Intensivbettenskandal - „Sobald Geld im Spiel ist ...“

Der Skandal um einen Schummelverdacht bei Intensivbetten zeigt, wie angeschlagen das deutsche Gesundheitssystem ist. Im Interview erzählt der Intensivpfleger und Wissenschaftler Carsten Hermes, wie es zu den Betrugsfällen gekommen sein könnte, wie die Arbeit auf Intensivstation während der Pandemie aussieht und was sich zukünftig ändern muss.

Hoher Aufwand: Pflegekräfte in Schutzausrüstung betreuen einen Corona-Patienten / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Carsten Hermes ist Fachkrankenpfleger und Pflegewissenschaftler (M.Sc.). In der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) ist er Sprecher der Sektion Pflege und kooptiertes Mitglied des Vorstandes.

Herr Hermes, wie war die Arbeit auf der Intensivstation nach Pandemieausbruch?
Sehr wechselhaft. In der ersten Phase waren wir alle erschrocken, weil wir nicht wussten, was auf uns zukommt. Das war eine sehr angespannte, gespenstische Situation. Von Angst und Panik bis hin zu Verdrängung waren beim Personal alle normalen menschlichen Reaktionen dabei. Ich habe am Anfang aber eine unheimliche Solidarität festgestellt in diesem Land.

Und nach dem Anfang?
Da ist es sehr schnell heterogen geworden. Als die Infektionszahlen hochgingen, haben Kollegen und ich vereinzelt, aber nur vereinzelt, auch schlechte Erfahrungen in der Bevölkerung gemacht. Manche wurden von bestimmten öffentlichen Abschnitten des Lebens ausgeschlossen. Ein Kollege wurde freundlich aus dem Supermarkt verwiesen, weil bekannt war, dass er eine Intensivpflegekraft ist. Da herrschte viel Angst und Fehlinformation, und dann hat sich etwas Fatales herauskristallisiert: Die Pflege wurde immer nur als Ganzes betrachtet.

Warum ist das fatal?
Weil die Pflege hochgradig differenziert ist. Die Altenpflege hat eigene und manchmal ganz andere Probleme zu bewältigen als die Intensivpflege. Auf der ärztlichen Seite wurde immer zwischen den Fachbereichen unterschieden, von der Pflege wurde als homogenem Beruf gesprochen.

Woran liegt das?
Daran, dass verschiedenste Berufsgruppen und Menschen nicht mit uns, sondern über uns gesprochen haben.

Carsten Hermes / privat

Sie meinen Journalisten?
Ja, das betrifft unter anderem den Journalismus, aber nicht nur. Das meine ich nicht als Kritik am Inhalt, der oft richtig war, sondern an der Art und Weise. Stellen Sie sich mal vor: Sie sitzen mit mehreren Leuten an einem Tisch und plötzlich fängt einer an über Sie zu reden. In der Bundespressekonferenz ist nun endlich mal eine Pflegekraft sehr pointiert zu Wort gekommen. Ich hätte mir gewünscht, dass man uns von Anfang an in der ersten Reihe in die Qualifizierung und Quantifizierung von den Zuständen auf Station offiziell und öffentlichkeitswirksam mit einbezogen hätte. Wir wurden für Hintergrundgespräche und Faktenchecks angefragt, vor der Kamera hat man aber oft ein stereotypes Bild gezeichnet.

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Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich habe einmal eine Medienanfrage von einem seriösen, öffentlich-rechtlichen Format bekommen. Nach einem Hintergrundgespräch sagte man mir: „Herr Hermes, Sie können sich zwar sehr gut artikulieren, aber für die Kamera brauchen wir jetzt eher jemanden, der weiblich ist und in einer devoten Haltung darüber erzählt – als Gegenpart zu den Medizinern, die jetzt schon hier sehr stark fordern, was zu tun ist.“ Die Welt mag halt ihre Stereotypen.

