Katholische Kirche - „Der Zölibat ist kein Dogma“

Der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx tritt angesichts des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche für eine Abschaffung des Zölibats ein. Besteht zwischen diesen beiden Themen überhaupt ein Zusammenhang? Der Buchautor und ehemalige Benediktinermönch Anselm Bilgri sagt im Interview, was er vom Zölibat und vom Vorstoß von Kardinal Marx hält.

Das Kloster Andechs in Oberbayern, im Hintergrund die Zugspitze / dpa
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Autoreninfo

Marie Oster studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft sowie Geschichte. Derzeit macht sie ein Praktikum bei Cicero.

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Anselm Bilgri war Ordensmann, Wirtschaftsleiter der Abtei St. Bonifaz und Prior des Klosters Andechs. Er trat nach 30 Jahren als Benediktinermönch aus seinem Orden und vor kurzem ganz aus der römisch-katholischen Kirche aus. Mittlerweile ist er als Unternehmensberater für werteorientierte Führung tätig. Während dieser Zeit lernte er seinen Partner kennen, mit dem er nun seit 2021 standesamtlich verheiratet ist.

Herr Bilgri, wieso sind Sie nach einem doch stark von der Kirche und dem Glauben geprägten Lebensstil aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten?

Ich war 30 Jahre lang Ordensmann, davon 20 Wirtschaftsleiter der Abtei St. Bonifaz und zehn Jahre Prior des Klosters Andechs. Natürlich hat mein Austritt etwas mit dem Zölibat und mit der Enthaltsamkeit zu tun. Man tritt als junger Mann in die Kirche ein und denkt: „Naja, das schaffe ich schon.“ Mit der Zeit meldet sich dann doch die Sexualität, so wie bei jedem Menschen. Und nach 30 Jahren traf ich die Entscheidung, das zu leben, was ich empfinde. 2004 machte ich mich mit einer Unternehmensberatung selbstständig, die Unternehmen in werteorientierter Führung unterstützt. Dort lernte ich meinen Partner kennen, den ich 2021 standesamtlich heiratete. Ich wollte zu einer Kirche gehören, in der das möglich ist. Ich trat aus der römisch-katholischen Kirche aus und in die altkatholische Kirche ein. Diese spaltete sich im 19. Jahrhundert von der römisch-katholischen Kirche ab, da sie die Neuerung der Unfehlbarkeit des Papstes nicht mitmachen wollte. In der altkatholischen Kirche können nicht nur Frauen geweiht werden und Priester in einer Ehe weiterhin ihrem Beruf nachgehen, sondern auch der Pflichtzölibat wurde abgeschafft.

Welche Reformen, die in der altkatholischen Kirche bereits angekommen sind, wünschen Sie sich für die römisch-katholische Kirche?

Die römisch-katholische Kirche muss sich reformieren, sonst wird sie immer weniger Zuspruch bekommen. Keiner versteht mehr, warum ein Priester keine Familie haben darf, warum er keine homosexuelle Beziehung haben und Sexualität nur zwischen Mann und Frau stattfinden darf, und das auch nur in der Ehe. Ich finde es sehr mutig von Kardinal Marx, dem Münchner Erzbischof, dass er den Zölibat in Frage stellt. Meistens sind die deutschen Bischöfe dem Vatikan gegenüber eher devot.

Sie nennen die Aussage von Kardinal Marx mutig. Denken Sie, dass er dafür viel Kritik bekommen wird?

In der deutschen Kirche gibt es sicherlich konservative Bischöfe, die das nicht als gut empfinden. Die Aussage klingt zwar revolutionär, das ist aber doch eine Einstellung, die von der Realität des Lebens gefordert wird. Kritik wird er sicherlich einstecken, doch Rom wird seine Stellungnahme vermutlich ignorieren.

Kann der Zölibat abgeschafft werden, ohne in den Glauben der katholischen Kirche einzugreifen?

Anselm Bilgri / dpa

Der Zölibat ist kein Dogma, sondern eine disziplinäre Vorschrift. Es wurde nie zu 100% durchgesetzt, bereits früher sowie auch heute. Es ist kein Problem für den Glauben der Kirche, diese Vorschrift aufzuheben. Es gibt bereits katholische Priester, die heiraten dürfen. Die Abschaffung des Zölibats ist also so etwas Besonderes nicht. Ich glaube, es ist sogar höchste Zeit, den Pflichtzölibat abzuschaffen. Er ist meiner Meinung nach ein Hauptgrund, warum viele den Beruf des Priesters nicht in Betracht ziehen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Missbrauchsfällen und dem Zölibat?

