CDU-Regierungschef über die „Herrschaft der Virologen“ - „Stündlich neue Erkenntnisse“

Wird Deutschland in der Corona-Krise von Wissenschaftlern regiert anstatt von gewählten Politikern? Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt spricht im Cicero-Interview über die Exekutive im Ausnahmezustand, die Sinnhaftigkeit der Masken-Pflicht – und welche Lockerungen jetzt sinnvoll sind.

Auch Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff (CDU) trägt Maske / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Herr Ministerpräsident, im Gegensatz zu vielen anderen Politikern sind Sie Naturwissenschaftler, genauer gesagt Diplom-Physiker. Hat sich das bei der Bewältigung der Corona-Krise als Vorteil erwiesen?
Zumindest habe ich die mikrobiologischen Grundlagen, die zu großen Teilen atom- und quantenphysikbasiert sind, noch verinnerlicht. Es hat sich ein gutes Grundwissen bei mir erhalten, weil ich an diesen Themen immer drangeblieben bin – obwohl mein Studium schon einige Jahre zurückliegt. Und ich kann mich auch gut in die Begründungsmuster der einzelnen wissenschaftlichen Institute hineindenken. Trotz der Differenz zwischen den einzelnen Ansätzen waren deren Einschätzungen und Prognosen doch immer nachvollziehbar. Wir waren gut beraten, diese Ratschläge als legitime Politikberatung zu verstehen, uns jedoch nicht die politische Entscheidung von den Virologen abnehmen zu lassen. Nicht dass es heißt: Die Virologen regieren jetzt!

Es besteht ja tatsächlich seit einigen Wochen der Eindruck, wir würden von Wissenschaftlern regiert, insbesondere von Virologen und Epidemiologen, aus deren Erkenntnissen die Politiker konkrete Maßnahmen ableiten. Trotzdem herrscht oft große Verwirrung, denn auch die Wissenschaftler sind sich ja keineswegs immer einig. Wie gehen Sie als aktiver Politiker damit um?
Zunächst testet man die Belastbarkeit bestimmter Aussagen, etwa bei den Konferenzen der Ministerpräsidenten mit dem Robert-Koch-Institut. Dann fragt man: Was würden Sie jetzt konkret in die Verordnung, die ich morgen unterzeichnen muss, hineinschreiben? Dann folgt oft der – absolut legitime – Rückzug der Wissenschaftler, die sagen: Wir schreiben Ihnen den Befund, die politische Entscheidung und deren Folgeabwägungen, wie etwa gerichtliche Nachprüfungen, obliegen der Politik.

Die Politiker müssen abwägen, in Rückkopplung zur regional sehr unterschiedlichen Gesamtsituation, und das haben wir in der Vergangenheit getan, auch wenn das in den Medien nicht immer so zum Tragen gekommen ist. Da haben Sie so unterschiedliche Situationen wie die im Landkreis Tirschenreuth oder etwa im Bundesland Sachsen-Anhalt, das mit die geringsten Infektionszahlen aufweist.

Die tägliche Bekanntgabe der Zahlen an Infizierten, Genesenen und Verstorbenen ist ja eigentlich kaum aussagekräftig, weil die Dunkelziffer sehr groß sein dürfte. Verrennen wir uns da als Gesellschaft in die Zahlengläubigkeit?
Nein, ich glaube, dass wir das sehr verantwortungsbewusst interpretiert haben. Die Dunkelziffer bestreitet niemand, und wir wissen auch, dass der Infektionsgrad etwa fünfmal höher ist als bei gewöhnlichen Grippe-Erkrankungen. Die neuen Viren weisen einen höheren Multiplikationsgrad auf, der für eine exponentielle Steigerung der Fallzahlen sorgt. Aber nicht jeder Fall belastet unsere Krankenhäuser, deren sehr endliche Kapazitätsgrenzen uns in Europa deutlich geworden sind. Uns ist auch bewusst, dass es bisher keine wirksamen Medikamente oder einen Impfstoff gibt.

Deshalb ist die einzige Möglichkeit, die Verlangsamung der Ausbreitung zu steuern, die Kontakte deutlich zu reduzieren und Infektionsketten zu unterbrechen. Es ist unbestritten, dass dies die einzige Möglichkeit ist, die der Staat hat, um eine Eskalation der Pandemie zu verhindern, die unser Gesundheitswesen sprengen würde. Dann haben wir täglich, ja stündlich, neue Erkenntnisse über die Verbreitung der Viren – aktuell kamen Erkenntnisse hinzu über den Einfluss von Aerosolen und deren Bedeutung bei der Erregerübertragung in geschlossenen Räumen. Daran merkt man, dass wir ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse erhalten, die es auf politischer Ebene bei den Entscheidungen zu berücksichtigen gilt.

