerungen als „zynisch“ und „menschenverachtend“. Sie sehe keine Gemeinsamkeiten mit Voderholzer. Die Szene dokumentiert den tiefen Riss, der sich durch die katholische Kirche zieht und sich bisweilen zu polemischer Gegnerschaft auswächst. Aus Krise wird Verunsicherung, aus Verunsicherung Zerrissenheit, auf Zerrissenheit folgt die Unglaubwürdigkeit. Katholisches Tohuwabohu.

Tomáš Halík ist ein tschechischer Theologe und vielleicht der wichtigste Denker der gegenwärtigen katholischen Welt. Er hat als Untergrundpriester im kommunistischen Prag heimlich die Messe gelesen und die Beichte abgenommen. Heute lehrt er als Professor und predigt als Hochschulgeistlicher. Um ihn herum entsteht an der Moldau und weit darüber hinaus eine Gemeinde des Aufbruchs. Er diagnostiziert die Pathologien der Kirche und verordnet dem Patienten Medizin. Zu seiner Anamnese gehört die Beobachtung dieser inneren Spaltung. „Heute gibt es den größten Unterschied nicht zwischen den Kirchen, sondern innerhalb der Kirchen“, schreibt er in seinem neuen Buch „Der Nachmittag des Christentums“.

Und der Papst?

Die Lage erinnere stark an die Zeit der Reformation vor 500 Jahren, erklärt Halík. Die angedachten Reformen dürften nicht dabei stehen bleiben, etwa nur die Strukturen und das Kirchenrecht zu verändern, so Halík, auch wenn das wichtig sei. Vielmehr würde die künftige Vitalität der Kirche davon abhängen, „ob es gelingt, eine neue Beziehung zu spirituellen und existenziellen Tiefendimensionen des Glaubens zu gewinnen“. Doch wird Halíks fromme Predigt überhaupt noch gehört und verstanden? 
Der große Haken an den deutschen Bemühungen ist, dass die katholische Kirche eben eine römische ist, auch der Papst und das weltweit gültige „kanonische“ Recht haben noch mitzureden. Im Kirchenrecht gibt es ausdrücklich keinen „Synodalen Weg“.

Jüngst hat Papst Franziskus in einem Interview mit den Stimmen der Zeit erklärt, er habe dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, dem Limburger Bischof Georg Bätzing, zu den Ideen des  „Synodalen Weg“ Folgendes gesagt: „Es gibt eine sehr gute evangelische Kirche in Deutschland. Wir brauchen nicht zwei.“ Das wäre so etwas wie ein Schlag ins Gesicht, wenn der Papst nicht so bekannt wäre für seine Doublebind-Botschaften. Man kann sich das also schönreden.

Noch prägt der Kirchturm das Stadtbild: Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Zehlendorf

Immerhin hat der Papst ja selbst einen Reformprozess ins Leben gerufen. Die Weltbischofssynode im kommenden Jahr werde so etwas „wie der kirchenpolitische Höhepunkt des Franziskus-Pontifikats“, erklärt der KNA-Chefredakteur Ludwig Ring-Eifel. Es könne „auf eine Verfassungsreform der größten Organisation der Welt hinauslaufen“, so der Rom-Insider. Denn der Papst gehört zu den schärfsten Kritikern seiner eigenen Kirche. Noch nie hat ein Papst so liebevoll und zärtlich über den Schatz des Glaubens gepredigt und zugleich das Gift des Klerikalismus angeprangert. Doch den Megatrend in Deutschland ficht das bislang nicht an. 

Spiritualität in der „Körperschaft des öffentlichen Rechts“

Für Pfarrer Carl-Heinz Mertz in Berlin ist das alles weit weg. Wer in seine freundlichen und fröhlichen Augen schaut, hat fast den Eindruck, dass er das alles gar nicht mitbekommt. Das ist natürlich ein Irrtum. „Veränderungen sind mir nicht unangenehm“, sagt er. Die Institution Kirche bekomme einen „Schuss vor den Bug“, aber die Institution habe sich eben oft auch zu wichtig genommen. In Deutschland kann man aus der Organisation Kirche austreten. Das, was wir „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ nennen, ist nicht deckungsgleich mit der Glaubensgemeinschaft. Wer austritt, zahlt keine Kirchensteuer mehr. Die Sache mit dem lieben Gott wird auch noch anderswo verhandelt. „Wir müssen den Sinn für das Mysterium wach halten“, sagt der Priester, das sei in einem individualisierten und rationalistischen Umfeld schwieriger. 

