Intensivstationen am Limit - „Die einzige Alternative ist ein harter Lockdown“

Die Situation auf den Intensivstationen spitzt sich zu: Die dritte Welle ist jetzt auch in den Krankenhäusern angekommen. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Epidemiologe Timo Ulrichs die geplante „Bundesnotbremse“ durch das Infektionsschutzgesetz. Sogar Schulschließungen hält er für ein geeignetes Instrument.

Am Limit: Die Intensivstationen füllen sich wieder mit Corona-Patienten / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

So erreichen Sie Jakob Arnold:

Anzeige

Prof. Dr. Timo Ulrichs ist Epidemiologe und Gesundheitswissenschaftler an der Akkon Hochschule in Berlin.

Herr Ulrichs, die Ministerpräsidentenkonferenz wurde abgesagt. Stattdessen soll das Infektionsschutzgesetz überarbeitet werden. Sind Sie überrascht, dass der Bundestag plötzlich schnellere und bessere Ergebnisse liefern soll als die Treffen der Ministerpräsidenten?

Nein. Es ist jetzt notwendig, dass überhaupt etwas getan wird. Nichtstun ist keine Option in einer Pandemie. Wir können uns nicht leisten, dass die Zahlen durch die Decke gehen. Die Situation auf den Intensivstationen ist dafür bereits jetzt zu alarmierend. Schon im November haben die Bund-Länder-Konferenzen zu Verzögerungen geführt. Damals wurden keine konsequenten Entscheidungen getroffen, was zur zweiten Welle mit einer großen Amplitude geführt hat. Wir sind gerade dabei, die Fehler zu wiederholen, weshalb es richtig ist, jetzt nach einer Alternative zu suchen. Die ist ein bundeseinheitlicher harter Lockdown.

Andererseits heißt es oft, dass Pandemien immer lokal bekämpft werden müssen. Ist es dann sinnvoll auf Regelungen des Bundes zu setzen?

Diese Aussage stimmt bedingt, nämlich dann, wenn es Handlungsspielräume gibt. Wenn das Infektionsgeschehen heterogen ist, also wenn es an einer Stelle viele Ansteckungen gibt und woanders wenige. Dann kann man unterschiedliche Maßnahmen zulassen. Jetzt kommt es jedoch zu einem bundesweiten Wiederanstieg der Zahlen, weshalb lokale Bekämpfungen nicht mehr richtig zielführend sind. Die Gesamtlage lässt das nicht zu. 

Sie sind dementsprechend kein Fan des saarländischen Wegs der Öffnungen?

Das ist richtig. Lockerungen verbunden mit Tests als experimenteller Ansatz sind an sich in Ordnung, allerdings nicht im aufsteigenden Teil einer Welle. Wir haben bereits in den ersten Monaten der Pandemie gelernt, dass man in einer solchen Phase schnell und hart gegenhalten muss. 

Vor kurzem sprach sich Klaus Stöhr im Gespräch mit Cicero für den saarländischen Weg aus. Die Infektionszahlen wären im Saarland niedrig, die Menschen bräuchten eine Perspektive und es sei aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll, die getroffenen Maßnahmen im Anschluss zu analysieren. 

Ich bin auch mit Herrn Stöhr in regelmäßigem Kontakt. Er hat natürlich Recht, dass wir einen langen Atem brauchen und die Pandemiemüdigkeit nicht noch befördern sollten, aber wir sind derzeit in einer Lage rasant steigender Infektionszahlen, die solche Experimente einfach nicht gestattet. 

Timo Ulrichs / privat

Lassen Sie uns über die konkreten Folgen eines harten Lockdowns sprechen. Ein Element wären Schulschließungen; reicht es nicht, die Schüler zwei Mal die Woche zu testen und Masken im Unterricht zu tragen?