Beim Stichwort Aerosole kommen jetzt die Atemschutzmasken ins Spiel, und die Diskussion um diese Masken ist ja ein Beispiel dafür, weshalb die Menschen an den Vorgaben der Politik zweifeln. Zunächst hieß es, Masken seien sinnlos, inzwischen muss man sie in allen Bundesländern im öffentlichen Nahverkehr und in Geschäften tragen. Geht es hier um Symbolpolitik?
Ich habe mich aufgrund meiner Erfahrung als Naturwissenschaftler schon vor Wochen für diese Masken ausgesprochen. Zunächst bin ich dafür kritisiert worden, nun finde ich Bestätigung. Es ist also keine Symbolpolitik, sondern ein Erkenntnisprozess, weil wir es mit einer Situation zu tun haben, bei der die Infektionswege sehr komplex sind, bis hin zu der mittlerweile unbestrittenen Aerosol-Komponente.

Bei dieser Infektion geht es um die Frage: Wie hoch ist die Virenfracht, die auf die Schleimhäute übertragen wird? Wo ist die Grenze für das Immunsystem, um eine Virenfracht abwehren zu können? Und jede Reduzierung, selbst im geringen Prozentbereich, ist ein Fortschritt, um unterhalb dieser kritischen Infektions-Grenze anzukommen und lebens- und gesundheitswirksame Maßnahmen zu ergreifen. Also: Jede Reduzierung der Virenfracht ist ein Vorteil und wichtig für die Prophylaxe.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte kürzlich, es sei „in dieser Absolutheit nicht richtig, dass alles andere vor dem Schutz von Leben zurückzutreten habe“. Stimmen Sie dem zu?
Ich bin kein Jurist, sondern, wie gesagt, von Hause aus Naturwissenschaftler. Und zwar ein sehr ethisch orientierter Naturwissenschaftler – und Politiker. Ich nehme die Argumentation von Herrn Schäuble zur Kenntnis und ich würde auch nicht in einen Disput mit ihm treten. Aber im Sinne der Realpolitik, die ich mit zu verantworten habe, hilft eine solch abstrakte Formulierung nicht wesentlich weiter.

Wenn es darum geht zu entscheiden, ob wir Leben in einer bestimmten Altersgruppe oder Infektionsstufe zu schützen haben, so gut es geht, gilt mein Amtseid. Den verstehe ich so, dass der Schutz des Lebens oberste Priorität hat. Ich erinnere an den Artikel 2 Absatz 2 unseres Grundgesetzes. Die Sicherstellung von Ressourcen, des Sozialstaats, des Gesundheitswesens, der Intensivmedizin: All das muss erfolgen.

Nun gibt es aber Stimmen, die sagen, die Letalitätsrate ist bei Corona am Ende doch so gering, dass die Schäden, die die Wirtschaft nimmt, viel dramatischer sein werden als den Lockdown aufrecht zu erhalten.
Das sind alles abstrakte Vergleiche. Hätten wir den Lockdown nicht vorgenommen, hätten wir auch in Deutschland schnell italienische, französische oder amerikanische Verhältnisse erleben können. Lungenärzte sagen, dass die gesundheitlichen Folgeschäden, die ein ungesteuertes Hineingehen in diese Infektionswelle bedeutet hätten, nicht zu unterschätzen sind.

Ein unmittelbarer Vergleich ist sehr schwierig, und deshalb muss Politik immer durch Maß, Mitte und Abwägung gekennzeichnet sein. Die Entscheidung, menschliches Leben bewusst zu beenden, so wie es die Ärzte in Italien mussten, ist für mich keine Option politischen Handelns. Ökonomische Entscheidungen dürfen hier nicht an erster Stelle stehen, sondern die Entscheidung, menschliches Leben zu erhalten beziehungsweise es nicht durch Inaktivität des Staates zu beenden.