Die Krise aber schlägt auch in Herz Jesu auf, nicht nur wegen der Austritte, auch weil die inneren Konflikte der Kirche mitten durch die Gemeinde gehen. Die Strukturen werden schneller angepasst, als manche mit dem Herzen mitkommen. Und im Kleinen toben Kulturkämpfe. Darf es am Sonntag Gottesdienste ohne Priester und ohne Kommunion geben? So etwas führt zu hitzigen Debatten. Pfarrer Mertz steht dazwischen: „Ich ermuntere die Leute, selbst in der Gemeinde etwas zu unternehmen“, sagt er. Auf der anderen Seite sei er aber schon erstaunt, wie schnell die „Sehnsucht nach der Eucharistie“ bei manchen verschwinde. 

Aufbruch oder Sektiererei?

Es gebe ein ganz neues Selbstbewusstsein unter den Gemeindemitgliedern, das sei vor einigen Jahren noch nicht da gewesen. Die Engagierten freuen sich nun über die selbst gestaltete „Wort-Gottes-Feier“, und andere kommen nicht mehr, weil sie das für „nicht gültig“ halten. So droht das Allumfassend-Katholische im Kleinen wie im Großen zu zerbröseln. Die einen kommen nicht mehr, weil nur Männer Priester sind, und die anderen, weil keine Priester vorne stehen. Das ist das große paradoxe katholische Dilemma: Tohuwabohu eben.

Zumeist sind ausreichend Gesangbücher übrig: Blick in den
Gottesdienst in der Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Zehlendorf

Es gibt noch eine andere katholische Messehalle. Sie steht in Augsburg. Dort hatte der katholische Theologe und selbst ernannte Missionar Johannes Hartl zuletzt 2020 zum Glaubensfestival eingeladen. Über 12 000 meist jugendliche Gläubige kamen zu der ökumenischen Veranstaltung. Das fromme Happening mit emotional inszenierten Gottesdiensten und Gesprächsrunden ließe sich als eine Art spiritueller Aufbruch beschreiben. Doch der zuständige Bischof Bertram Meier zeigt sich skeptisch, ob das Projekt nachhaltig sei oder möglicherweise sektiererisch. Theologen sind in ihrem Urteil noch schärfer und meinen, bei Hartl und seinem „Gebetshaus“ werde Glauben unreflektiert vermittelt. So beäugen sich die verschiedenen Grüppchen in der Kirche – und verlieren bisweilen das große Ganze aus dem Blick.

Die Haderer

Diese Sorge hat ausgerechnet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch ungewöhnlich deutlich kundgetan. „Die Kirchen sollten aufhören, vor lauter Angst vor ihrem eigenen Bedeutungsverlust zu viel nur um sich selbst zu kreisen“, sagte das Staatsoberhaupt vor kurzem. Offenbar beschleicht manchen auch in der Politik inzwischen die Sorge, dass mit den Kirchen doch mehr verschwindet als nur irgendeine Nichtregierungsorganisation. „Im Blick sein müssen vielmehr die Armen und die Schwachen, ob es psychische, spirituelle oder auch ganz praktische Nöte und Bedürfnisse sind, die hier nach Beistand rufen“, meinte Steinmeier. Der Hamburger Erzbischoff Stefan Heße ist, wenn man so will, ein Wiederauferstandener. Im Zuge der Aufarbeitung des Kölner Missbrauchsskandals waren ihm Vertuschungs- und Verharmlosungsvorwürfe gemacht worden. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hatte zunächst ein Missbrauch-Gutachten zur Aufklärung vergangener Verfehlungen in Auftrag gegeben, dann wegen angeblicher Mängel nicht veröffentlicht, um dann ein neues Gutachten nachzuschieben. Heße bot damals seinen Rücktritt an, den der Papst nicht annahm, weil er die Vorwürfe als nicht gravierend genug ansah. Nun beginnt das zweite Leben von Heße als Bischof. Er startet mit einer Kommunikationsoffensive.