Wir sollten alles dafür tun, dass die Schulen offengehalten werden können. Das haben wir in den letzten Wochen jedoch nicht. Es hätte einen harten Lockdown um die Schulen herum gebraucht, um zumindest die weiter offen zu lassen. Wir werden mittlerweile aber allmählich gezwungen, auch die Schulen zu schließen. Die Testungen sind immerhin ein Hilfsmittel, allerdings kein sonderlich gutes, da sie ungenau sind. Ganz klar, es ist besser mit Tests, aber leider sind wir jetzt in einer Situtation, in der wir uns nicht viel erlauben können.

Ein Mittel aus dem gestrigen Kabinettsbeschluss sind nächtliche Ausgangssperren. Die Gesellschaft für Aerosolforschung hat in einer Stellungnahme deutlich gemacht, dass Infektionen fast ausschließlich drinnen auftreten. Ist die Maßnahme unter diesem Gesichtspunkt nicht unverhältnismäßig?

Die Aerosolforscher haben völlig Recht. Wenn sich alle Menschen draußen aufhielten, wäre das Infektionsrisiko stark reduziert. Allerdings ist es so, dass man meistens heraus geht, um danach wieder woanders wieder herein zu gehen, wobei es zu Kontakten kommt. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass man diese Kontakte mit einer Ausgangssperre verhindern kann, wenngleich es das letzte Mittel sein sollte. Ich sehe es auch kritisch, da wir im Frühling damit eigentlich das falsche Signal setzen. Im Winter wären Ausgangssperren deutlich sinnvoller gewesen. 

Dass mancherorts die Zahl von Spaziergängern in Parks zu begrenzen versucht wird, ist also nicht förderlich?

Genau. Es ist falsch, die Leute zu entmutigen, heraus zu gehen. Es geht nur darum, größere Menschenansammlungen zu verhindern.

Wir sind seit November im Lockdown. Glauben Sie der Kanzlerin, wenn sie sagt, dass wir jetzt wirklich nur noch ein paar Wochen durchhalten müssen?

Wir sind bei den Impfungen noch nicht weit genug. Um die aktuelle Phase zu überbrücken, braucht es noch einmal zwei bis drei Wochen. Danach kann man über Öffnungen nachdenken, wie sie im Saarland oder Tübingen angedacht sind und ausprobiert wurden. Dann wäre es wirklich der letzte Lockdown. Großbritannien und Israel dienen hierbei als positive Beispiele.

Wie hoch müsste der Grad der Durchimpfung sein, um erste Lockerungen zu rechtfertigen?

Für echte Herdenimmunität brauchen wir 80 bis 85 Prozent, vor allem angesichts des höheren R-Wertes der britischen Variante. Erste epidemiologische Effekte sehen wir allerdings sogar jetzt schon. Die Über 80-jährigen sind kaum noch von Infektionen betroffen und sterben weniger. Die Beschränkungen können für Geimpfte ja dann auch Schritt für Schritt aufgehoben werden, das ist auch eine Form von Lockerung. 

Sie sprechen eine 85-prozentige Impfquote an. Das schaffen wir bis Ende April nun wahrlich nicht.

Völlig richtig. Das ist das Ziel für die zweite Jahreshälfte.

Und was ist das Ziel für Ende April? Aktuell sind wir bei circa 17 Prozent Erstimpfung und 6 Prozent Zweitimpfung. Welche Werte müssen wir für das Ende des Brückenlockdowns erreichen?

Der Lockdown-Effekt sollte unabhängig von den Impfzahlen betrachtet werden, sondern eher mit Blick auf die epidemiologische Lage. Wir müssen mit der dritten Welle wieder nach unten kommen. Lockerungen können nur kommen, wenn die Zahlen sinken. Die zeitgleich ansteigende Durchimpfungsrate wird dann eine weitere Welle verhindern, und wir können endgültig öffnen und langsam zur Normalität zurückkehren. 

Die Fragen stellte Jakob Arnold

Anzeige