Wann war die heftigste Phase für Intensivstationen?
Als uns klar wurde, dass die Intensivstationen, die die richtig gute und hochwertige intensive Therapie umsetzen können, zulaufen. In der zweiten Welle hatten wir bereits aus der ersten Welle gelernt, dass die Covid-Patienten unheimlich krank sind und nicht so schnell wieder entlassen werden können. Vor der dritten Welle hatten wir entsprechend Sorge. Für diese Behandlung braucht es eine Expertise, die man sich nicht innerhalb von ein paar Wochen aneignen kann. Den Spezialisten, die sich mit Lungenerkrankungen auskennen, war klar, dass sie schnell an eine Grenze kommen, wo sie nicht mehr jedem Patienten die gleiche Qualität zukommen lassen können, wenn es bei diesen Infektionszahlen bleibt.

Wie war es dann in der Hochphase?
In manchen Kliniken wurden Betten als Intensivbetten eingesetzt, die bestreitbar waren. Ungelernte Hilfskräfte wurden eingesetzt, es wurde ohne Einweisung gearbeitet und mannigfaltige Adaptionen wurden getroffen. Diese Menschen haben bis über die Belastungsgrenzen hinaus gearbeitet in 12-Stunden-Schichten mit Schutzkleidung. Das ist so, als müsste man bei 35 Grad in Klarsichtfolie gewickelt einen Marathon laufen. Jeder, der mal in einer Sauna war, kann sich ein ungefähres Bild davon machen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass einige Intensivstationen mehr als ausgelastet waren. Der Verdacht, dass Krankenhäuser weniger freie Intensivbetten gemeldet haben, um Ausgleichszahlungen zu kassieren, besteht weiterhin. Ist das denkbar?
Ja, das ist denkbar. Es gibt hierzu aber keine belastbaren Daten. Allerdings ist meine Erfahrung so, dass es, sobald Geld im Spiel ist, immer Menschen gibt, die versuchen, das System auszureizen und sich zu bereichern. Das Problem dabei ist: Das Melden der Betten wurde in die Hände von Controllern und Externen verschoben. Und immer, wenn ein Prozess unpersönlich wird und dann auch noch Geld im Spiel ist, ist es nicht unwahrscheinlich, dass einzelne Menschen das zweckentfremden.

Was für Krankenhäuser waren das?
Ich gehe nicht davon aus, dass es die Intensivstationen und Bereiche betrifft, die sich tatsächlich hauptsächlich um die schweren Covid-Patienten gekümmert haben. Ich gehe eher davon aus, dass es Einzelfälle waren.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) wies den Betrugsvorwurf zurück. Intensivbettenzahlen zu manipulieren sei gar nicht möglich, da die Ausgleichszahlungen an Bedingungen geknüpft seien, die die Krankenhäuser nicht beeinflussen könnten. Zum Beispiel eine regionale Inzidenz von über 50, die Zugehörigkeit zu einer Notfallversorgungs-Stufe und die Auslastungsquote der Intensivstationen aller Krankenhäuser im gesamten Landkreis. Es hätte für einen Betrug also einer konzertierten Aktion bedurft. Wie ist ein Betrug unter diesen Umständen überhaupt möglich?
Das weiß ich nicht, ich war an keinem Punkt in der Position, Betten zu melden oder in das System tief einzublicken. Allerdings, nur als Hinweis: Man kann solche Bedingungen ein bisschen vorhersehen. Es gab ja entsprechende Prognosen, Modelle und mathematische Berechnungen, auf die auch diese Krankenhäuser Zugriff hatten. Das heißt, sie hätten ähnlich wie an der Börse zocken können, also auf fallende oder steigende Kurse setzen, um dann die Betten-Belegungen dynamisch anzupassen. Und vergessen Sie nicht die verschiedenen finanziellen Anreize: Es gab mal die Freihaltepauschalen, dann die Pauschalen für die Schaffung von Intensivbetten. Natürlich ziehen solche Anreize Menschen an, die diese Pauschalen sehr „sportlich“ sehen und den ihnen gegebenen rechtlichen Rahmen maximal ausnutzen. Ob das auch moralisch immer richtig ist, ist zumindest für mich zweifelhaft.