Jede Woche kann man auch zum Erzbischof in die Online-Sprechstunde kommen. „Das Format ist ein Türöffner, es schafft neue Kontakte“, sagt der Oberhirte. Doch Ausgetretene haben sich noch nicht gemeldet – wohl aber Leute, die mit der Kirche hadern oder auch gar nichts mit ihr am Hut haben. Neulich habe jemand erzählt, dass auch seine eigenen Familienangehörigen ihn kritisch unter die Lupe nehmen. Wie könne man das eigentlich noch verantworten, in der Kirche zu sein, so die Frage. Es war ein habilitierter Ingenieur, den der Umgang der Kirche mit dem Missbrauch aufgewühlt habe. Bleibe ich dabei oder nicht? Er gehe unregelmäßig in den Gottesdienst, habe aber eine Kirche für sein stilles Gebet. „Ich habe gefragt, was kann ich für Sie tun? Und er antwortete: Dadurch, dass Sie sich Zeit genommen haben und dass wir hier heute reden konnten, haben Sie ganz viel für mich getan“, erzählt Heße. Für den Bischof, der viel unter Beschuss stand, eine Sternstunde. 

Und wie geht es weiter? Eine der schärfsten Kritikerinnen der katholischen Kirche ist die Deutschlandfunk-­Journalistin Christiane Florin. Den „Synodalen Weg“ hält sie mehr oder weniger für eine Mogelpackung, allen Bischöfen wirft sie Unehrlichkeit vor, und letztlich sind ihr die vielen Kirchenmitglieder oft noch viel zu zahm und folgsam. Auch aus ihrem Buch „Weiberaufstand“ ist die Bewegung „Maria 2.0“ hervorgegangen, anfänglicher Reformoptimismus ist inzwischen erloschen. Manchmal sind bei ihr auch leisere Töne vernehmbar. In ihrem jüngsten Buch bekennt sie, von einer bestimmten Art des Christseins nicht ablassen zu wollen. „Es ist ein lebenslanger Drahtseilakt, ich bin damit nicht fertig wie nach einer Zirkusnummer.“ Sie bleibe dabei, trete eben nicht aus. Hoffnung sei ein abgedroschenes Wort. Aber: „Mein Trotzdem nenne ich Zynismus-Prävention.“

Von der Fast-Austreterin zur Funktionärin

Noch ist die Katholische Kirche auch in Deutschland ein großer Tanker. Vieles läuft einfach nach Plan, wie immer, funktioniert wie in einer Behörde. Kurs­änderungen sieht man erst zeitverzögert. Im September findet die vierte Synodalversammlung statt, danach treffen sich alle Bischöfe in Fulda. Routine, trotz Zeitenwende und Kulturbruch. Am 13. November kommt wieder der sogenannte „Zählsonntag“, an dem Tag wird die Summe der Gottesdienstbesucher genau erfasst und für die Jahresstatistik hochgerechnet. Wie immer. Auch Weihnachten, Ostern, Pfingsten stehen wieder im Plan. Ende Juni nächsten Jahres legt die Bischofskonferenz die neuen Austrittszahlen vor, wie dieses Jahr, wie immer. 

Die Schriftstellerin Nora Bossong war 2019 kurz davor, aus der katholischen Kirche auszutreten, der Tod ihres Vaters habe sie davon abgehalten. Inzwischen ist die Bestsellerautorin Mitglied im ZdK und würde beim „Synodalen Weg“ fast als Konservative durchgehen. Der Generalvikar geht, die Schriftstellerin kommt: katholisches Tohuwabohu.

Fürs Frauenpriestertum mag sie sich nicht so recht starkmachen und gegen den Zölibat nicht wirklich ins Zeug legen, sagte Bossong der Süddeutschen Zeitung. „Reformen seien nötig, aber“ – so ihr Tenor. Bossong verzweifelt nicht an der Kirche, sondern umgekehrt sucht sie die Kirche auf in ihrer Not. Dort fühle sie sich „aufgehoben“. Liturgie, Weihrauch und Glocken, alles das sei ihr wichtig, so Bossong. „Ich kann nicht verstehen, warum so viele Menschen auf diese transzendente Erfahrung verzichten, ja, sie nicht mal vermissen.“

Die Bilder dieses Textes stammen von Julia Steinigeweg.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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