In Deutschland wird seit einiger Zeit heftig über Lockerungen gestritten. Wie muss aus Ihrer Sicht ein vernünftiger Weg zur Rückkehr in die Normalität aussehen?
Wir sind bisher recht geschlossen in einem Korridor mit den Maßnahmen gelaufen. Nun ist es aufgrund der unterschiedlichen Situation in den einzelnen Ländern und Landkreisen möglich, landesbezogene, der Lage angemessene Entscheidungen treffen zu können, ohne übermäßige Risiken einzugehen. Also keine Lockerung per se, sondern ein differenziertes Handeln. Dinge, die nicht mehr notwendig sind, müssen nicht mehr aufrechterhalten werden. Wir werden aber das Geschehen sehr genau beobachten und immer Rückkopplungen und Korrekturen, wenn sie notwendig sind, regional vornehmen.

Gehen Sie davon aus, dass die Menschen demnächst auch wieder Restaurants besuchen können?
Wir gehen davon aus, dass wir Ende Mai, um Pfingsten herum, gemeinsam mit den Fachverbänden wie der Dehoga unter Zugrundelegung von Hygienekonzepten wieder einen eingeschränkten Betrieb ermöglichen können.

Was prognostizieren Sie mit Blick auf den Sommerurlaub? Werden wir in diesem Jahr auf Auslandsreisen verzichten müssen?
Das wäre ein Blick in die Glaskugel. Aber das wird ja auch durch die Entscheidungen anderer Staaten bestimmt sein. Da müssen wir abwarten, welche Destinationen nicht oder nur eingeschränkt zugänglich sein werden und ob die Dinge dort so geregelt sind, dass wir bei der Rückkehr von Urlaubern nicht wieder massenhaft Infektionen importieren. Und beim Flugverkehr müssten die Hygienevorgaben, wie wir sie bereits auf dem Boden praktizieren, auch in der Luft eingehalten werden. Momentan muss aber jeder Flugreisende aus dem Ausland noch in Quarantäne – das ist nicht gerade eine Option für die Urlaubsplanung!

Im Einzelhandel sind jetzt wieder 50 Prozent der Geschäfte geöffnet, aber ein Großteil der Bevölkerung nimmt das Angebot noch sehr zurückhaltend wahr. Kauflust und Eventkultur sind also noch nicht sofort in den Köpfen und Herzen der Menschen entfacht, sondern man ist zu Recht vorsichtig, weil wir täglich sehen können, wie stark andere Länder von der Krise betroffen sind. Und Deutschland ist in einer komfortablen Situation, weil wir notwendige Einschränkungen vorgenommen und die richtigen Entscheidungen getroffen haben.

Durch die Pandemie ist die Rolle des Staates plötzlich viel größer geworden, viele Menschen scheinen geradezu staatsgläubig geworden zu sein. Irritiert Sie das als ehemaliger Ostdeutscher?
Nein. Als ehemaliger Ostdeutscher mit Erfahrungen aus der friedlichen Revolution weiß ich, dass die Menschen den Staat nicht per se schlecht finden. Sondern dass der Staat seine natürliche Autorität jeden Tag nachweisen muss: durch Transparenz, durch Gewaltenteilung und durch all das, was 1989 erkämpft wurde. Und wenn die Politik nachvollziehbare Entscheidungen trifft, machen die Menschen auch mit. Diejenigen, die in der jetzigen Situation das System in Frage stellen wollen, sind eine Herausforderung für uns als Demokraten. Wir erkennen jetzt wieder den Wert eines gut funktionierenden, weltoffenen Nationalstaates, der zuverlässig für die Bewältigung der Krisensituation sorgt und dennoch in der Lage ist, zu erkennen, dass im Zuge der Globalisierung die Bereitstellung mancher Materialien denjenigen überlassen wurde, die nun nicht in der Lage sind, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Wir brauchen also wieder eine gewisse Autarkie zum Beispiel im Bereich der medizinischen Produkte.

Sehen Sie die Gefahr, dass durch die Corona-Krise eine Spaltung des Landes zunehmen könnte? Also bildungsferne gegen bildungsnahe Haushalte, öffentlicher Dienst gegen Privatwirtschaft?
Ich sehe diese Diskussionen schon mit Sorge, vor allem deren Instrumentalisierung durch Populisten. Andererseits haben wir auch schnell gesetzliche Regulative geschaffen, wie etwa die Lohnfortzahlung für diejenigen Eltern, die ihre Kinder nicht betreuen lassen können. Wir versuchen, die ungleichen Belastungen dieser pandemischen Krisensituation gesamtgesellschaftlich auszugleichen. Förderprogramme für Wirtschaft und Kultur werden ja auch noch weiter fortgesetzt und lageangepasst weiterentwickelt. Und wir haben einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, den Ausgleich herbeizuführen und die Lasten fair zu verteilen. Das ist unsere politische Zielstellung für das weitere Handeln.

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