Wie passt das überhaupt zusammen, dass Anfang 2020 rund 700 Millionen für neue Intensivbetten gefördert wurden und dann die Zahlen runtergingen?
Dafür gibt es verschiedene Erklärungsmodelle. Am Anfang gab es die Sorge vor Bergamo-ähnlichen Zuständen. Deswegen wurden für den Fall einer solchen Katastrophe Notfallreserven geschaffen – also zum Beispiel Messehallen wie in Berlin, die mit Betten und Beatmungsgeräten ausgestattet wurden und zu Anfang als Intensivbetten gezählt wurden. Man hat also das höchstmögliche an Material gemeldet, ohne dass man darüber nachgedacht hat, mit welchem Personal man das macht, weil man dann davon ausgegangen ist, dass wir eine Katastrophenversorgung machen, in der es wirklich nur noch um Basics geht. Daraufhin kam ein deutlicher Aufruf vom damaligen DIVI-Präsidenten Uwe Janssens, nur noch als Intensivbett zu melden, was mit einigermaßen vertretbarer Qualität und Fachpersonal zu betreiben ist. Damit ist natürlich ein erheblicher Teil der Betten runtergegangen. Ein anderer Effekt war, dass die Kinderintensivbetten aus dem Register gestrichen werden mussten. Die standen am Anfang auch mit drin, obwohl sie nicht für Covid-Fälle bei Erwachsenen ausgerüstet sind. Es gibt ja keine klare einheitliche Definition, was ein Intensivbett ist, deswegen mussten im laufenden Prozess Anpassungen vorgenommen werden.

Insgesamt wurden 3000 Kinderbetten aus dem Register gestrichen. In der Welt war jüngst zu lesen, manche Experten sagten in Hintergrundgesprächen, sie könnten es kaum glauben, dass es 3000 Kinderintensivbetten in Deutschland geben soll. Ist die Zahl unrealistisch?
Nein. 2017 gab es wohl 2771 Kinderintensivbetten in Deutschland. Insofern wirkt die Zahl nicht zu hochgegriffen auf mich.

Das DIVI-Register erfährt momentan viel Kritik. Der Gesundheitsökonom Reinhard Busse sagte der Welt, „dass ein Patient unter Umständen doppelt gezählt wird, wenn er etwa von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt wird oder von einer Klinik in die andere”, weil nur die Fälle, aber nicht die Patienten gezählt würden. Stimmt das?
In dem Register werden nur Intensivpatienten gezählt, die doppelte Zählung bei einer Verlegung auf Normalstation ist also nicht möglich. Was aber möglich ist: Wenn ein Patient auf der Intensivstation A gezählt wurde und aus welchen Gründen auch immer auf eine andere Intensivstation verlegt wird, dass er dann zumindest temporär doppelt erfasst wird.

Finden Sie die Kritik am Register berechtigt?
Nein. Das Register war eine Art Wasserstandanzeige und ist es immer noch. Wir haben nichts anderes, und jetzt wird Kritik an etwas geübt, wozu es keine Alternative gab. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn wir eine unabhängige Bundesbehörde gehabt hätten, die gründlich kontrolliert, was gezählt wurde und was nicht. Auch wären bundeseinheitliche Kriterien wünschenswert, sowohl für die personelle Qualifikation, für die Besetzung, aber auch für die technische Ausstattung. Es dauert wahnsinnig lange, bis so etwas aufgebaut ist. Anstatt zu honorieren, dass überhaupt eine solche Wasserstandsmeldung aufgebaut wurde, und das in so extrem kurzer Zeit, werden die Leute jetzt mit Dreck beworfen.

Was muss sich ändern, um die offensichtlich geworden Probleme des Pflegesektors anzugehen?
Es braucht eine globale Gesundheitsfürsorge, die als Bundesauftrag gesehen wird. Es braucht eine Vorhaltung von Ressourcen und öffentlichen Geldern, die diese Versorgung finanzieren. Ähnlich wie beim Rüstungsetat oder Verkehrswesen, muss dieser Etat für Gesundheit so hoch sein, dass die normalen Kosten gedeckt sind. Außerdem brauchen wir klare Qualitätsindikatoren für die personelle und materielle Ausstattung von Kliniken, die unabhängig unter Einbezug von Pflegefachpersonen kontrolliert werden. Wir messen bisher so etwas wie Mortalität. Wir messen aber nicht, wie das Überleben ist, also ob die Menschen auch zufrieden sind, kognitiv intakt und ob sie wieder so am Leben teilhaben können wie vorher.