Ich sehe da definitiv einen Zusammenhang. Es gibt sicher unter den Missbrauchstätern pädophil veranlagte Männer, jedoch sind es vermutlich genauso viele wie in anderen Berufen auch. Wenn ich aber meine Sexualität aufgrund des Berufes nicht ausüben darf, aber mit Jugendlichen und Kindern zu tun habe und der Trieb sich meldet, dann ist es doch naheliegend, dass man sich Sexualpartner sucht, die einfach zu haben sind. Genau diese Fälle würden wegfallen, wenn der Zölibat aufgehoben werden würde.

Finden Sie es schwierig, dass das Thema Zölibat und die Missbrauchsfälle in den Medien zur Zeit in einen Topf geworfen werden?

Es hat etwas mit der allgemeinen Sexualmoral der Kirche zu tun. Es herrscht ein Widerspruch in der Kirche. Auf der einen Seite dürfen lediglich Mann und Frau in der Ehe Sex haben, andererseits findet innerhalb der eigenen Reihen massiver Missbrauch statt. Ich glaube, dass man die beiden Themen nicht mehr voneinander getrennt betrachten kann. Warum verlangt man von unverheirateten Menschen Enthaltsamkeit, obwohl die Männer, die das Gebot predigen, sich selbst nicht daran halten?

Ist das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu Homosexuellen widersprüchlich?

Es ist die offizielle Haltung, dass eine Segnung von homosexuellen Partnern nicht möglich ist. An eine Trauung lässt sich gar nicht erst denken. Bei der Aktion #outinchurch haben sich in den letzten Wochen viele Mitarbeiter der katholischen Kirche geoutet. Erstaunlicherweise haben sich einige Bischöfe positiv dazu geäußert. Weiterhin herrscht in diesem Bereich jedoch eine Diskrepanz. Auf der einen Seite dürfen homosexuelle Menschen ihre Sexualität nicht ausleben, anderseits sollen sie auch nicht diskriminiert werden. Es bleibt mir ein Rätsel.

Wie bewerten Sie das Verhalten von Kardinal Ratzinger, dem vormaligen Papst Benedikt XVI., in der aktuellen Missbrauchsdebatte?

Offensichtlich ist er bei der Abfassung seiner Stellungnahme wohl schlecht beraten worden. Es wäre besser gewesen, wenn er eine kurze, ehrliche und mitfühlende Entschuldigung an die Betroffenen abgegeben hätte. Sich auf eine Diskussion einzulassen, halte ich nicht für klug.

Was erhoffen Sie sich in diesem Zusammenhang von Papst Franziskus? Wäre er mächtig genug, das Zölibat abzuschaffen?

Da es eine rein disziplinarische Vorschrift ist, kann er ihn theoretisch abschaffen. Ich denke jedoch, dass es sinnvoll wäre, eine regionale Lösung zu finden. Man muss nicht weltweit und einheitlich die Zölibatsfrage beantworten.

Muss die Kirche vielleicht weg vom Schuldprinzip stärker hin zu einem lösungsorientierten Glauben?

Im Kloster habe ich es immer wieder erlebt: Jeden Tag bekennen die Mönche ihre Schuld. Viele Gäste fragten sich, was wir den ganzen Tag an Schuld zu bekennen haben. Ich glaube, dass in unserer Gesellschaft das Gefühl der Schuld gegenüber Gott weitgehend wegfällt. Die Schuldzuweisung ist nicht immer der richtige Weg. Auch bei den Missbrauchsfällen gibt es viele Angelegenheiten, die nach staatlichem Recht nicht mehr zu verfolgen sind. Eine Art Versöhnungskommission, in denen sich die Betroffenen und Täter gegenübersitzen und miteinander sprechen, wäre vermutlich eine gute Lösung für verjährte Straftaten. Wenn das Christentum eine Religion der Barmherzigkeit ist, dann müssen wir auch die Täter miteinbeziehen. Die Täter sind auch Opfer der Ideologie des Systems Kirche.

Die Fragen stellte Marie Oster.

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