Was dachten Sie, als damals Menschen auf ihren Balkons dem Pflegepersonal applaudiert haben. Schöne Anerkennung oder leere Symbolik?
Das war eine schöne Anerkennung, die auch den Druck in der Politik erhöht hat. Jetzt muss es weitergehen, aber nicht mit Applaus, sondern jeder, der applaudiert hat, muss dem Lokalpolitiker vor Ort Druck machen, damit der sich an seine Worte erinnert. Was interessant ist: Der Applaus kam in einer Phase, in der Milliarden in die Wirtschaft gepumpt wurden. Das war an vielen Stellen auch richtig und wichtig. Aber ich erinnere mich an eine Sendung, in der ein Politiker sagte, dass etliche Milliarden in die Luftfahrt gepumpt werden, wohingegen nur 500 Millionen an die Pflege gehen sollten. Er begründete das damit, dass an der Luftfahrt Hunderttausende Arbeitsplätze hängen. Ich fragte mich, wie die Verhältnismäßigkeiten sind. Denn allein in der Pflege in Deutschland hängen ungefähr 1,2 Millionen Beschäftigte.

Sollten Pflegekräfte höhere Löhne bekommen?
Ja, und zwar deutlich. Wir brauchen ein Anheben des Einstiegsgehalt in der Pflege insgesamt. Wir brauchen eine Bezahlung, die sich nicht danach richtet, wie lange jemand irgendwo ist und die sich dabei automatisch stufenweise erhöht. Wir brauchen eine Bezahlung, die sich am Verantwortungslevel, am Bildungsniveau und an den jeweiligen Aufgaben orientiert. Das Problem ist, dass viele ihre Arbeit reduzieren wollen und diese Reduktion zum Beispiel über Nebentätigkeiten in der Leiharbeit auffangen. Das ist bei dem Mangel an Pflegepersonal in Deutschland fatal. Oft werden Gehälter ja mit dem Bildungsweg begründet. Inzwischen studieren aber auch Pflegekräfte und Hebammen, und bis man die Ausbildung zum Intensivfachpfleger durchlaufen hat, sind das locker fünf oder auch acht bis zehn Jahre, je nach Ausbildungsgrad. Da brauchen wir uns hinter anderen akademisierten Bereichen nicht zu verstecken. Aber ich muss auch deutlich machen: Im Moment wäre mehr Gehalt eher ein Schmerzensgeld. Was wir unabhängig davon benötigen, ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Arbeitgeberverbände kritisieren die Forderung nach höheren Löhnen implizit als „Sozialromantik“, weil dies mit Zuschüssen aus dem Bundesetat, ergo mit höheren Steuern verbunden ist. Was entgegnen Sie?
Ja, das ist völlig richtig, es wird die öffentlichen Ausgaben nach oben treiben. Was ich als gerecht empfinde. Wir machen etwas für die Allgemeinbevölkerung. Gesundheit ist ein volkswirtschaftlicher Auftrag, kein betriebswirtschaftlicher. Stellen Sie sich mal vor, die Gesellschaft würde eine Feuerwache nach Einsätzen bezahlen, und bevor sie anfängt zu löschen, muss irgendjemand seine 10er-Karte zücken. Das ist doch Blödsinn. Diese Situation hatten wir, bevor die Feuerwehren öffentlich-rechtlich organisiert wurden. Das hat nichts mit Sozialromantik zu tun. Wenn es einen allgemeinen Auftrag der Bevölkerung gibt, dann muss er auch aus den Gemeinkosten finanziert werden. Ansonsten kommen wir in eine „Out of pocket“-Situation, was bedeutet, dass nur derjenige hochwertige Pflege kriegt, der es sich leisten kann.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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